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New York, Pier 86, an Bord der Bremen, 30. August 1939, 01:48 Uhr, nachts

„Ich bin verrückt, vollkommen verrückt!“, durchfährt es Johannes Seibel. Die Mannschaftspromenade des riesigen Schnelldampfers Bremen schimmert im fahlen Licht der nächtlichen Bordbeleuchtung. Eine salzige Brise lässt die Nähe des Atlantiks erahnen. Die Geräusche der Nacht, leise Barmusik von der Normandie, dem französischen Ozeanriesen der am Nachbarpier liegt, das dumpfe Wummern einer Hilfsmaschine tief im Bauch der Bremen, das entfernte Rauschen aus den Straßenschluchten New Yorks.

Seibel beugt sich über die Bordwand. Das schwarze Wasser des Hudson schimmert in der Tiefe. Sein Herz schlägt wie ein Dampfhammer. Er spürt eine leichte Übelkeit. Die offene Seite der Mannschaftspromenade hier auf dem achterlichen C-Deck ist der Wasserlinie am nächsten. Acht bis zehn Meter mögen es trotzdem sein. Außerdem ist es die einzige Stelle, die von den oberen Decks nicht eingesehen werden kann. Schemenhaft heben sich die gemeinsam genutzten Abfertigungsgebäude der HAPAG und des Norddeutschen Lloyd ab vom surreal wirkenden Nachtlicht Manhattens. Einen günstigeren Augenblick wird es nicht geben und dennoch zögert er. Verdammt, er muss das Schiff verlassen und dieses ist vermutlich die allerletzte Gelegenheit und der einzig mögliche Weg.

Spätestens morgen wird die Bremen den New Yorker Hafen verlassen können, ohne Passagiere, lediglich knapp 1000 Mann Besatzung sind auf dem Schiff. Auf der Passage von Bremerhaven hierher waren fast 1800 Passagiere, überwiegend Amerikaner, an Bord. Unter ihnen viele Diplomaten und Geschäftsleute, die offensichtlich in letzter Minute Europa verließen. Europa, wo höchste Kriegsgefahr herrscht, wie er sich aus den mitgehörten Gesprächen zahlreicher Passagiere und der angespannten Atmosphäre an Bord unschwer zusammenreimen konnte. Dass es Krieg geben würde, war auch vorher kein Geheimnis mehr, aber nun stand er offensichtlich unmittelbar bevor. Die Besatzung hatte diesmal keinen Landgang in New York bekommen. Bewaffnete Bord-SS sichert die Gangway rund um die Uhr. Tagsüber waren zusätzlich Beamte der amerikanischen Zollbehörde auf der Pier. Keine Chance das Schiff zu verlassen. Wenn in Europa tatsächlich ein Krieg ausbricht, ist es ohnehin vorbei mit dem Glanz der Atlantikdampfer und er würde zur Kriegsmarine eingezogen werden. Alles sieht danach aus, als ob dies die vorläufig letzte große Fahrt der Bremen sei, denn Kapitän Ahrens wollte lediglich Brennstoff und Proviant bunkern und auf direkten Befehl aus Berlin so schnell wie möglich zurück nach Bremerhaven, hatte man der Mannschaft mitten auf dem Atlantik mitgeteilt. Schon zwei Tage lang wird die Bremen hier festgehalten und auf Waffen durchsucht. Ärgerlich für die Schiffsführung, für ihn aber ausnahmsweise von Vorteil.

Wieder blickt Seibel an der Bordwand herunter, lauscht nach verdächtigen Geräuschen, tastet nach dem wasserdicht verpackten Bündel unter seiner Jacke. Er muss sich jetzt entscheiden: Freiheit gegen Heimat! Ein Scheideweg im Leben, an dem, wie so oft, kein Wegweiser steht. Er steigt über die Bordwand, steht einen Augenblick mit den Schuhspitzen auf der Stahlkante außenbords mit dem Rücken zum Wasser. Das wasserdicht verschnürte Segeltuchpäckchen, das er schwimmfähig gemacht hat, hält er in der linken Hand. Er blickt über die Schulter hinüber zur Pier. 30 Meter müsste er schwimmen, bis zu der stählernen Leiter, die er jetzt in der Dunkelheit nicht erkennen kann, aber bei Tageslicht gesehen hatte. Schritte! Stimmen! Jemand kommt den Niedergang vom B-Deck herunter. Johannes Seibel lässt das Segeltuchpäckchen fallen, stößt sich ab und zieht im Fallen die Beine an den Körper, Kinn auf die Brust – zur Kugel zusammenrollen, so übersteht man einen Sprung aus großer Höhe ins Wasser am besten, hatte er gehört. Der Aufprall auf die Wasseroberfläche ist härter als er gedacht hat. Viel tiefer taucht er ins dunkle Wasser, als er erwartet hat. Er rudert mit den Armen, versucht an die Wasseroberfläche zu kommen, aber seine mit Wasser vollgesogene Kleidung und das schwere Bündel unter seiner Jacke verzögern das Auftauchen. Die Luft wird knapp. Um ihn herum - nur schwarzes Wasser, keine Orientierung. Todesangst und wirre Gedanken durchzucken ihn. Er denkt an Rebecca, vor seinem inneren Auge erscheint ihr Gesicht, ihr trauriger Blick, den sie ihm beim letzten Abschied zugeworfen hatte.

Abgesprungen

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