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3.3.2Rekrutierung
ОглавлениеDie historische Forschung hat seit einiger Zeit Zusammenhänge zwischen der deutschen Kolonialpolitik in Afrika und der quasi-kolonialen Besatzungspolitik des Reiches in Osteuropa herausgearbeitet.82 Der Historiker Dieter Pohl hat die Besatzungsverwaltung im Distrikt Galizien als »totalitäre Kolonialverwaltung« charakterisiert.83 Solche Verbindungen waren bereits den Zeitgenossen in den Sinn gekommen. Die Trawniki-Männer wurden umgangssprachlich oft »Askaris« genannt, nach der Bezeichnung einheimischer Kolonialtruppen in Deutsch-Ostafrika.84 Aber auch »Schwarze« oder »Ukrainer« waren als Bezeichnungen verbreitet, obwohl die Wachmänner auch andere Ethnien der Sowjetunion in ihren Reihen hatten.
Zunächst firmierte die Truppe als »Wachmannschaften des Beauftragten des Reichsführers-SS und Chefs der Deutschen Polizei – Chef der Ordnungspolizei – für die Errichtung der SS- und Polizeistützpunkte im neuen Ostraum«. Seit April 1942 hießen sie »Wachmannschaften des SS- und Polizeiführers im Distrikt Lublin«.85
In den Trawniki-Männern vereinten sich Anteile einer Hilfspolizei des Chefs der Ordnungspolizei, einer persönlichen Polizeitruppe des SS- und Polizeiführers, einer sowjetischen »Schutzmannschaft« und einer Einheit der Waffen-SS. Diese Männer waren als Organisation alles andere als »normal« im Sinne der soziologischen Begriffsbildung. Zweck dieser Organisation war die Durchführung der SS-Siedlungspolitik, wie Himmler und sein Gewährsmann Globocnik sie verstanden. Von Anfang an hierin eingeschlossen war die gewaltsame Verdrängung, Arbeitsausbeutung und Ermordung der Juden. Sie wurde bald zum alleinigen Organisationszweck.
Die Führung des Ausbildungslagers hatte selbstverständich Männer im Blick, die mutmaßlich mit den Zielsetzungen des deutschen Vernichtungskriegs sympathisierten.86 Litauer, Letten und Esten wären für die Rekrutierung in Betracht gekommen, standen aber in den Kriegsgefangenenlagern im Distrikt Lublin vorerst nicht zur Verfügung, weil dort Soldaten des südlichen Frontabschnitts interniert waren.87 Wolgadeutsche galten als besonders aussichtsreiche Kandidaten, vor allem seit Stalin Ende August 1941 die Deportation dieser als »fünfte Kolonne« Hitlerdeutschlands beargwöhnten Bevölkerungsgruppe befohlen hatte.88 Wolgadeutsche sprachen zudem die deutsche Sprache und kamen als Übersetzer in Betracht.89
Eine pauschale Antwort auf die Frage, ob die Rekruten freiwillig oder unter Zwang ins Ausbildungslager kamen, ist nicht möglich. Auch ihre Motive und individuellen Verhaltensweisen lassen sich nicht verallgemeinern. Die sowjetische Geheimpolizei interessierte sich bei der Vernehmung Verdächtiger nach dem Krieg kaum für die Rekrutierung, weil es ihr allein auf das Geständnis ankam, in deutsche Dienste getreten zu sein. Auch wurden solche Geständnisse oft mit körperlicher Gewalt und Folter erzwungen. Belastbare Zeugenaussagen sind daher kaum vorhanden. Goldhagen meint, es habe sich um Freiwillige gehandelt, Browning setzt eine Überprüfung der antikommunistischen und vorzugsweise antisemitischen Gesinnung voraus, Grabitz hebt den ausgeübten Zwang hervor. Für alle drei Thesen finden sich Belege.90
Unmittelbarer Zwang war sicher nicht erforderlich, weil die Zustände in den Kriegsgefangenen unerträglich waren.91 Einer der russlanddeutschen Unteroffiziere hat diese Situation noch Jahrzehnte später hervorgehoben:
»Jeden Tag konnte man sehen, dass 10 – 20 Leichen abtransportiert wurden. Die Leichen wurden auf einem kreideähnlichen Berg begraben. Mein einziger Gedanke war, wie komme ich raus aus dem Lager, wie kann ich überleben. Irgendwann hat man uns antreten lassen und uns gesagt, wir müssten jetzt raus. Wir wussten nicht, wohin. So kamen wir in Trawniki an.«92
Ein weiterer Wachmann, der etwa gleichzeitig aus dem Stammlager Cholm nach Trawniki kam93, erwähnt ein solches Massensterben nicht, weist aber darauf hin, die Gefangenen seien nach ihrem körperlichen Zustand ausgewählt worden, was auf die schlechte Verfassung vieler Rotarmisten schließen lässt. Ein dritter Zeuge, der in einem Zweiglager in Zamość rekrutiert wurde, erwähnt hingegen gar keinen Hunger.94
Spätestens seit Oktober 1941 standen die Rotarmisten vor der Wahl zwischen dem SS-Dienst und der sehr realen Gefahr des Verhungerns:
»Die Unterbringungsbedingungen waren in diesen Lagern schrecklich. Der Tod mähte die Menschen nieder. Hungersnot, Kälte, aufreibende Arbeit und Grausamkeiten der Bewachung brachten die Gefangenen zur Verzweiflung. Jeder von uns wartete auf den Tod. […] Wir wussten nicht, wozu wir gebraucht wurden, wir interessierten uns auch nicht dafür, denn es war uns egal, Hauptsache, raus aus dieser Hölle.«95
Hiermit übereinstimmend hat ein Beschuldigter vor sowjetischen Vernehmern zu Protokoll gegeben, er habe seiner Rekrutierung zugestimmt,
»um mein eigenes Leben zu retten. Unter den Kriegsgefangenen im Lager Cholm gab es im Herbst 1941 eine massive Todesrate wegen des Fehlens von Essen, Krankheit in Verbindung mit der Kälte und unhygienischen Bedingungen. Ich glaubte seinerzeit, dass ich dasselbe Schicksal erlitten hätte, wenn ich im Lager geblieben wäre, daher stimmte ich zu, den Wachmannschaften der SS beizutreten.«96
Ein ehemaliger Trawniki-Unterführer schilderte in sowjetischer Haft den Anwerbungsvorgang wie folgt:
»Im September 1941 kam eine Gruppe deutscher Offiziere in unser Kriegsgefangenenlager. Sie erschienen vor unserer Gruppe und kündigten an, dass sie erschienen seien, um Leute für die deutschen SS-Wachmannschaften zu rekrutieren. Diejenigen, die zustimmten, diesem Dienst beizutreten, würden sofort aus dem Kriegsgefangenlager entlassen und in eine Schule für Wachmänner geschickt werden, um ausgebildet zu werden. Personen deutscher Nationalität unter den Kriegsgefangenen wurden nach ihrem Nachnamen aufgerufen. Ich wurde ebenfalls auf diese Weise aufgefordert. Insgesamt gaben etwa 100 Personen ihr Einverständnis, bei den SS-Streitkräften zu dienen. Fünf dieser Personen waren Russlanddeutsche wie ich.«97
In anderen Fällen hatten sich russlanddeutsche Rekruten bereits durch die Übernahme von Spitzeldiensten gegen »untragbare« Rotarmisten oder als Lagerpolizisten im Kriegsgefangenenlager empfohlen98:
»Im Herbst 1941, um den Monat Oktober, erschienen deutsche Offiziere im Lager Cholm. Sie ordneten an, dass alle Polizisten [Lagerpolizisten] in Formation gestellt werden sollten. Währenddessen sagte einer der Offiziere, dass er Leute für den Dienst als Wachmänner in den SS-Wachmannschaften auswähle, und dass diejenigen, die zu dienen wünschten, vor einer Kommission zu erscheinen hätten. Ich erinnere mich nicht mehr an den gesamten Auswahlprozess, aber ich erinnere mich, dass die anderen Ausgewählten und ich selbst vor die Kommission zitiert wurden. Die Kommission nahm die endgültige Auswahl vor. Wir betraten das Büro alle gleichzeitig. Ein deutscher Offizier fragte nach meinen Namen, Vornamen und Vatersnamen, meinem Geburtsort und meinem [Militär-]Dienst, wonach er mich körperlich untersuchte. Danach wurden diejenigen, die ausgewählt worden waren, mich eingeschlossen, in das Ausbildungslager in die Ortschaft Trawniki geschickt.«99
Eine politisch-ideologische Vorauswahl schildert ein Zeuge noch für den Sommer 1942:
»Im Juli 1942 kamen ins Kriegsgefangenenlager in Cholm die Vertreter der deutschen Führung der SS-Truppen, es waren ungefähr 8 – 10 deutsche Offiziere, darunter waren ein Arzt und ein Dolmetscher für die deutsche Sprache […]. Auf Anordnung dieser angekommenen Offiziere stellte die Lageradministration alle Lagergefangenen in einer Reihe auf. Die angekommenen Offiziere, der Arzt und der Dolmetscher fingen an, nach eigenem Ermessen junge und körperlich gesunde Kriegsgefangene auszusuchen. Anfangs erklärte niemand von den Vertretern den Gefangenen, zu welchem Zweck und wofür die Gefangenen ausgesucht wurden. Bei dem Vorgang fragte ein deutscher Offizier der SS-Truppen […] jeden Gefangenen durch den Dolmetscher nach seinem Geburtsort, Nationalität, Mitgliedschaft bei der kommunistischen Partei und beim Komsomol und nach den Verwandten. Als der besagte Offizier mich befragte, sagte ich ihm, ich sei Ukrainer von Nationalität und stamme aus dem Gebiet Stalino, war nie Mitglied bei der Partei und beim Komsomol, über meine Verwandten sagte ich, dass 1930 ihr Vermögen von den Organen der sowjetischen Macht enteignet wurde. Danach wurde mir befohlen, die Reihe zu verlassen und mich zu den Ausgesuchten zu stellen. Auf diese Art und Weise wurden ungefähr 30 Gefangene, darunter auch ich, ausgewählt. Der deutsche Offizier sagte über den Dolmetscher, dass wir für den Dienst bei der Deutschen Armee ausgesucht wurden. Alle ausgesuchten Gefangenen und auch ich stimmten dem zu.«100
In anderen Fällen wählten die Deutschen durch bloßen Fingerzeig gesund aussehende Gefangene aus, die per LKW nach Trawniki gefahren und erst dort zu einer ›freiwilligen‹ Meldung zum SS-Dienst aufgefordert wurden:
»Nachdem wir uns umgezogen hatten, wurden wir aufgestellt und uns wurde über einen Dolmetscher erklärt: Wer bei der deutschen Armee dienen und mit der Waffe in der Hand die deutsche Macht verteidigen möchte101, solle einen Arm hochheben, und wer nicht, solle zwei Schritte nach vorn kommen. Zusammen mit den anderen hob ich den Arm hoch und wurde bei der deutschen Armee aufgenommen, danach wurden wir in zwei Kompanien aufgeteilt. Danach wurde uns über einen Dolmetscher erklärt, dass wir eine Ausbildung an einer Wachmannsschule machen würden.«102
Insgesamt ergibt sich somit für das Jahr 1941 eine Mischung aus ideologischen und pragmatischen Auswahlkriterien auf Seiten des Ausbildungslagers, teilweise vorbereitet durch Wehrmachtsoffiziere, und einer seit Oktober 1941 zunehmenden Zwangslage auf Seiten der Kriegsgefangenen. Für die erste Gruppe der Rekrutierten stand der Hungertod wahrscheinlich noch nicht so deutlich am Horizont wie danach. Die Mehrheit der Zeugen sagte aus, der Zweck der Auswahl, also die Ausbildung zu Wachmännern, sei den betreffenden Soldaten bereits im Kriegsgefangenenlager bekannt gegeben worden.
Im folgenden Jahr waren die anfangs jedenfalls formal maßgeblichen Kriterien nicht mehr entscheidend. Rekrutiert wurden nun, nach dem Beginn der deutschen Sommeroffensive, bevorzugt »vertrauenswürdige« Ukrainer. Die anfänglich als maßgeblich herausgestellten ethnischen Qualitätsmaßstäbe traten bald in den Hintergrund. Es kam nun praktisch alle Gefangenen in Betracht, die dazu bereit waren und nach ihrem körperlichen Zustand in der Lage schienen, Waffendienst zu verrichten. In einigen Fällen wurde ihnen erst in Trawniki gesagt, wozu man sie geholt hatte.
Der Kontrast zwischen den weit ausgreifenden ideologischen Zielsetzungen Globocniks und der erstaunlich unideologischen Auswahlpraxis der SS fällt ins Auge:
»Unlike other auxiliary organizations utilized for shooting operations over a broad national or regional space […] usually the Trawniki guards were neither locally recruited nor ethnically homogeneous. While the Germans took pains to identify ideologically suitable persons for service in Trawniki, few of the Trawniki men had ben active previously as anti-Soviet activists or Ukrainian nationalists. This contrasts sharply with many of those who volunteered for the Latvian and Lithuanian killing units, or served as local police auxiliaries in the Ukraine.”103
Diese Feststellung widerspricht der Annahme Kühls, dass die rekrutierten Trawniki-Männer »nicht den Durchschnitt der männlichen Bevölkerung repräsentierten«, sondern »zu großen Teilen auch aufgrund ihrer vermuteten positiven Einstellung zum nationalsozialistischen Vernichtungsprogramm« in das Ausbildungslager aufgenommen worden seien, weshalb »die Rekrutierungspraxis der Trawnikis eher der der SS- Totenkopfverbände und der SS-Verfügungstruppen als [derjenigen] der Deutschen Polizei« entsprochen habe. Kühl geht vor diesem Hintergrund davon aus, dass das Ausmaß der Freiwilligkeit höher als bisher angenommen war, dass also Rotarmisten wegen ihrer angenommenen ideologischen Prädisposition nicht gezwungen werden mussten, Globocniks Hilfspolizei beizutreten.
Tatsächlich war der SS sehr daran gelegen, die Fiktion der Freiwilligkeit aufrechtzuerhalten. Den Wachmännern wurde eine Dienstverpflichtung in deutscher und russischer Sprache zur Unterschrift vorgelegt und zur Personalakte genommen. Demnach verpflichteten sie sich freiwillig »für Kriegsdauer« als Wachmannschaften und unterwarfen sich »den bestehenden Dienst- und Disziplinarvorschriften.« Ob die Rekruten Zeit hatten, ihre Verpflichtungserklärung zu lesen, ist zweifelhaft. Aber darauf kam es für das Funktionieren der Wachmannschaften auch nicht an.104 Noch Ende 1943 begrüßte der Kommandant des Konzentrationslagers Stutthof eintreffende Trawniki-Männer aus dem Vernichtungslager Treblinka als Freiwillige und Kameraden.105
Es gibt auch keine Anhaltspunkte für unmittelbaren Zwang. Nur in einer Aussage vor der sowjetischen Polizei wird behauptet, die Auswahlkommission habe widersetzliche Kriegsgefangene erschossen:
»Einer von unseren Kriegsgefangenen […] trat aus der Reihe nach vorn und sagte, er habe nicht vor, bei den deutschen Truppen zu dienen. Dieser junge Mann wurde auf der Stelle von einem deutschen Offizier, dem Kommandeur der 8. Kompanie, dessen Nachnamen ich nicht weiß, erschossen.«106
Eine Möglichkeit, den SS-Dienst abzulehnen, bestand in Wirklicheit aber nicht. Denn die Trawniki-Männer waren eine typische Zwangsorganisation.107 Wer dieser Truppe einmal beigetreten war, konnte sie nur zu den von der Organisationsleitung definierten Bedingungen verlassen: gar nicht oder unter Inkaufnahme der Gefahr, erschossen zu werden.
Bei der Aufnahme im Lager wurden die Personalien der Kriegsgefangenen aufgenommen und ein Personalbogen wurde angelegt. Anzugeben waren u. a. Dienstzeiten und Waffengattung in der Roten Armee, der letzte Dienstrang sowie Sprachkenntnisse und besondere Fähigkeiten. Die Lagerverwaltung nahm einen Abdruck des rechten Daumens und erstellte eine knappe Personenbeschreibung, damit im Fluchtfall nach den Betreffenden gefahndet werden konnte. Sie wurden uniformiert und in Uniform fotografiert. Die Wachmänner bekamen ab November 1941 einen Dienstausweis, der sie zum Tragen einer Waffe berechtigte. Diesen Ausweis mussten sie beim Wechsel in eine andere Dienststelle mit sich führen.108
Beide Dokumente wurden mit einer laufend vergebenen Erkennungsnummer versehen. Eine niedrige Nummer dokumentiert eine frühe Anwerbung. Diese Erkennungsnummern behielten die Wachmänner während ihrer gesamten Dienstzeit bei der SS. Seit Frühjahr 1943 enthielt der Personalbogen zusätzlich das Aufnahmedatum in Trawniki. Bis dahin hatte man es mit der Datierung der Personalbögen oft nicht so genau gehalten. Nicht selten wurden Personalbögen zudem erst Wochen nach der Ankunft der Rekruten ausgefüllt; bisweilen dürften sie auch gar nicht registriert worden sein.109
Die Wachmänner mussten eine eidesstattliche Erklärung unterschreiben, dass sie arischer Abstammung und nicht Mitglied der KPdSU oder ihres Jugendverbandes Komsomol gewesen seien. Auf diesem Blatt war Platz für Anmerkungen, wo Urlaubszeiten, Bemerkungen zur Führung, verhängte Strafen und Versetzungen eingetragen werden sollten.110 Bei Beförderungen erhielten die Wachmänner die Durchschrift einer schriftlichen Ernennungsmitteilung, die in das Original der Personalakte eingeheftet wurde.
Entgegen der deutschen Absichten kamen durchaus auch Komsomolzen nach Trawniki, Offiziere der Roten Armee und dem Vernehmen nach sogar Grenzsoldaten des NKWD.111 Die Lagerverwaltung war nicht in der Lage, die Lebensläufe der Betreffenden ernsthaft zu überprüfen. Diese setzten sich allerdings der Gefahr aus, von ihren eigenen Kameraden denunziert zu werden. Mutmaßliche Juden wurden im Lager sofort erschossen.112
Bis zu seiner Räumung Ende Juli 1944 gingen rund 5 100 Männer durch das Ausbildungslager Trawniki und wurden von dort auf ihre Einsatzorte verteilt.113 Die ständige Belegung des Lagers schwankte um rund 1 000 Personen. Peter Black hat durch die Auswertung von Personalbögen mehrere Rekrutierungswellen der Trawniki-Männer identifiziert. Diese korrespondieren auffällig mit dem Verlauf der »Aktion Reinhardt«114:
•Zwischen September 1941 und Anfang März 1942 wurden rund 1 250 sowjetische Kriegsgefangene angeworben.115 Diese stammten fast ausschließlich aus deutschen Kriegsgefangenenlagern im Distrikt Lublin (Cholm, Zamość, Biala Podlaska) und im Bezirk Białystok, der dem ostpreußischen Gauleiter Koch unterstand. Die Wachmänner dieser ersten Welle kamen in geringer Zahl in das Konzentrationslager Majdanek sowie in die Zwangsarbeitslager Lublin-Lipowa und Treblinka (nicht zu verwechseln mit dem späteren Vernichtungslager), dann aber auch in die Vernichtungslager der »Aktion Reinhardt«, wo im März/April 1942 zusammen etwa 300 Wachmänner eingesetzt waren. Trawniki-Männer waren ferner in erheblichem Umfang an der ersten Massendeportation aus dem Ghetto Lublin beteiligt. Daneben stellten sie die Wachkommandos von SS-Gütern im Distrikt Lublin und verrichteten eine Vielzahl von im Einzelnen unbekannten Objektschutzaufgaben.
•Bis Sommer 1942 folgten neben einzelnen Zivilrekrutierten weitere 1 250 Rotarmisten aus weiter östlich gelegenen Kriegsgefangenenlagern (Grodno, Rovno, Shitomir), deren Insassen seit der deutschen Frühjahrsoffensive in Gefangenschaft geraten waren.116 Teilweise holte man auch aus Stammlagern im Reichsgebiet (Breslau) Gefangene ab.117 Dies hing mit der Deportation von Hunderttausenden Juden aus Warschau und den Distrikten Lublin und Radom sowie mit einem wachsendem Personalbedarf der Vernichtungslager zusammen, deren Wacheinheiten nunmehr jeweils auf Kompaniestärke gebracht wurden. Nach ersten Einsätzen gegen Partisanen ab Mai 1942 wurde der »Bandenkampf« ab Sommer dieses Jahres zu einem weiteren wichtigen Einsatzfeld, wobei zunehmend die Jagd auf geflüchtete Juden in den Vordergrund trat. Ferner stellten Trawniki-Männer die Wachkommandos in Zwangsarbeitslagern für Juden besonders im Distrikt Lublin und wurden weiterhin zur Bewachung von SS-Gütern und kriegswichtigen Objekten, darunter Sägewerke, abgestellt.
•Ab Spätherbst 1942 warb Streibel nur noch Zivilisten an, weil Kriegsgefangene nicht mehr zur Verfügung standen. Gründe dafür waren der Hungertod und Erschießungen in deutschen Lagern sowie der Abtransport sowjetischer Kriegsgefangener als Zwangsarbeiter nach Deutschland. Zunächst trafen bis Januar 1943 rund 500 Zivilisten aus den Distrikten Lublin, Krakau und Galizien, aus Wolhynien/Podolien und dem Reichskommissariat Ukraine ein. Wenn Rekruten von sich aus bei den Trawniki-Werbern um Aufnahme baten, wurde dies gelegentlich als Gütemerkmal im Personalbogen festgehalten. Diese Anwerbung deckte den seit Herbst 1942 wachsenden Bedarf an Wachmännern in Zwangsarbeitslagern des Lubliner SS- und Polizeiführers sowie für die Vertreibung von Polen aus dem Gebiet Zamość.
•Mitte Februar 1943 war das Lager Trawniki laut Mitteilung Streibels von einsatzfähigen Wachmännern »entblößt«, mit anderen Worten: Dort befanden sich nur die in Ausbildung befindlichen Rekruten der letzten Welle.118 Daher holte die SS bis April 1943 weitere 500 Jugendliche aus dem südlichen Distrikt Galizien in das Lager. Benötigt wurden sie vor allem für Zwangsarbeitslager im Distrikt Lublin und in anderen Teilen des Generalgouvernements. Eine Anzahl dieser teils aufgrund freiwilliger Meldung, teils durch Einberufung zur Musterung rekrutierten Ukrainer wurde aber auch in das Vernichtungslager Bełżec abkommandiert.119
•Ende Juni/Anfang Juli 1943 wurden weitere rund 1 000 meist ukrainische Rekruten aus dem Südosten des Distrikts Lublin in das Lager gezogen. Sie kompensierten zahlenmäßig einen Verlust von rund 600 Wachmännern, die das nunmehr zum SS-Ausbildungslager avancierte Lager Trawniki ab September 1943 in die staatlichen Konzentrationslager abstellte. Die jüdischen Zwangsarbeiter wurden größtenteils bei der »Aktion Erntefest« im November 1943 erschossen.
•Die letzte Welle von rund 600 Männern traf im Winter 1943/44 ein und spülte neben Landarbeitern Kollaborateure der deutschen Besatzungsverwaltung aus weiter östlichen Gebieten in das Lager, die vor der Roten Armee die Flucht ergriffen hatten.
Die nationale Zusammensetzung der Gesamtgruppe ist nur in groben Zügen zu erfassen, aber doch aufschlussreich: Zunächst kamen volksdeutsche Kriegsgefangene, meist aus der Wolgarepublik stammend, später auch Ukrainer. Die Russlanddeutschen stellten die kleinste Gruppe im Lager und im Einsatz. Sie genossen wegen ihrer Sprachkenntnisse und aus ideologischen Gründen Vorzüge, wurden im Allgemeinen schneller befördert und übernahmen Vorgesetztenfunktionen gegenüber »Trawnikis« und jüdischen Funktionshäftlingen.120 Für das Funktionieren des Systems waren sie absolut unentbehrlich, denn die SS verfügte nicht über genügend eigenes Personal, um die Trawniki-Hilfspolizisten zu ersetzen oder selbst anzuleiten.121
Ukrainer stellten die größte ethnische Gruppe unter den Trawniki-Männern. Daher wurden sie in Augenzeugenberichten wie den bekannten Aufzeichnungen Kurt Gersteins sowie in der historischen Forschung lange Zeit pauschal als »Ukrainer« bezeichnet, obwohl auch Litauer, Letten und Esten unter den Wachmännern waren.122 Neben Russen, die aus ideologischen Gründen zunächst nicht berücksichtigt wurden, umfasste Globocniks Polizei Ethnien der Krim und des Kaukasus, sowjetische Kriegsgefangene rumänischer Herkunft und mindestens einen Bulgaren. Es gab sogar einen »Halbjuden« im Sinne der NS-Doktrin, der im Zwangsarbeitslager Treblinka Wachdienste versah.123
Welche politische Haltung ukrainische Rotarmisten und Zivilisten aus Gebieten östlich des Generalgouvernements ins Lager mitbrachten, lässt sich schwer sagen. Bei den mehr als 1 000 jungen Ukrainern, die Streibel 1943 im Generalgouvernement rekrutierte, dürfte ideologische Zuverlässigkeit eine Rolle gespielt haben, denn ukrainische Hilfspolizisten hatten bereits seit 1941 am Judenmord mitgewirkt und Massendeportationen im Distrikt Galizien mit durchgeführt.124
Die soziale Herkunft der Trawniki-Männer ist noch nicht hinreichend erforscht. Unter den Rotarmisten der ersten Rekrutierungswelle waren Angehörige des sowjetischen ›Mittelstandes‹. Bald dominierten jedoch junge Leute vom Land, die nur über eine geringe formale Bildung verfügten und vor ihrer Gefangennahme oder Zivilrekrutierung einfache Tätigkeiten ausgeübt hatten.125 Dieses aus dem Selbstschutz und der ukrainischen Hilfspolizei bekannte Muster erhöhte das Gefälle zwischen sowjetdeutschen Unterführern und ihren Untergebenen.