Читать книгу Hotel Budapest, Berlin ... - Thomas Sparr - Страница 9

Menschen im Hotel

Оглавление

Der Titel Hotel Budapest klingt nach Komfort, Reisen, heiterem Verweilen, nach Kurzweil. Für die Protagonisten dieses Buches wurde Berlin, der Westen überhaupt ein langer Aufenthalt, oft einer ohne Rückkehr. Das Hotel hat eine tiefere Bedeutung, als es auf den ersten Blick scheint. Im Budapester Sommer 1962 erhebt Lukács den Vorwurf, »die deutsche Intelligenz« – und damit meint er vor allem die Frankfurter Schule – sei in einem Grandhotel abgestiegen:

»Ein beträchtlicher Teil der führenden deutschen Intelligenz, darunter auch Adorno, hat das ›Grand Hotel Abgrund‹ bezogen, ein […] ›schönes, mit allem Komfort ausgestattetes Hotel am Rande des Abgrunds, des Nichts, der Sinnlosigkeit. Und der tägliche Anblick des Abgrunds, zwischen behaglich genossenen Mahlzeiten oder Kunstproduktionen, kann die Freude an diesem raffinierten Komfort nur erhöhen.‹«

Das »Grand Hotel Abgrund«, das Lukács erfindet oder, um es genau zu sagen: das er wieder findet, hat es zu einiger Berühmtheit gebracht. Stuart Jeffries wählte es 2016 zum Titel für sein Buch Grand Hotel Abyss über die Frankfurter Schule und ihre Zeit. Der eigentliche Antipode von Lukács’ Sätzen ist Theodor W. Adorno. Der Frankfurter Soziologe und Philosoph, eine Generation jünger, hatte vier Jahre zuvor eine scharfe Polemik gegen ein Buch von Lukács verfasst, das 1958 im Claassen-Verlag in Düsseldorf, also im Westen erschienen war: Wider den mißverstandenen Realismus. Von dem, was Lukács als sozialistischen Realismus schätzt, trennen Adorno Welten und Werke. Adorno schätzt all das, was den Realismus in der Kunst im landläufigen Sinn hinter sich lässt, also deutlich gezeichnete Figuren, soziale Szenen, historische Ereignisse. Samuel Becketts Stücke etwa zeigen für Adorno deutlicher das Reale, Individuelle. Seinen Aufsatz »Versuch, das Endspiel zu verstehen« hat er Samuel Beckett gewidmet. Der Zufall hat es gefügt, dass dieser Text in den Gesammelten Schriften gleich nach der harschen Kritik an Lukács abgedruckt ist.

Adorno rühmt Lukács’ frühe Schriften und deren Einfluss: »Die Theorie des Romans zumal hat durch Tiefe und Elan der Konzeption ebenso wie durch die nach damaligen Begriffen außerordentliche Dichte und Intensität der Darstellung einen Maßstab philosophischer Ästhetik aufgerichtet, der seitdem nicht wieder verloren ward.« In Lukács’ neuem Buch Wider den mißverstandenen Realismus sieht der Frankfurter Kritiker indessen kaum mehr als eine Gleichschaltung mit »dem trostlosen Niveau der sowjetischen Denkerei«, in der These von der »Widerspiegelung der objektiven Wirklichkeit« entdeckt er einen verbissenen Vulgärmaterialismus, macht eine Pedanterie des Duktus wie eine Schlamperei im Einzelnen aus, mit der Lukács den Realismus verteidige und Joyce, Beckett, auch Proust kritisiere, weil sie jedenfalls nach Lukács’ Urteil die Fühlung zur Wirklichkeit verloren hätten.

Dabei überrascht, dass Adorno Lukács’ Buch überhaupt mit einer so ausführlichen Kritik bedenkt oder sagen wir: beehrt. Diese Energie lässt auf enttäuschte Nähe schließen. Lukács war ein Lehrmeister des Philosophen und Soziologen, ja ein Idol seiner Jugend. Adorno hat die Freiheit im Denken, in Stil und Methode des jungen Lukács bewundert, seine souveräne Verbindung von Literatur und Soziologie, sein souveränes Setzen von Begriffen. Es sind Donnerwörter wie Freiheit, Form oder Seele, alles Wörter, die wir heute, wenn überhaupt, nur noch mit größter Vorsicht verwenden. 1924 hatte der junge Philosophie- und Musikstudent Adorno Lukács in Wien besucht. Und erst recht verbindet den Jüngeren mit dem Älteren die Form des Essays, der beide nachsinnen.

Auf die scharfe Kritik seines enttäuschten Schülers antwortet Georg Lukács vier Jahre später, als sich die historische Situation zwischen Ost und West noch einmal verändert hat. Aber »Grand Hotel Abgrund« hieß auch ein Aufsatz von Lukács aus dem Jahr 1933. In jenem Aufsatz fragt er nach dem Zuhause der Kulturschaffenden der Epoche, für die die bürgerliche Gesellschaft einen gewissen Komfort bereitstellt, um sie über ihre reale Lage am Rande des Abgrunds, vor dem sie stehen, hinwegzutäuschen, um die Illusion des Über-den-Klassen-Stehens, des eigenen Heroismus zu bewahren, die Illusion, mit der bürgerlichen Kultur bereits gebrochen zu haben:

»Der geistige Komfort des Hotels konzentriert sich nun um die Stabilisierung dieser Illusionen. Man lebt in diesem Hotel in der ausschweifendsten geistigen Freiheit: Alles ist erlaubt, nichts ist der Kritik entzogen. Für jede Art der radikalen Kritik – innerhalb der unsichtbaren Grenze – gibt es besonders eingerichtete Räume. Will man für eine ideologische Patentlösung aller Kulturprobleme eine Sekte gründen, so stehen entsprechende Versammlungsräume zur Verfügung. Ist man ein ›Einsamer‹, der von allen unverstanden allein seinen Weg sucht, so erhält man sein wohleingerichtetes Extrazimmer, in dem man, von jeder Kultur der Gegenwart umgeben, ›in der Wüste‹ oder in der ›Klosterzelle‹ leben kann. Das Grand Hotel ›Abgrund‹ ist für jeden Geschmack, für jede Richtung vorsorglich eingerichtet.«

Dieses Hotel ist ein Ort der absichtsvollen Täuschungen, vor allem der unbeabsichtigten Selbsttäuschungen der Künstler, Musiker, Schriftsteller wie Schriftstellerinnen und ihrer Theoretiker. Nach rund dreißig Jahren verortet Lukács Theodor W. Adorno ebendort, antwortet aber auch auf dessen Kritik. Zwei Herren vor einer Öffentlichkeit, die sie ins Erstaunen versetzt hätte; man weiß nur nicht recht, ob es damals überhaupt eine Öffentlichkeit gab, die diese Dimension der Auseinandersetzung wahrgenommen hat.

Hotel Budapest, Berlin ...

Подняться наверх