Читать книгу smartphone geht vor - Thomas Schutz - Страница 5
ОглавлениеZu Beginn ein Experiment (vgl. Buonomano, 2012). Achten Sie bitte gleich beim Lesen der Instruktion darauf, welche mannigfaltigen Assoziationen das Experiment in Ihnen auslöst. In dem Experiment geht es um Kopfrechnen. Jetzt keinen Schreck bekommen, es handelt sich um einfaches Addieren natürlicher Zahlen: Sie addieren die folgenden Zahlen im Kopf und schreiben im Anschluss die Endsumme auf. Startbereit? Los geht’s. Sie addieren bitte zu eintausend vierzig, dann addieren Sie noch einmal eintausend, zwanzig und wieder eintausend hinzu. Addieren Sie erneut zehn, nochmals eintausend und zum Schluss dreißig hinzu. Schreiben Sie jetzt bitte die Summe auf!
Interessant ist, dass auch in einem Auditorium von Akademikern recht mannigfaltige Ergebnisse zutage treten. 50% der Befragten nennen die Zahl fünftausend. Leider völlig falsch. Die nächste Schätzung ist meist Fünftausendeinhundert (25%). Auch nett, aber auch falsch. 24% nennen die richtige Lösung: viertausendeinhundert.
Wenn man davon ausgeht, dass jeder das Addieren von natürlichen Zahlen – zumindest so lala – beherrscht, wie kann dann dieser Befund zustande kommen? Spielen Sie dieses kleine Experiment einmal in Ihrem Familien-, Bekannten- oder Kollegenkreis durch. Auch Mathematiker sind hier äußerst kreativ.
Die Ursache für die Mannigfaltigkeit der Ergebnisse liegt in der Konstruktion des menschlichen Gehirns selbst und ist wohl für das menschliche Gehirn ein sehr typischer Denkfehler. Allzu oft werden diese Denkfehler mit anderen Phänomen unserer Zeit verwechselt: fehlende Konzentrationsfähigkeit, fehlendes Interesse für Mathematik, fehlende Ausdauer, fehlende Disziplin, fehlende Rechenfertigkeiten der jungen Net-Generation. Die Liste scheint lang. Aber war das früher auch so?
Oft sehnen wir uns nach einer Zeit zurück, in welcher der Lehrer an der Tafel mit Kreide Fakten und Zusammenhänge vor der gebannt und still dasitzenden Klasse erläutert: Der Lehrer als Quell allen Wissens. Das waren Zeiten: Das Wissen floss auf scheinbar wundersame Weise vom Lehrer direkt in die Köpfe der Schüler, ohne diesen erklären zu müssen, wie das Lernen eigentlich funktioniert und welche Methoden es gibt. Man verkündete die Aufgabe, lernte dies oder das zu Hause. Auch die Benutzung des Tageslichtprojektors nebst Folie im Wechselspiel mit dem Tafelbild hatte so eine Magie und galt als Höhepunkt des multimedialen Medieneinsatzes. Doch zu dieser Zeit begann auch das Übel, mag man meinen. In zunehmend schnellerer Abfolge kamen Sprachlabore und Computerräume, rollende Medienschränke mit TV, CD und DVD, Laptop-Klassen und interaktive Whiteboards, iPhone 4, 5 und 6, S und C usw. – immer innovativere digitale Produkte und immer kürzer werdende Produktzyklen. Die Welt in den letzten 20 Jahren, die Computer und Fernsehgeräte in ihr, das Internet und die Übertragungsgeschwindigkeiten: Alles wurde rasant schneller, schneller und schneller. Und was bedeutet das für unser Lernorgan? Schnell wurden Szenarien eines »Informationstsunamis« gesponnen. Zu Recht? Will man diese Frage unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten lernbiologisch beantworten, erscheint es sinnvoll, an wissenschaftlichen Studien und Erkenntnissen sowie an konkreten Praxisbeispielen Vor- und Nachteile dieser Entwicklung sowohl für den Lehrenden als auch für den Lernenden herauszuarbeiten. Gibt es Unterschiede zwischen den Generationen? Wenn ja, welche? Gibt es auch positive Beispiele?
Ja, die gibt es: Beispielsweise berichtet der 12-jährige Thomas Suarez in seinem TEDx-Talk in Manhattan Beach im Oktober 2011 (Suarez: A 12-year-old app developer, Web.) vor Hunderten von Eltern und Lehrern von seiner Begeisterung, Apps für das iPhone zu programmieren. Anfänglich fragte er seine Eltern und Lehrer, ob sie ihm die dazu nötigen Computersprachen beibringen könnten. Sie konnten es nicht. Wie auch? Aber sie bestärkten ihn in seiner natürlichen Neugierde und schufen eine Umgebung, in welcher er seine Leidenschaft und Stärken entdecken und seine Ideen umsetzen konnte.
Nachdem Apple 2008 mit dem iPhone auch das iPhone/iOS Software Development Kit (SDK) veröffentlicht hatte, brachte er sich die nötigen Grundlagen selbst bei. An seiner Schule gründete er dann seinen App-Club. Er fragte Lehrer, wann und wie Apps für das Lernen sinnvoll seien, und teilte seine Erfahrung, wie man Apps programmiert, mit anderen interessierten Mitschülern und Lehrern.
|Abb. 1| TEDx-Präsentation von Thomas Suarez, einem 12-jährigen App-Entwickler und Gründer von Carrot Corp, Inc., in Manhattan Beach im Oktober 2011[1]
In seiner TEDx-Präsentation 2011 |Abb. 1| wandte er sich direkt an sein Publikum, an die Lehrer, indem er charmant feststellte, dass heute zum einen Schüler und Studierende ein besseres Verständnis vom Gebrauch digitaler Technologien haben und dass zum anderen die Lehrer von dieser Ressource Gebrauch machen sollten, um Schülern kollaboratives Lernen zu lehren. Mittlerweile inspiriert der jetzt 13-jährige Gründer der Firma Carrot Corp, Inc., Gleichaltrige wie Erwachsene mit seiner Vorstellung über die Zukunft des Lernens.
Doch nun zurück zu der Frage, die Eltern wie Lehrende heute am meisten bewegt: Ist Konzentration in dieser schnellen, digitalen Wunderwelt heute eigentlich noch möglich? Und, wenn ja, wie lange und für was? Denn in jeder Bildungs- und Arbeitswelt werden die technologischen Produktzyklen zunehmend kürzer und die medialen Verlockungen immer größer und vielfältiger. Die Ablenkung scheint den Kampf um die Aufmerksamkeit für sich entschieden zu haben. Das mag man bedauern und beklagen. Aber es ist recht wahrscheinlich, dass das Internet nicht wieder verschwinden und die gefühlte Zeit sich weiterhin exponentiell beschleunigen wird.
Mit der Biene Maja fing in unserer Kindheit um 16:04 Uhr nach der ersten Nachrichtensendung des Tages das Fernsehprogramm auf dem zweiten Kanal an. Vorher lief auf allen (drei!) Kanälen das Testbild. Unspektakulär, sodass sich der Fernsehkonsum in überschaubaren Grenzen hielt. Doch war in dieser Zeit ein Fernsehgerät pro Haushalt mit drei Fernsehkanälen der Quell des medialen Inputs.
So standen nach Angaben des Statistischen Bundesamtes im Jahre 2013 zwar durchschnittlich nur 1,9 Fernsehgeräte pro Haushalt zur Verfügung. Doch stieg nach Angaben der Arbeitsgemeinschaft Fernsehforschung (AGF) sowohl die Anzahl der pro Haushalt empfangbaren Fernsehsender deutlich auf bis zu 80 Sender an (Stand: Januar 2012) als auch der durchschnittliche Fernsehkonsum von 190 Minuten im Jahre 2000 auf 222 Minuten im Jahre 2012 (AGF: Entwicklung der durchschnittlichen Sehdauer, Web.). Dank mobiler Endgeräte wie Smartphones ist der Informations- und Kommunikationskonsum zudem ortsunabhängig, zeitlich wahlweise synchron oder asynchron als auch multichannel geworden, sodass auch unterwegs und nicht nur vor dem Fernseher nach Herzenslust gezappt werden kann. Laut einer Umfrage der Akademie der Media (Stuttgart) und der Agentur Mindshare Marketing nutzen junge Leute ihre Smartphones täglich dreieinhalb Stunden, am wenigsten zum Telefonieren: 13 Minuten. Aus dem Homo sapiens wurde ein »Homo zappiens« (Veen/Vrakking, 2006).
|Abb. 2| WhatsApp ist wichtiger als Facebook und Twitter.
Wenn wir uns jetzt in ein Kind hineinversetzen, das heute die Biene Maja schauen möchte, so hat es sowohl eine Vielzahl unterschiedlicher Geräte und Medien als auch Orte und Uhrzeiten zur Auswahl. Ferner wird dem Kind auch gleich eine Anschlussbeschäftigung zum Weitersehen oder Weiterklicken im Internet angeboten. Da die Umwelt des Kindes – die Erwachsenen und Gleichaltrigen – dem Kind auch bei anderen Themen des alltäglichen Lebens ein ähnliches Verhalten vorlebt, wird es diesen allgegenwärtigen Informationskonsum und Technikgebrauch als normal ansehen.
Aber nicht nur die Verfügbarkeit von Informationen scheint technisch immer grenzenloser zu werden. In der Schule und im Studium sagte man uns, dass sich das Wissen in der Welt alle zwei Jahre verdoppeln würde. Was denken Sie: Wann verdoppelte sich 2006 die neue, weltweit zur Verfügung stehende technische Information, wann 2010 und wie sieht es heute aus? Oder anders gefragt: Schätzen Sie bitte, wie viele Stunden ein heute 11-jähriges Kind im Jahre 2020 damit verbracht hat:
•Videogames zu spielen?
•vor dem Fernseher zu sitzen?
•sich mit mobilen Endgeräten zu beschäftigen?
•E-Mails zu versenden?
•ein Buch zu lesen?
Wenn also Kinder und Jugendliche spätestens ab 1995 mit diesen digitalen Technologien und der schier unbegrenzten Informationsflut aufgewachsen sind und das als die normale Umwelt betrachten, was hat diese dann mit ihren Gehirnen gemacht?
Bevor wir auf die Reise in ein Gen Y/Gen Z-Gehirn von heute gehen, ein paar Vorbemerkungen zum wissenschaftlichen Diskurs in diesem für alle Bereiche des Lernens und Arbeitens virulenten Forschungsfeld.