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Hamburg, Oktober 1923

Johannes steigt mit Opa Maltus aus der Elektrischen. Er hoppst an Opas Hand, obwohl sie schon den halben Tag auf den Beinen sind. Die große Runde, wie Opa immer sagt. Mit der Hochbahn von der Station Hoheluftbrücke zu den Landungsbrücken, Schiffe gucken im Hafen. Die Albert Ballin, das Flaggschiff der HAPAG, liegt an den Dalben bei den Vorsetzen, ein riesiger Dampfer mit zwei Schornsteinen, der bis nach New York fährt. Opa hatte früher bei der HAPAG Reederei als leitender Angestellter gearbeitet, und sogar den Generaldirektor Albert Ballin persönlich gekannt, weiß Johannes. Aber der war schon lange tot. Ein feiner Mensch sei das gewesen. Richtig, dass sie so ein schönes Schiff nach ihm benennen, hatte Opa beteuert.

Nachdem sie eine Zeit lang beim Bäcker anstehen mussten und dann für hundert Millionen Mark ein Brot gekauft hatten, waren sie wie jeden Tag zum Mittagessen in das Hotel von Papa und Mama am Großen Burstah gelaufen. Es gab dünne Suppe, wie meistens. Schließlich fuhren sie mit der Elektrischen zurück zum Grindelberg. Johannes fährt lieber mit der Elektrischen als mit der Hochbahn. Das dauert zwar viel länger, aber dafür fährt die Straßenbahn nicht durch dunkle Tunnel, in denen sich Johannes immer ein wenig fürchtet, was er Opa aber nicht sagt. Außerdem ist es spannender wenn die Linie 22 quietschend und bimmelnd durch enge Straßenschluchten rumpelt und man aus dem Fenster sehen kann, was auf den Straßen und Plätzen vor sich geht. Viele Geschäfte sind allerdings geschlossen, manche mit Brettern vernagelt. Nur einzelne Fuhrwerke sind unterwegs und noch seltener Automobile. Vor den wenigen Läden, die geöffnet haben, stehen Menschenschlangen nach Lebensmitteln an. Bezahlt wird mit ganzen Bündeln an Papiergeld. Viele Bettler sind unterwegs, oft Männer, die der Krieg gezeichnet hatte, die ein Holzbein haben, wie Papa oder nur einen Arm oder eine Augenklappe tragen oder gar keine Beine mehr haben, wie der arme Bettler am Gänsemarkt, der dort auf einer Holzplatte mit Rädern hockt. Johannes ist zu jung, um andere Zeiten zu kennen und alles zu verstehen was seine Augen sehen, aber allmählich beginnt er zu begreifen, dass es mal bessere Zeiten gegeben haben muss. Opa erzählt ja oft, wie es vor dem Krieg gewesen war, als Deutschland noch einen Kaiser hatte.

Bevor sie nach Hause gehen, wollen sie noch zum Uhrengeschäft Weintraub, ein Grund weshalb Johannes so aufgeregt ist. Bei den Weintraubs gibt es manchmal süßes Gebäck oder ein Glas Brause und er darf mit Rebecca spielen. Rebecca ist etwas größer als er und geht in die erste Klasse der israelitischen Töchterschule an der Carolinenstraße. Darauf ist sie mächtig stolz. Rebecca ist nett, ganz anders als die anderen Mädchen, die er kennt, vor allem Auguste und Wilhelmine, seine großen Schwestern, Auguste ist zehn und Wilhelmine zwölf. Manchmal sind sie ziemliche Ziegen.

Die Weintraubs wohnen auf der Harvesterhuder Seite des Grindelbergs, auch Klein Jerusalem genannt. Johannes lebt mit seinen Eltern und Geschwistern nur eine Straße weiter in der Schlankreye, während Opas Wohnung in einem der neuen Klinkerblöcke am Kaiser-Friedrich-Ufer auf der Hoheluft-Seite liegt. Opa wohnt dort allein und Johannes ist tagsüber fast immer bei Opa, weil Mama und Papa so viel in ihrem Hotel zu tun haben. Seine Oma war ein paar Jahre zuvor an der Spanischen Grippe gestorben. Er hat keine Erinnerung an sie, kennt sie nur von dem Bild auf Opas Anrichte und seinen Erzählungen. Manchmal darf er auch bei Opa übernachten, in Omas Bett.

Das Uhrengeschäft mit der Werkstatt vom Uhrmacher Weintraub befindet sich im Parterre eines fünfstöckigen Gebäudes mit reich verzierter Stuckfassade, schönen Giebeln und einem kleinen Türmchen an der Seite. Johannes mag solche Häuser lieber als die moderneren Klinkerbauten, welche gerade auf der Hoheluft-Seite gebaut werden. Die Wohnung der Weintraubs befindet sich in der ersten Etage direkt über dem Laden. Wenn man hinauf will, muss man durch das Uhrengeschäft, in dem stets ein vielstimmiges Ticken zu hören ist, und an der kleinen Uhrmacherwerkstatt vorbei, wo Kinder aber nichts zu suchen haben. Das Uhrengeschäft hat auch einen Hinterausgang der in einen Hof führt.

Frau Weintraub steht hinter der Ladentheke als Opa und Johannes hereinkommen. Sie begrüßt die beiden herzlich. „Geh‘ man schon hoch, min Jung, Rebecca ist oben. Aaron ist noch in der Werkstatt, Herr Maltus. Ach, was sind das nur für Zeiten, täglich muss ich die Preise erhöhen. Wo soll der Schlamassel noch hinführen?“ Opa brummt zustimmend.

Rebeccas Zimmer ist voller wunderbarer Spielsachen. Natürlich hat sie keine Märklin Bahn, wie er eine hat, eben nur Mädchenspielzeug, dafür ein riesiges Puppenhaus mit winzigen Möbeln, sogar ein kleines Klavier und eine Standuhr gibt es, natürlich mit echtem Uhrwerk. Und einen Krämerladen hat sie mit unzähligen Dingen die man auch in einem echten Laden kaufen kann, nur winzig klein. Spielgeld gibt es ebenfalls, man muss schließlich bezahlen. Schade, dass Jungs mit sowas eigentlich nicht spielen, überlegt Johannes. „Und was möchten Sie heute kaufen, der Herr?“, tönt sie mit verstellter Stimme und bindet sich sogar eine passende Schürze um. „Och, weiß nicht.“ „Kolonialwaren? Ein Ei? Eine Flasche Brause? Oder ein Pfund Mehl?“, schlägt sie vor. „Eine Flasche Brause“, antwortet er endlich. „Ach was sind das für Zeiten, täglich muss ich die Preise erhöhen“, seufzt sie, „macht Zehnmillionen Mark, der Herr.“ Johannes zählt ihr ein paar Spielgeldpfennige aus Pappmaché auf die Hand. Sie reicht ihm ein Spielzeugfläschchen, legt die Münzen in die Kasse und nickt zufrieden. „Wollen wir lieber Schule spielen?“ fragt sie nach einer Weile. „Hmm“, macht er ein wenig unentschlossen. „Also, ich bin die Lehrerin und du das Schulkind.“ „Immer muss ich das Schulkind sein“, mault er. „Umgekehrt geht es wohl nicht, du kommst ja erst im nächsten Jahr zur Schule und hast noch nichts gelernt, was du mir beibringen kannst.“ Dagegen kann er nichts sagen. Sie reicht ihm resolut ihre Schiefertafel und einen Griffel und bedeutet ihm mit strenger Miene sich zu setzen.

Die Familie Weintraub hat eine komfortable Wohnung und schöne Möbel. Rebecca ist ihr einziges Kind. Herr Weintraub war im großen Krieg und hat ein Holzbein, genau wie Papa. Papa links und Herr Weintraub rechts. Aber Papa redet nicht mit Herrn Weintraub. Opa und Herr Weintraub hingegen treffen sich oft, obwohl Opa viel älter ist. Die beiden reden meistens von ernsten Dingen von denen Johannes kaum etwas versteht. Dass die Regierung nicht immer neues Geld drucken kann und wo das hinführen soll, und dass die Franzosen das Rheinland besetzt haben, und was im Winter werden soll, wenn die Kohlenzüge nicht mehr rollen, und dass Versailles an allem Schuld sei. Warum bestrafte man diesen Versailles nicht, wenn er doch an allem Schuld war, fragt sich Johannes und ahnt bereits, dass die Welt verdammt kompliziert sein kann. Im Wohnzimmer der Weintraubs steht ein Klavier. Einmal hat Frau Weintraub darauf gespielt und es hatte wunderschön geklungen. In Frau Weintraubs großer Küche gibt es zwei Geschirrschränke. Einen für die milchigen- und einen für die fleischigen Speisen. Töpfe und Teller muss man getrennt benutzen und getrennt aufbewahren sonst kann man kein koscheres Essen bereiten, hatte Rebecca ihm einmal erklärt. Frau Weintraub hatte lakonisch hinzugefügt, dass es zurzeit aber kaum Milchiges und Fleischiges zu kaufen gäbe, eher Gammeliges und Fauliges. Bevor Opa und Herr Weintraub sich verabschieden, trinken die beiden jedes Mal einen Schnaps. Auf bessere Zeiten! Frau Weintraub schüttelt dann immer vorwurfsvoll den Kopf.

Maltus konnte dank seiner eigenen Weitsicht allerdings recht beruhigt in die Zukunft sehen. Als sich bald nach Ausbruch des Krieges abzeichnete, dass Paris nicht im Handstreich einzunehmen sei, zum Frühstück nach Paris, wie es deutsche Landser begeistert auf jene Wagons geschrieben hatten, die sie an die Front brachten, musste jedem gestandenem Kaufmann, dem der Patriotismus nicht völlig das Hirn vernebelt hatte, klar sein, dass keiner der kriegführenden Staaten ausreichend Kapital hatte, so eine Vernichtungsmaschinerie dauerhaft zu finanzieren. Maltus hatte sporadisch Kriegsanleihen gezeichnet, um unverdächtig zu bleiben, jedoch immer wieder amerikanische Dollar und Goldmünzen gekauft, solange dies noch möglich war. Das war nun sein Ruhekissen.

Einen Monat später muss Johannes mit seinen Schwestern ein paar Tage im Haus bleiben. Opa passt auf die Kinder auf und ermahnt sie immer wieder vom Fenster wegzubleiben. Auf den Straßen fahren Soldatenautos und Panzerwagen der Reichswehr auf und ab. Ob draußen Krieg sei, hatte Johannes gefragt. „Nein, ein kommunistischer Aufstand, in Barmbek haben sie auch geschossen, aber so schlimm wie Krieg sei das nicht und bestimmt in ein paar T agen wieder vorbei.

Opa hatte Recht behalten. Einige Tage später ist alles wieder ruhig. Als Opa und Johannes am Vormittag mit der Hochbahn fahren wollen, müssen sie zwanzig Milliarden Reichsmark für eine Fahrkarte bezahlen. Sie haben Glück, dass überhaupt eine Bahn fährt, da häufig der Strom ausfällt, weil es kaum noch Kohlen gibt. Man kann kaum mehr etwas mit dem wertlosen Geld kaufen. Auch Herr Weintraub hatte seinen Uhrenladen seit zwei Wochen geschlossen und die kostbaren Uhren in seiner Wohnung versteckt. Es wird fast nur noch getauscht. Die Maler, Stuckateure und Klempner, die in Papas maroden Hotel arbeiten, bekommen zwei Eier oder ein halbes Pfund Butter und einen Teller Suppe für ihre Arbeit. Die Eier und die Butter brachte Onkel Gustav mit, der eine kleine Landwirtschaft in den Vier- und Marschlanden betreibt. Onkel Gustav bekam dafür Papas alten Mantel und manchmal eine von den Weinflaschen, die im Keller des Hotels lagern.

Paul Seibel hatte drei Jahre zuvor das marode Gebäude am Großen Burstah, einer belebten Geschäftsstraße in guter Lage, ersteigert, denn nach dem großen Krieg waren die Immobilienpreise im Keller. Finanziert hatte er den Kauf durch eine Erbschaft, und einen Bankkredit, den Rest hatte Opa Maltus beigesteuert. Dafür gehören ihm 10% des Hotels, welches vier Stockwerke und 24 Gästezimmer hat. Im Erdgeschoss befinden sich der Empfang mit Rezeptionstresen, sowie ein Restaurant und die zugehörige Küche. Unter dem Dach gibt es mehrere Kammern für die Angestellten. Angestellte hatten die Seibels allerdings nicht. Bisher waren nur drei Zimmer renoviert, wurden aber selten vermietet in diesen Zeiten. Paul Seibel träumt davon das Hotel möglichst bald komfortabel auszubauen, um zahlungskräftige Gäste anzulocken. Davon sind sie allerdings meilenweit entfernt, denn es gilt erst einmal diese Krise zu überstehen. Jetzt weigern sich auch noch die Handwerker weiterzuarbeiten. Mama, die am Tisch sitzt und ihren Wintermantel trägt, wirkt verzweifelt, als Johannes und Opa durch die Eingangstür kommen. Draußen heult der Novemberwind. Innen ist es kalt, weil es keine Kohlen zum Heizen gibt.

Später als sie vor ihren leeren Suppentellern sitzen, ohne richtig gesättigt zu sein, fragt Auguste ihren Vater: „Papa, kriegen wir zu Weihnachten auch so eine Puppenstube wie Rebecca Weintraub eine hat?“ Paul Seibel, ein stets ernst wirkender Mann, schüttelt energisch den Kopf und funkelt seinen Schwiegervater an. „Hast du die Mädchen mit zu diesem Juden genommen, Wilhelm?“ Opa macht ein unappetitliches Gesicht. „Weshalb denn nicht? Meinst du die fressen deine Kinder auf? Die Weintraubs sind rechtschaffene Leute.“ „Wilhelm, ich will nicht, dass du mit den Gören immer zu dieser Judenbrut gehst!“, brüllt Paul Seibel plötzlich. „Reg dich nicht auf! Und was hast du überhaupt gegen den Weintraub? Er war auch im Krieg, hat seine vaterländischen Pflichten erfüllt, hat in Frankreich ein Bein verloren genau wie du.“ „Die Juden sind schuld an der ganzen Krise, mit ihrer Schacherei und den Krieg haben wir auch wegen denen verloren, wie man jetzt hört. Außerdem verdirbt das die Mädchen nur. Siehst ja was dabei rauskommt. Jetzt wollen meine Töchter eine Puppenstube, wo wir kaum was zu beißen haben und die verdammten Juden kaufen ihrer Brut teure Spielsachen und leben wie die Maden im Speck. Außerdem sollen die Mädchen sich lieber in der Küche nützlich machen.“ „Guste, Wilhelmine, ihr habt gehört was Papa gesagt hat, ab in die Küche!“, mischt Mama sich ein. „Und Johannes, geh‘ mal spielen!“ Die Mädchen räumen das Geschirr ab und verdrücken sich maulend. Johannes verzieht sich nach draußen.

„Was soll jetzt werden, wo die Handwerker weg sind?“, wechselt Helene Seibel das Thema. „Die kommen schon wieder, min Deern, kann nicht mehr lange dauern mit der Geldentwertung, das wird schon?“, tröstet er seine Tochter. „Und dann, was kommt danach?“ „Es kann nur bergauf gehen, das war bisher nach jeder Krise so. Deutschland wird wieder stark werden. Aber es ist höchste Zeit, dass ihr eure Schulden bezahlt. Das ist doch jetzt ein Kinderspiel, durch die Geldentwertung“ „Nein, wir warten noch, vielleicht wird das Papiergeld noch wertloser.“ „Worauf willst du denn noch warten? Was soll denn da noch wertloser werden? Zahle den Kredit so schnell wie möglich zurück!“, regt Wilhelm Maltus sich auf. „Hat dir das auch dein Jude eingeflüstert?“, fährt ihn sein Schwiegersohn mit barscher Stimme an. „Ich bin alt genug! Mir braucht niemand etwas einflüstern! Merk dir das!“, donnert Wilhelm Maltus und steht auf. Er geht an den Rezeptionstresen und greift sich brummelnd den Hamburger Correspondenten. In München hatte man einen Putschversuch niedergeschlagen, liest er. Es hatte eine Schießerei zwischen den Aufständischen, der Reichswehr und der Polizei mit 20 Toten gegeben. Die Putschisten hatten eine nationale Diktatur gegen Juden und Marxisten errichten, und die Macht in ganz Deutschland an sich reißen wollen, waren aber nur bis zum Münchner Odeonsplatz gekommen anstatt bis zum Berliner Reichstag. Einer der beiden Hauptakteure, General Erich Ludendorff sei verhaftet worden, der andere, ein gewisser Adolf Hitler, sei flüchtig. Wilhelm Maltus schüttelt den Kopf. „Soon Tüünkram hätte uns noch gefehlt“, murmelt er.

Wilhelm Maltus sollte Recht behalten, sein Einschätzungsvermögen was wirtschaftliche Dinge betraf, hatte er durch seine langjährige kaufmännische Berufspraxis erworben. In solch schlechten Zeiten musste man rechtzeitig in Dinge investieren, die ihren Wert behalten, möglichst mit geliehenem Geld auf dessen Entwertung man spekulierte und dann seine einst hohen Schulden mühelos mit wertlosem Geld zurückzahlen konnte. Genauso hatten es nun die Seibels gemacht. Zwei Wochen später führt die Deutsche Reichsbank die Rentenmark ein. Eine Rentenmark entspricht einer Billion alter Reichsmark. Die Ersparnisse und die Kriegsanleihen der Deutschen waren von einem Tag auf den anderen wertlos. Der Staat vor allem, aber jene, die auf Pump Häuser gekauft hatten, waren ihre Schulden los. Johannes‘ Eltern sind auf einen Schlag schuldenfrei und besitzen nun ein, wenn auch renovierungsbedürftiges, Hotel in guter Lage.

Abgesprungen

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