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Die Seele und die Formen

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1911 erscheint in Berlin eine Sammlung von Essays unter dem Titel Die Seele und die Formen. Ihr Verfasser Georg von Lukács hatte einige der Aufsätze vorab schon auf Ungarisch in der Zeitschrift Nyugat veröffentlicht, der Westen. Genau in diese Himmelsrichtung strebten die Zeitschrift wie Lukács’ Beiträge. Sie handeln von Novalis, von Stefan George, der Wiener Moderne, von Kierkegaard, Theodor Storm, von allem, was von Budapest aus gesehen westlich lag. Und an den Anfang stellte der junge Autor einen Brief an seinen früh verstorbenen Freund Leo Popper, in dem er über die Form der nachfolgenden Beiträge meditiert: den Essay. Lukács nennt ihn eine Kunstform: »In der Wissenschaft wirken auf uns die Inhalte, in der Kunst die Formen; die Wissenschaft bietet uns Tatsachen und ihre Zusammenhänge, die Kunst aber Seelen und Schicksale.« In den Schriften des Essayisten, also seinen, schreibt Lukács, werde die Form zum Schicksal. Die Seele nimmt in den Formen der Kunst Gestalt an. Der Essay, so heißt es am Schluss der Einleitung, »ist eine Kunstart, eine eigene restlose Gestaltung eines eigenen, vollständigen Lebens. Jetzt erst klänge es nicht widerspruchsvoll, doppelsinnig und wie eine Verlegenheit, ihn ein Kunstwerk zu nennen und doch fortwährend das ihn von der Kunst Unterscheidende hervorzuheben: er steht dem Leben mit der gleichen Gebärde gegenüber wie das Kunstwerk, doch nur die Gebärde, die Souveränität dieser Stellungnahme kann die gleiche sein, sonst gibt es zwischen ihnen keine Berührung.«

Gegen diese Form des Essays erhob die Schulphilosophie erhebliche Einwände, Max Weber riet dem Autor, »in rein logischer, sozusagen juristisch-praeciser Form den Sinn Ihrer Grundbegriffe« zu entfalten, ein »Skelett straffen Denkens«. Genau das wollte aber Lukács nicht. Er hielt an der Kunstform fest, die den Inhalt vorgibt.

Immer nämlich geht es in seinen Essays um seelische Zustände, die zu ästhetischen Formen kristallisieren, zu erkennbaren Aggregatzuständen der historischen Wirklichkeit. Der Essayist stellt sie deutlich heraus: Es sind der typische Dichter und der Platoniker bei Rudolf Kassner, ein bedeutender Kulturphilosoph jener Zeit, die Trennung als entscheidende Geste und Gebärde bei Sören Kierkegaard, der sich von seiner Verlobten lossagt, die Bürgerlichkeit bei Theodor Storm, Einsamkeit und Kälte als ein Zusammenhang bei Stefan George, die Sehnsucht bei Charles-Louis Philippe, der Tod bei Richard Beer-Hofmann als ein Grundmotiv von dessen Epoche, die Rolle von Gott in den Tragödien von Paul Ernst.

In jedem dieser Essays sind es die ersten Sätze, die wirkungsvoll und kräftig das Folgende orchestrieren: »Denn immer und überall bin ich Menschen begegnet, die außerordentlich gut ein Instrument spielten, ja in ihrer Weise auch komponierten und im Leben dann, draußen von ihrer Musik nichts wußten. Ist das nicht merkwürdig?« Mit dieser Frage von Rudolf Kassner hebt der erste Aufsatz von Lukács an und stellt Kassners Grundzug heraus, das Wesentliche zu sehen:

»Er vermag mit so suggestiver Kraft, Dinge nicht zu sehen, daß sein Blick die Menschen aus ihrer Hülse schält und wir von dem Augenblick an die Hülse als Spreu empfinden und nur das als wichtig, was er als Kern betrachtet. Eine der Hauptkräfte Kassners liegt darin, daß er so vieles nicht sieht. Die Kategorien des täglichen Lebens und der schablonenhaften Geschichtsschreibung existieren für ihn einfach nicht.«

Oft stellt Lukács eine Frage, die, wie in seinem Essay über Richard Beer-Hofmann, im Grunde auf eine ganze kurz gefasste Skizze der Wiener Moderne hinausläuft:

»Jemand ist gestorben, was ist geschehen? Nichts vielleicht, und vielleicht alles. Vielleicht wird es nur der Schmerz von ein paar Stunden, Tagen, vielleicht Monaten, und dann ist alles wieder ruhig und das alte Leben geht weiter. Vielleicht zerreißt etwas in tausend Fetzen, das einmal wie Zusammengehörigkeit aussah, vielleicht verliert ein Leben mit einem Schlage all seinen hineingeträumten Inhalt, oder es blühen vielleicht neue Kräfte aus unfruchtbaren Sehnsüchten. Vielleicht fällt etwas zusammen, vielleicht baut sich etwas anderes auf, vielleicht geschieht keines von beiden und vielleicht beides. Wer weiß es? Wer kann es wissen?

Jemand ist gestorben. Wer war es? Es ist einerlei. Wer weiß, was er dem Andern war, dem Jemand, dem Allernächsten, dem ganz Fremden? Ob er ihnen jemals nahe war? Ob er darin war in ihrem Leben? Ob er in Jemandes Leben war, in irgend jemandes wirklichem Leben? Oder war er nur der mutwillig umhergeschleuderte Ball seiner verspielten Träume, nur das Sprungbrett, das einen irgendwohin aufschnellt, nur die einsame Mauer, an der sich eine ewig fremde Pflanze empor rankt? Und wenn er Einem wirklich etwas war, was war er ihm, wie und womit? Mit seiner Eigenart Gewicht und Wesen, oder durch Gaukelbilder geschaffen, durch ein unbewußt gesprochenes Wort oder eine zufällige Geste? Was kann ein Mensch dem andern Menschen sein?«

Wenn man diese Sätze liest, fragt man sich unwillkürlich: Woher nimmt ein gerade 23-Jähriger solche Einsichten, solche Fragen. Im Wesentlichen aus dem, was er liest, aber auch erlebt und erleidet? Es sind zwei Schicksalsschläge: Leo Popper, der nächste Freund jener Zeit, an den er den einleitenden Brief richtet, stirbt vor Drucklegung des Buchs an Tuberkulose, Irma Seidler, mit der Lukács eine leidenschaftliche Liebe verband, wohl die erste, die scheiterte, stürzte sich in die Donau. Ihrem Andenken hat Georg sein erstes Buch gewidmet.

Es zeichnet ein Epochenbild der Jahrhundertwende und bezieht dabei den Autor als Betrachtenden mit ein. Darin liegt die große Souveränität seines Buches. Den Zusammenhang von Einsamkeit, betont kultivierter Einsamkeit und Kälte in Georges Gedichten hat der junge Kritiker als Erster herausgestellt, bevor er in Berührung mit dem Dichter und seinem Kreis in Heidelberg kam. Es gelingt Lukács, »aus wenigen, zumeist bloß intuitiv erfassten Zügen einer Richtung, einer Periode etc. synthetisch allgemeine Begriffe zu bilden, um dann deduktiv zu den Einzelerscheinungen herabzusteigen und so eine großzügige Zusammenfassung zu erreichen«, wie er selber sein Verfahren beschreibt, ein Verfahren der großzügigen Zusammenfassung. In seinem Essay über Novalis gibt Lukács ein Bild der Frühromantik:

»Jena am Ende des achtzehnten Jahrhunderts. Eine Episode im Leben weniger Menschen, welche für die große Welt nur von episodischer Bedeutung waren. Überall dröhnt die Erde von Schlachten, vom Zusammenbruch ganzer Welten, aber in einer kleinen deutschen Stadt kommen ein paar junge Menschen zusammen, zu dem Zwecke, aus diesem Chaos eine neue, harmonische, alles umfassende Kultur zu schaffen. Sie stürmen darauf los mit jener unbegreiflichen, tollkühnen Naivität, die nur krankhaft bewußten Menschen gegeben ist und diesen auch nur in einer Sache ihres Lebens und auch hier wieder nur für wenige Augenblicke. Es war ein Tanz auf glühendem Vulkan, es war ein strahlend unwahrscheinlicher Traum; nach vielen Jahren mußte die Erinnerung daran in der Seele eines Zuschauers als etwas verwirrend Paradoxes leben. Denn bei allem Reichtum des von ihnen Erträumten und Ausgestreuten ›lag dennoch etwas Ruchloses im Ganzen‹. Ein geistiger Babelturm sollte errichtet werden, Luft wäre sein ganzer Unterbau gewesen; er mußte einstürzen, aber in seinen Erbauern brach auch alles mit seinem Sturze zusammen.«

Im Bild von der Zusammenkunft einiger junger Menschen in Jena, vom geistigen Babelturm, von der Hybris erkannte sich der junge Autor selbst und antizipierte den Zusammenbruch.

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