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Sommer in Budapest

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Ans Ende seines Vorworts, das er seiner Theorie des Romans voranstellt, setzt der ungarische Philosoph Georg Lukács »Budapest, Juli 1962«. Die wenigen Seiten sind in ebenso makellosem Deutsch verfasst wie das ganze Buch, das im Jahr darauf im Luchterhand Verlag in Darmstadt und Neuwied erscheinen sollte, im kapitalistischen Ausland, wie man damals auf den Westen blickend hinzufügte. Im Sommer 1962 erinnert Lukács an einen anderen Sommer, als er seine Theorie des Romans in Heidelberg entworfen hatte. Es war der Sommer 1914, der mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs die Ordnung der Welt aus den Angeln hob und das 20. Jahrhundert grundstürzend veränderte. »Selig sind die Zeiten, für die der Sternenhimmel die Landkarte der gangbaren und zu gehenden Wege ist und deren Wege das Licht der Sterne erhellt« – lautet der erste Satz einer der berühmtesten Theorien der Literatur, mit dem Pathos der Zeit und dem Anspruch letzter oder zumindest langer Gültigkeit. Lukács liest im Roman, in der Erfindung des 19. Jahrhunderts, die »transzendentale Obdachlosigkeit«, den Anbruch einer unseligen und doch von Freiheit beseelten Zeit – und die Seele hat man ganz wörtlich zu nehmen, einer Zeit, für die die Landkarten neu gezeichnet werden müssen. »Der Kreis, in dem die Griechen metaphysisch leben, ist kleiner als der unsrige: darum können wir uns niemals in ihn lebendig hineinversetzen.« Wir können in der geschlossenen Welt der Antike nicht mehr atmen, schreibt der 29-Jährige. Wir haben die Produktivität des Geistes erfunden. Nirgendwo zeigt sich das Prinzip des offenen, schöpferischen Gestaltens so deutlich wie im Roman, in seiner Vielfalt, seiner Originalität wie Individualität, in seinen reichen, überbordenden Variationen, in dem, was nicht vorhersehbar, was neu ist. Der Verlust des transzendentalen Dachs bedeutet einen Bodengewinn an erzählerischen Formen, Stockwerken von Inhalten, eine Architektur des Offenen, der unabgeschlossenen Entwürfe.

Dass Georg Lukács – genauer: von Lukács – seine Romantheorie im Sommer 1914 entworfen hatte, ist so wenig Zufall wie der Ort: Heidelberg war am Vorabend des Ersten Weltkriegs ein geistiges Zentrum von unvergleichlicher Ausstrahlung, mit Max Weber und seinem Kreis, Stefan George und seinen Jüngern, mit Friedrich Gundolf und Karl Jaspers, um nur sie zu nennen. In den Jahren zuvor hatte Lukács in Berlin studiert, bei Georg Simmel Vorlesungen gehört.

In seinem neuen Vorwort blickt Lukács auf die Entstehung seiner Theorie des Romans fast ein halbes Jahrhundert zuvor zurück, vorwurfsvoll, entschuldigend, rechtfertigend, was seinen Idealismus betrifft, seine vermeintliche Blindheit gegenüber historischen Umständen. Ausgelöst sei Die Theorie des Romans von der Erschütterung des Ersten Weltkriegs gewesen. Als Marianne Weber, die Frau des Heidelberger Soziologen, einzelne Heldentaten des Kriegs anführte, erwiderte der junge Ungar: »Je besser, desto schlimmer.« In jedem möglichen Sieg sah er die Niederlage. Sein Text entstand in einem Augenblick permanenter Verzweiflung über den Weltzustand. Der denkbare Ausgang des Krieges führte zu der Frage: »Wer rettet uns vor der westlichen Zivilisation?« Und Lukács fügt in Klammern hinzu: »(Die Aussicht auf einen Endsieg des damaligen Deutschland empfand ich als einen Alpdruck.)«

Die Neuausgabe der Theorie des Romans war 1962 für eine westdeutsche Leserschaft bestimmt. In Ungarn oder den anderen sozialistischen Ländern hätte sein Buch gar nicht erscheinen dürfen. Das erklärt den defensiven, fast entschuldigenden Ton, den der Verfasser voranstellt, um seine Schrift aus Zeitumständen und Stimmungen zu erklären, die er vor allem einer jüngeren Leserschaft nahebringen will. Andererseits sperrt er sich nicht gegen die neue Ausgabe nach Jahrzehnten, und man spürt beim Rückblick eine stolze Selbstbehauptung. »Die Theorie des Romans ist nicht bewahrenden, sondern sprengenden Charakters«, schreibt der 77-Jährige und grenzt sich besonders von Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen ab, von einer »Kriegsschrift« voll von restaurativer Gesinnung, die 1918 erschienen war. In dieser Schrift rechtfertigt Thomas Mann Deutschlands Rolle im Ersten Weltkrieg, den Krieg überhaupt, die Besetzung Belgiens. Er spielt die westlichen »Zivilisationsliteraten« gegen die ernste deutsche Kunst aus, eine Kriegskunst. Diese Betrachtungen nimmt Lukács als Gegenbuch zu seiner Theorie des Romans wahr. Er sieht in seinem Buch nicht Ruinen, sondern den Sprengsatz seiner Jugend, in der Nähe zu Ernst Blochs Geist der Utopie, ein epochemachendes Buch, das zur gleichen Zeit entstanden war.

Thomas Mann wiederum wird Georg Lukács ein literarisches Denkmal setzen: Als Leo Naphta kehrt er im Zauberberg wieder, eine eigene faszinierende Verwandlung, nachdem beide Herren einander in den 1920er Jahren begegnet waren und sich noch einmal an einem symbolträchtigen Ort unter historisch ganz anderen Vorzeichen wieder treffen sollten: 1955 in Weimar, wo die DDR an Schillers 150. Todestag erinnerte. Lukács reiste aus Budapest an.

Man hat sich über die Jahrzehnte daran gewöhnt, den frühen vom späten Lukács zu unterscheiden, oft auch beide gegeneinander auszuspielen, den Essayisten gegen den Marxisten, den Lebensphilosophen gegen den Systematiker, den freien Autor gegen den Politiker. Das Späte hat man dabei früh datiert, auf sein Buch Geschichte und Klassenbewußtsein, das 1923 erschien. In Wirklichkeit ist der frühe Lukács vom späten nicht zu trennen. Die Impulse des Revolutionären, Sprengenden sind schon in den ersten Aufsätzen und impressionistischen Skizzen angelegt, wie Lukács auch von Beginn an nach dem Sozialen in der Kunst fragt. All das führte zu gravierenden methodischen Veränderungen, zu neuen Erkenntnissen, auch zu einem ganz neuen Stil. Die Emphase, ja das Pathos der frühen Jahre wich einer grauen Sprache der späteren Arbeiten von Lukács. Das Doktrinäre hielt Einzug. Man darf darüber nicht die Bedeutung von Georg Lukács vergessen.

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