Читать книгу Hotel Budapest, Berlin ... - Thomas Sparr - Страница 10
Zwischen Ost und West
ОглавлениеLukács’ Grandhotel jedenfalls liegt im Westen. Elf Monate bevor er das Vorwort für sein epochales Jugendwerk schrieb, hatte sich der Eiserne Vorhang in eine Mauer verwandelt, die von einem Sonntag im August 1961 an Ost- von Westberlin trennte. Gab es während der 1950er Jahre immer noch einen Austausch durch Reisen, Bücher, Zeitschriften, bedeutete die neue Grenze vollständige Abriegelunggen Westen, am meisten spürbar im ganz geteilten Berlin, aber auch in Budapest, das nun seine Grenze nach Österreich aufrüstete. Und der Ton der literarischen, philosophischen oder historischen Auseinandersetzung wurde schriller.
Ein weiteres weltpolitisches Ereignis sollte die Welt 1962 in Atem halten: die Kubakrise. Die Sowjetunion hatte nach der Stationierung von amerikanischen Mittelstreckenraketen in der Türkei auf Kuba unter Fidel Castro Raketen stationiert, auch mit atomaren Sprengköpfen, die unmittelbar die USA bedrohten. Kennedy stellte ein Ultimatum, auf das Chruschtschow schließlich einging. Die UdSSR zog ihre Raketen ab. Im Oktober des Jahres wurde ein atomarer Krieg der beiden Großmächte abgewendet.
Im gleichen Jahr reist ein 33-jähriger junger Mann aus Budapest zum ersten Mal nach Berlin. Imre Kertész jedenfalls datiert in der Rückschau von fast vier Jahrzehnten die Reise auf dieses Jahr. Sein Nachlass lässt vermuten, dass sie erst 1964 stattfand. Als Autor ist der junge Mann noch nicht hervorgetreten; er hat Musicaltexte und Operetten verfasst. Es ist nicht seine erste Reise nach Deutschland; die Deutschen hatten ihn 1944 nach Auschwitz und Buchenwald deportiert. Eine Reise wird man das Verfrachten in Deportationszügen allerdings nicht nennen. Viele Jahre später hat sich Kertész auf die Suche nach Spuren seiner Zeit in den beiden deutschen Konzentrationslagern gemacht. Am Flughafen Schönefeld erkennt er, gerade mit dem Flugzeug aus Budapest gelandet, in den Uniformen der Grenzsoldaten die seiner Bewacher in den Lagern. Tatsächlich zitierte die Nationale Volksarmee die Uniformen der Wehrmacht bedenkenloser als die gleichzeitig aufgebaute Bundeswehr im Westen des geteilten Landes. Auch hier wird man archivarisch einhalten: Ist der junge Imre Kertész wirklich mit dem Flugzeug angekommen? Von der Reise 1964 hat sich jedenfalls ein Rückfahrtticket Jena–Budapest mit der Reichsbahn erhalten. Aber wer weiß, ob er nicht die Hinreise mit dem Flugzeug angetreten hatte? Und ganz sicher können wir nicht ausschließen, dass der Reisende schon zwei Jahre früher in Ostberlin war. Seine Reiseeindrücke sind kalendarisch unsicher, in Bildern und Assoziationen messerscharf.
»Pourquoi Berlin?«, warum er nach Berlin gezogen sei, das erklärt Imre Kertész Jahrzehnte später seinen Lesern zuerst auf Französisch und erinnert sich dabei an den Aufenthalt in der Halbstadt, die ungewöhnliche Wärme im Frühjahr 1962 (1964), »alles war ein wenig unwirklich«, und er fährt fort:
»Wir wohnten in einem alten Hotel in der Friedrichstraße. In der Bar im Erdgeschoss stand eine elegante blonde Bardame hinter dem Tresen. Sie war ungewöhnlich gereizt. Immer wieder erzählte sie ihre Geschichte, an die ich mich heute nicht mehr genau erinnere. Das Wesentliche daran war, dass sie infolge irgendeines unglücklichen Zufalls hier in der östlichen Hälfte der Stadt festsaß und ihre Lage hoffnungslos war. ›Hoffnungslos‹, wiederholte sie immer von neuem. Wäre ich nicht aus Budapest gekommen, wäre ich erstaunt gewesen über die Offenheit – oder war es vielleicht Verbitterung? –, mit der sie ihrer Wut und Verachtung gegenüber dem Regime freien Lauf ließ; so aber hatte ich längst gelernt, dass sich Barmixer in einer Diktatur so manches erlauben dürfen, was den Gästen nicht erlaubt ist.«
»Hoffnungslos«, dieses Wort hat sich Imre Kertész eingeprägt, und er erinnert, dass zu jener Zeit der Teilung – und es würde eine lange Zeit des geteilten Himmels – Berlin in den Augen vieler Gäste der Stadt die europäischste Stadt des Kontinents zu sein schien, »und das gerade durch die bedrohte Lage« und die Teilung des Kontinents, die er ganz in der Nähe seines Hotels zu sehen bekam:
»Wenn man in Ostberlin über die Leipziger Straße ging, in die von ›drüben‹, vom Tickerband des Springer-Hochhauses, die verbotenen Nachrichten der freien Welt herüberblinkten, befiel einen das trügerische Gefühl, dass nicht Westberlin, sondern dass ganze, diesseits der Mauer beginnende und sich bis zum Eismeer erstreckende mächtige monolithische Reich ummauert war. Nie werde ich jene sommerliche Abenddämmerung vergessen, als ich verloren am Ende dieser wüstengrauen Welt stand, auf dem Boulevard Unter den Linden, und die Straßenabsperrungen, die Wachposten mit den Hunden, die über die Mauer ragenden Dächer der ›drüben‹ neugierig auftauchenden Touristenbusse betrachtete und die soeben aufgleißenden Scheinwerfer die Schande meiner totalen Knechtschaft unmittelbar zu beleuchten schienen.«
Westberlin, die Ruine der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche von der Budapester Straße aus gesehen, 1958.
Budapest vor der Kettenbrücke, ein Kiosk mit DDR-Magazinen, 1960er Jahre
1962 hatte Kertész noch kein eigenes Werk verfasst, aber der Blick auf die wachhabenden Soldaten in Schönefeld verrät schon, wie sehr er zu jener Zeit mit dem Roman eines Schicksallosen befasst war, dem Roman seines Lebens.
Warum Berlin? Kertész’ Antwort 2001 lässt sich in einem Satz zusammenfassen: »Berlin verhehlt seine schreckliche Vergangenheit nicht.« Nur war diese Vergangenheit da bereits sichtbarer, deutlicher anzuschauen und zu vernehmen als vierzig Jahre zuvor. Ein Jahr später erhielt Kertész den Nobelpreis für Literatur zugesprochen. Die Nachricht traf ein, als er in Berlin war. Das Wissenschaftskolleg richtete für seinen überraschten, etwas verlegenen, doch erfreuten Gast eine Pressekonferenz aus. Bald darauf würde er im Abgeordnetenhaus erklären, warum er in Berlin lebe.
Auf der anderen Seite, im Westen der Stadt, hatte Peter Szondi, wie Kertész 1929 in Budapest geboren, Ende Januar 1962 auf den »Berliner Universitätstagen« einen Vortrag gehalten, der wegweisend für seine Disziplin werden sollte: »Zur Erkenntnisproblematik der Literaturwissenschaft«, später unter dem Titel »Über philologische Erkenntnis« veröffentlicht. Szondi entwickelt darin eine Hermeneutik, die auf die spezifische Form des jeweiligen literarischen Werks achtet und den wissenschaftlichen Anspruch seiner Disziplin ästhetisch formuliert.
Man würde sich wünschen, dass Imre Kertész und Peter Szondi einander begegnet wären, aber schon die Grenze zwischen Ost und West hätte das verhindert. Ein Passagierabkommen zwischen den beiden Teilstädten, das die Grenze von West nach Ost etwas durchlässiger machte, gab es erst im Jahr darauf. Zudem war Peter Szondi 1962 meist in Heidelberg und Göttingen, wo er Professuren vertrat, ehe er 1965 nach Westberlin zog. Auch dann hat Peter Szondi, wie die meisten Emigranten aus dem Osten, seinen Fuß nicht auf die andere Seite der Stadt gesetzt, wo sein Onkel lebte, und schon gar nicht wäre er noch einmal nach Budapest gereist.
Ivan Nagel arbeitete im Sommer 1962 seit einem Jahr als Dramaturg in den Münchner Kammerspielen. Bei Lukács hatte er noch in Budapest Vorlesungen gehört. Gehörtes wie Gelerntes wurden zur Theaterpraxis. Zwei weitere Lehrmeister hat Ivan Nagel immer wieder genannt: Adorno und den Regisseur Fritz Kortner.
Arnold Hauser, der acht Jahre jüngere Weggefährte von Lukács, mit ihm seit Budapester Tagen befreundet und im »Sonntagskreis« besonders verbunden, lehrte zu jener Zeit, nach Jahren der Emigration in Deutschland, Österreich, in Italien wie in den USA, allein, auf sich gestellt in London. In langen Nächten, ohne sicheren Beruf, hat der Emigrant die Sozialgeschichte der Kunst begründet.
Lukács’ Assistentin Ágnes Heller, wie Kertész und Szondi 1929 in Budapest geboren, war seit vier Jahren mit Berufsverbot belegt und unterrichtete 1962 an einem Mädchengymnasium der Stadt ungarische Literatur. Mit ihren Schülerinnen gründete sie einen »Selbstbildungsverein«, in dem verschiedene Ansichten diskutiert wurden. Sie stellten Romanhelden wie Raskolnikoff »vor Gericht«. Es gab eine Anklage, eine Verteidigung und eine Jury. Diese lebendige Didaktik und Dialektik des gemeinsamen Lesens hat den Schülerinnen in Budapest gefallen und sagt schon viel über das Philosophieren von Ágnes Heller aus: Es setzt aufs Selberdenken, keine Doktrin. Ein Jahr später wechselte die Philosophin ans Institut für Soziologie, keine Selbstverständlichkeit im Budapest jener Zeit. Das Institut wurde liberal geführt und nahm die eigenwillige Denkerin gern auf.
Und in London schließt um diese Zeit eine Psychoanalytikerin die Behandlung einer jungen Frau ab, die als Kind das Konzentrationslager überlebt hat: Edit Gyömrői heißt die Analytikerin. Sie hat die Welt von Budapest kommend über Wien, Berlin, Prag, Ceylon, Los Angeles, wieder Asien und schließlich London durchquert. Sie könnte sich nun mit 65 Jahren zur Ruhe setzen, aber das wird sie noch lange nicht tun. Sie wird noch lange weiter behandeln, handwerklich arbeiten und, was sie von Beginn als eigentliche Berufung empfand, schreiben.
1962 erschien im Aufbau-Verlag in Ostberlin Das Judenauto von Franz Fühmann: »Vierzehn Tage aus zwei Jahrzehnten«, Erinnerungen an eine Kindheit im heraufziehenden Nationalsozialismus, eindringlich an der Schwelle von Einbildung und Realität, Bilder und Vorstellungen einer ganzen Generation. In dieser Erzählung fährt ein Auto durchs Riesengebirge, um an einem der wenig befahrenen Wege »Mädchen einzufangen und zu schlachten und aus ihrem Blut ein Zauberbrot zu backen; es sei ein gelbes, ganz gelbes Auto […] mit vier Juden drin, vier schwarzen mördrischen Juden mit langen Messern, und alle Messer seien blutig gewesen, und vom Trittbrett habe auch Blut getropft, das hätten die Leute deutlich gesehen, und vier Mädchen hätten sie bisher geschlachtet, zwei aus Witkowitz und zwei aus Böhmisch-Krumma«. So lebendig war der Mythos des ermordeten christlichen Kindes in einer Schulklasse zu Beginn der 1930er Jahre. Er hat den Autor ein Leben lang nicht losgelassen. In Böhmen geboren, im späteren Sudentenland aufgewachsen, hat ihn seine frühe Begeisterung für den Nationalsozialismus ein Leben lang verfolgt. Von 1949 an lebte er in der DDR, engagierte sich politisch und wurde zu einem der bedeutenden Autoren des Landes.
Jahre später, Anfang der siebziger Jahre, macht sich der empfindsame Chronist auf den Weg nach Budapest, das ihm wie eine Gegenwelt zu Ostberlin erscheint, aus dem er kommt, dem er, politisch enttäuscht, entflieht: Zweiundzwanzig Tage oder die Hälfte des Lebens. So nennt er sein Buch.