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1918

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Im Leben von Georg Lukács bildet das Jahr 1918 wie für alle Ungarn und die meisten Europäer die entscheidende Zäsur: das Ende des Ersten Weltkriegs mit seinen Verwerfungen, erst recht für das Königreich Ungarn, das später im Vertrag von Trianon zwei Drittel seines Landes und ein Drittel seiner Bewohner an Rumänien und an seine anderen Nachbarländer verlieren wird, das Ende der K.-u.-k.-Monarchie, das schon der Tod des Kaisers Franz Joseph 1916 eingeläutet hatte, mit ihm endete eine Regentschaft, die über ein halbes Jahrhundert eine Balance im Riesenreich gehalten hatte. Dessen Auflösung setzte ein zerstörerisches Potenzial frei. Auch die Wanderung von Ost nach West nahm 1918 eine entscheidende Wendung. Wien betrachtete man schon als ungarisch, Paris war früher ein Sehnsuchtsort für Ungarn; nun wurde es Berlin mehr denn je. Der Schriftsteller Mór Jókai wusste schon 1878 aus der Reichshauptstadt zu berichten:

»Die herzliche Aufnahme, die mir in den Berliner Schriftstellerkreisen ständig zuteilwurde, ist zu neun Zehntel nicht meiner eigenen literarischen Arbeit, sondern der Sympathie meiner Nation gegenüber zu verdanken. Nach der kühlen Aufnahme (kühl bis ins Herz hinab) durch die Wiener Redakteure und Kollegen, berührte mich die freundschaftliche Sympathie der Berliner Schriftsteller wie ein Zaubermärchen. Namhafte, weltberühmte Dichter, deren Werke auf dem Erdenrund in jeder Sprache gelesen werden, hoben uns nach der ersten Begegnung zu sich empor und überhäuften uns mit so vielen wahren Zeugnissen der Freundschaft und Sympathie, dass dieser mir bis dahin ›unbekannte‹ Genuss mich hätte berauschen können, hätte ich nicht gewusst, dass ich den Löwenanteil meiner Nation nach Hause zu bringen habe.«

Ein optimistischer Auftakt nach der zweifachen, der ungarischen wie deutschen Nationenwerdung, dem Ausgleich zwischen Österreich und Ungarn 1867 als Geburtsstunde der K.-u.-k.-Monarchie und der Gründung des Deutschen Reiches 1871, die beide bis 1918 bestanden. Wohl keine andere Nation haben die Deutschen so aufmerksam, freundlich und aufgeschlossen aufgenommen wie die Ungarn. Reichskanzler Otto von Bismarck empfing den in seiner Heimat populären Mór Jókai 1874 in Berlin, wo ihm seine Schriftstellerkollegen nach eigenem Bekunden so überaus freundlich begegneten. Er war zu Gast bei Ferenc Wallner, dem das nach ihm benannte Theater gehörte und der sich von Berlin aus um die Verbreitung ungarischer Literatur, ungarischen Theaters und ganz allgemein der Kultur des Landes bemühte. Der Berliner ungarische Verein bereitete dem Autor aus Budapest ein Abendessen, zu dem rund hundert Ungarn zusammenkamen: »Junge und Alte, reiche Unternehmer und arme Gewerbetreibende, Lehrlinge und Handwerker, Künstler und stattliche Damen. Und in dem mit den Fahnen in den Nationalfarben geschmückten Saal herrschte ungarische Laune, Rákóczy-Marsch, Csárdás, ungarische Trinksprüche und echte ungarische Weine dank der Großzügigkeit des generösen Mäzens der hiesigen Ungarn, Hoffman (Militärlieferant), dessen schöne stattliche Tochter mich mit einer angenehm klingenden ungarischen Gratulation empfing. Dieser Abend war die empfindsamste Freude meines Aufenthaltes in Berlin.«

Unter den verschiedenen Abstufungen von »Ausland« gebe es für Ungarn immer eine, die »Westen« bedeutet, »der Westen: das ferne, wunderschöne Licht und der gärende Sauerteig«, schreibt Aladár Komlós in der auf Ungarisch erscheinenden Wiener Ungarischen Zeitung während eines Aufenthalts in Berlin 1923. Über Jahrzehnte war der ferne, lockende Westen Paris: »Für uns ist heute Berlin unser Paris: eine Stadt, die bislang keine Rolle in der ungarischen Kulturgeschichte gespielt hat. Die Spree ist unsere Seine. Wird dieser Fluss wohl die ungarischen Felder fruchtbar machen?«

»Nekünk ma Berlin a Párizsunk« – »Unser Paris ist heute Berlin« – so hieß eine Ausstellung, die das Literaturmuseum Petőfi in Budapest und die ungarische Botschaft in Berlin 2007/8 nacheinander an beiden Orten zeigten. Drei Jahre zuvor gab es im Budapester Literaturmuseum die Ausstellung »Paris lässt nicht los« zu sehen. Die zweite Ausstellung dementiert scheinbar die erste. In Wirklichkeit aber betont sie den Zusammenhang des ungarischen Wunschbilds vom Westen, in dem Paris und Berlin, Spree und Seine, ständig miteinander verglichen wurden. Würde die Spree, so hatte Komlós gefragt, die ungarischen Felder fruchtbar machen. Aus der Rückschau von einhundert Jahren könnte man die Frage genau umgekehrt beantworten: Die Donau floss durch Berlin und machte über genau ein Jahrzehnt die deutschen Felder fruchtbar. Und damit kehren wir an die Donau, nach Budapest zurück.

In den Jahren nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867, die von einer rasanten wirtschaftlichen Entwicklung geprägt waren, verabschiedete das ungarische Parlament das Gesetz, das Juden Gleichberechtigung gewährte. Ein formal wichtiger Schritt in einem Land, das immer wieder antisemitische Vorkommnisse erschütterten, wie sie es auch in Frankreich und Deutschland taten, denken wir an den später berühmt gewordenen Berliner Antisemitismusstreit, den Heinrich von Treitschke 1879 vom Zaun brach, eine Auseinandersetzung um die Teilhabe von Juden an der deutschen Gesellschaft der Kaiserzeit.

Mit der Gleichberechtigung setzte unter den Budapester Juden der Prozess der Magyarisierung ein. 1881 gaben 59 Prozent der Budapester Juden als ihre Muttersprache Ungarisch an, statt Deutsch, Jiddisch oder andere Sprachen die Grenzen des Königreichs entlang, zehn Jahre später waren es über 85 Prozent. Das zog zwei markante Veränderungen im Budapester Stadtleben nach sich: Um 1900 gab es in Budapest keine deutschsprachigen Theater mehr und nur noch eine deutschsprachige Zeitung, die allerdings in ganz Europa verbreitet war: Pester Lloyd, der seit 1854 zweimal am Tag als Morgen- wie Abendausgabe erschien. Doch in den bürgerlichen, jüdischen Kreisen wurden die deutsche Sprache und Kultur über die Jahrhundertwende hinweg kultiviert. Der Autor und Übersetzer Marcell Benedek, ein enger Schulfreund von Lukács, überliefert 1918 die Anekdote von einer Gesellschaft, die einige Jahre zuvor in Budapest zusammenkam:

»Ein junger Mann fragte ihn: ›Und im Herbst fahren Sie nach Kulturien zurück? Glücklicher Mensch! Ich rate Ihnen, bleiben Sie da!‹ Wenn ich das tun könnte! Als das Wort Kulturien fiel, verbreitete sich der Glanz des Heimwehs auf den Gesichtern der Anwesenden. Deutschland … Berlin. Bei den Salonabenden der Familie bezeichnete man Deutschland als Kulturien und beinahe alle sprachen dieses Wort gen Himmel gewandten Blickes, mit einem verliebten Ton aus.«

In diesem Sehnsuchtsort etablierte sich von 1900 an ungarische Kultur. Es gab die Monatsschrift Jung Ungarn, »eine dicke und schöne deutsche Revue, die in Berlin bei der angesehenen Verlagsgesellschaft Cassirer erscheint«, wie der damals federführende ungarische Kritiker Ignotus bei ihrem Erscheinen 1911 zu berichten wusste: »Eine Lektüre, die den Ungarn interessiert, weil sie von ungarischen Themen handelt, den Fremden wiederum, weil seinem Interesse bislang unbekannte und nicht erahnte Dinge nahegebracht werden – auch stößt sie auf inniges Interesse des Deutschen, denn die Fäden der Jahrhunderte alten, in Wirklichkeit Jahrtausende alten ungarisch-deutschen Zusammenhänge werden hier mit besonderem Fingerspitzengefühl ertastet. Dem entspricht die Aufmerksamkeit, die der neuen Revue nicht nur bei uns zu Hause, sondern auch in Berlin entgegengebracht wird.«

Woher Ignotus Jahrtausende der ungarisch-deutschen Zusammenhänge hernimmt, bleibt rätselhaft, aber das Unternehmen einer solchen Monatsschrift, auch wenn sie nur kurzlebig war, zeugt von der lebendigen ungarischen Präsenz in Berlin. Elek Falus hatte sie genauso gestaltet wie die Zeitschrift Nyugat, der Westen. Eine graphische Brücke zwischen Budapest und Berlin, zwischen Ost und West.

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