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1.1Unser Gehirn passt sich plastisch den exponentiellen Zeiten an
Оглавление|Abb. 3| Gall’scher Schädel, Wien 1812
»Die erste Welle der Hirnforschung lieferte vor einigen Jahren mehr Fiktion als Fakten. Nun liegen neue […] hilfreiche Erkenntnisse vor.« (Waytz/Mason, 2013, S. 36)
Wie das menschliche Gehirn funktioniert, hat die Menschheit seit jeher interessiert: Es wurden ganze Sammlungen von (Elite-)Gehirnen angelegt, um ihnen ihre Geheimnisse zu entlocken. Am Ende des 18. Jahrhunderts geschah das zunächst auf kuriose und vorwissenschaftliche Art und Weise. Zum Beispiel verortete der deutsche Mediziner Franz-Joseph Gall (1758–1828) bestimmte Charakter- und Persönlichkeitseigenschaften anhand der Schädelform in bestimmten Gehirnarealen: Ein langer Hinterkopf zeuge beispielsweise von Anhänglichkeit, eine Wölbung über dem rechten Auge von Ortssinn (|Abb. 3| vgl. Critchley, 1965; vgl. Greenblatt, 1995). Seine von ihm entwickelte Kombination von Physiognomie und Gehirnlokalisation nannte er zunächst Kraniologie – die Wissenschaft vom Schädel. Anschließend Organologie – die Wissenschaft von den Organen im Gehirn – und kurze Zeit später wurde die Wissenschaft als Phrenologie bezeichnet – »the science of the mind« (Greenblatt, 1995, S. 790–05).
In der Tagespublizistik des 19. Jahrhunderts waren seine Theorien »ein Ereignis« (vgl. Deneke, 1985), seine öffentlichen Vorträge auf seiner zweieinhalbjährigen Vortragstour (1805–1807) überwältigend. Wobei der Wissenschaftshistoriker John van Whye die Absichten von Gall weniger in der Vermittlung der Wissenschaften oder in der Verbreitung seiner Theorien sieht, sondern vielmehr darin, zur intellektuellen Elite seiner Zeit zu gehören. (vgl. van Whye, 2002)
Der Durchbruch für das Verständnis der Funktionsweise des menschlichen Gehirns kam mehr als ein Jahrhundert später aus dem Tierreich, sodass die Reise in das menschliche Gehirn zunächst im Tierreich beginnen soll:
»Im Laufe der Geschichte der Neurowissenschaften hat eine große Menagerie von Invertebraten[2] als Versuchstier gedient. Der Tintenfisch […], Schaben, Fliegen, Bienen, Egel und Fadenwürmer (Nematoden) […]. Zugegebenermaßen ist das Verhaltensrepertoire eines durchschnittlichen Invertebraten eher begrenzt. Dennoch lassen sich bei vielen Invertebratenarten die […] einfachen Formen des Lernens beobachten […]. Die Neurobiologie des Lernens wurde vor allem an einer Art erforscht, an der Meeresschnecke Aplysia californica ([|Abb. 4|], Kalifornischer Seehase).« (Bear et al., 2009, S. 870)
|Abb. 4| Der Kalifornische Seehase (Aplysia californica)
An ihr konnte der spätere Nobelpreisträger für Physiologie und Medizin (2000) Eric R. Kandel nachweisen, dass die Funktion der Synapsen |Abb. 5| und deren Veränderung grundlegende Bedeutung für unser Lern- und Erinnerungsvermögen haben: Das Gedächtnis ist in den Synapsen verortet. Oder wie es Sebastian Seung, Professor am Massachusetts Institute of Technology (MIT), formuliert: »I am my connectome.« (Seung: I am my connectome, Web.)
Die Synapse ist »der Kontaktbereich, in dem ein Neuron Informationen auf eine andere Zelle überträgt« (Bear et al., 2009, S. 927).Das Konnektom (Connectome) ist die Gesamtheit aller Verbindungen zwischen den Neuronen (Nervenzellen) eines Gehirns. |
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass das Gehirn aus 100 bis 120 Milliarden Nervenzellen (Neuronen) besteht, die alle einen ähnlichen Grundbauplan haben |Abb. 5|. Dieser kann aber morphologisch unterschiedlich und komplex ausgeformt sein: Der Dendritenbaum einer einzigen Purkinjezelle kann beispielsweise zwischen 150.000 und 200.000 Synapsen empfangen. Damit zählt das menschliche Gehirn zu den komplexesten Systemen überhaupt, obwohl der Grundbauplan und das Verknüpfungsprinzip einfach sind.
|Abb. 5| Pyramidenzelle im Mandelkern, ein Emotionszentrum des Gehirns (links); Skizze eines Neurons (rechts)
Die zentrale Frage bleibt: Wie schafft es das menschliche Gehirn, sich fortlaufend, ein Leben lang, den permanenten Veränderungen der Umwelt anzupassen? In den 1960er-Jahren herrschte die Meinung, dass die Entwicklung des Gehirns ähnlich der Konstruktion eines elektrischen Gerätes sei: Zunächst werden Drähte produziert, die anschließend verschaltet werden. Wenn alles funktioniert, bleibt dieser Schaltplan (im Erwachsenenalter) unverändert. »[Diese] Überzeugung basierte stärker auf theoretischen Vorurteilen als auf empirischen Belegen.« (Seung, 2013, S. 73)
Da in den letzten zehn Jahren nicht nur Fernsehgeräte und Mobiltelefone rasant weiterentwickelt wurden, sondern auch Darstellungsmethoden wie die Zweiphotonenmikroskopie oder Methoden zur Analyse und zur Darstellung synaptischer Ketten im Konnektommaßstab, können heute Synapsen zum einen am lebenden Gehirn dargestellt und zum anderen in großer Anzahl analysiert werden. So ist heute allgemein akzeptiert, dass auch im Erwachsenengehirn Synapsen neu gebildet und abgebaut werden können.
»Geboren mit dem maximalen Anpassungspotential, aber einem nur unzureichend vorbereiteten Gehirn, geht es im Leben von Anfang an darum, möglichst schnell die neue Umwelt so wahrzunehmen, dass man sie internalisieren kann und selbst Teil davon wird.« (Esch, 2012, S. 66)
|Abb. 6| Dendritenwachstum von der Geburt bis ins Alter von zwei Jahren[3]
Doch wie schafft unser Gehirn das? Die Antwort auf diese Frage ist unmittelbar mit dem Namen Donald Olding Hebb verbunden, der 1949 in seinem Buch The Organization of Behavior: a neuropsychological approach die Hebb’sche Lernregel mit der erklärenden Kurzformel beschreibt: »what fires together, wires together«. Je häufiger zwei Neuronen gleichzeitig aktiv sind, desto häufiger werden beide aufeinander reagieren. Er gilt damit als der Entdecker der synaptischen Plastizität, der Eigenschaften von Synapsen, sich in Abhängigkeit von der Verwendung in ihren Eigenschaften zu verändern. Hier wird oft das Bild einer Veränderung eines Trampelpfades zu einer Autobahn verwendet: Bei der ersten Benutzung des Pfades ist eigentlich noch kein Weg da. Hat erst einmal der Erste einen Pfad angelegt, so wird der Zweite, der ihn nutzt, diesen durch seine Benutzung noch mehr zum Pfad ebnen usw. Allgemein ist somit die Änderung der Stärke der synaptischen Übertragung aktivitätsabhängig und kann sowohl durch morphologische als auch durch physiologische Änderungen bedingt sein. Zu dieser Neugewichtung und Neuverbindung |Abb. 6| kommt noch ein drittes Phänomen im Kleinkindalter hinzu:
»Im Gehirn eines Kleinkinds werden neue Synapsen mit atemberaubender Geschwindigkeit gebildet. Allein im Brodmann-Areal 17 werden im Alter von zwei bis vier Monaten mehr als eine halbe Million pro Sekunde erzeugt.« (Seung, 2013, S. 98; Daten von Huttenlocher, 1990)
Doch mit zunehmendem Alter werden auch Verbindungen wieder zerstört (Pruning): Bis zu Beginn des Erwachsenenalters reduziert sich dieser Spitzenwert des Kleinkindalters um 60 Prozent. (vgl. Huttenlocher/Dabholkar, 1997)
Bevor im nächsten Kapitel genauer betrachtet wird, wie sich die digitalen Technologien auf das sich entwickelnde Gehirn konkret auswirken können, soll zuvor auf das große Potenzial der modernen Neurobiologie eingegangen werden, das neben den medizinischen Implikationen im Themenspektrum Gehirn und Lernen einzuordnen ist.
Zur Jahrtausendwende erschien in den führenden wissenschaftlichen Fachzeitschriften eine Flut an Bildern und Artikeln zu den bildgebenden Verfahren des Gehirns. Gerade die eindrucksvollen Bilder von aufleuchtenden Gehirnregionen boten für die heutigen Medien scheinbar schnelle und einfache Erklärungen für hochkomplexe Gehirnphänomene, sodass vielerorts Kritiker »von der neuen Phrenologie sprachen. […] Zurückhaltung bei der Interpretation ist angezeigt, will man die Fehler der vergangenen zehn Jahre nicht wiederholen« (Waytz/Mason, 2013, S. 48). Anstelle einer Wissenschaft von den aufleuchtenden Gehirnregionen zur Jahrtausendwende untersuchen die modernen Neurowissenschaften in den letzten Jahren, wie Netzwerke verschiedener Gehirnregionen zusammenarbeiten. Dass das Netzwerk des Fadenwurms Caenorhabditis elegans aus 302 Neuronen mit 5.000 (chemischen) Synapsen besteht, wurde von White et al. bereits 1986 nachgewiesen, doch erweist sich das menschliche Gehirn mit seinen 100 bis 120 Milliarden Neuronen, die über 100 Billionen Synapsen miteinander verbunden sind, als weitaus komplexer. Dennoch wird im Human Connectome Project[4] versucht, die Herkulesaufgabe zu vollbringen, das menschliche Konnektom, also die Gesamtheit aller Verbindungen im Gehirn, zu kartieren. (vgl. Abbott, 2014; vgl. Seung, 2013; vgl. Sporns, 2013) Bereits 15 Netz- und Unternetzwerke konnten identifiziert werden, von denen vier von den meisten Neurowissenschaftlern einhellig akzeptiert worden sind: das Belohnungs-, das Emotions-, das Kontroll- und das Ruhestandsnetzwerk. (vgl. Waytz/Mason, 2013) Doch wie wirken sich die modernen digitalen Technologien auf die Entstehung und Entwicklung dieser neuronalen Netzwerke aus, die nicht nur für das Lernen essenziell sind?