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Zwanzig Jahre später.

Deir el-Bahari, Ägypten

Der Wüstensand knirschte unter Hannahs Schuhen, als sie den gewundenen Pfad emporstieg. Ein kühler Wind strich vom Nil herauf und fuhr raschelnd durch das Schilf, das rechts und links des Weges stand. Einige ausgefranste Wolken hingen träge am Himmel, der zu dieser frühen Stunde von unzähligen Mauerseglern bevölkert wurde. Hier unten im Tal war es noch dunkel, aber das Morgenlicht streifte bereits die Ränder des Plateaus, hinter dem die Wüste begann. Von irgendwo wehte der Gesang des Muezzins herüber.

Es würde wieder ein heißer Tag werden.

Die Archäologin blieb kurz stehen. Sie fuhr sich mit den Händen durch die Haare und band ihre widerspenstige rotbraune Lockenpracht mit einem Gummi zu einem Pferdeschwanz zusammen. Man hatte ihr schon oft Komplimente wegen ihres Aussehens gemacht, aber sie gab nichts auf solche Äußerlichkeiten. Hier in der Wüste war gutes Aussehen völlig bedeutungslos. Viel wichtiger waren ein scharfer Verstand und eine ausgeprägte Beobachtungsgabe. Sie wusste, dass man früh aufstehen musste, wenn man nicht in die Mittagsglut geraten wollte. Es war eine alte Angewohnheit von ihr, kurz vor Sonnenaufgang aufzustehen. Sowohl die Morgenstunden als auch die Zeit, wenn die Sonne wieder hinter dem Horizont verschwand, waren für Hannah die schönste Zeit des Tages. Für sie, die sich seit annähernd fünfundzwanzig Jahren mit den Schätzen vergangener Kulturen beschäftigte, hatte die Vergänglichkeit ihren eigenen Reiz. Die Vergänglichkeit des Tages ebenso wie die von Kulturen, ja ganzer Epochen. Es waren diese Momente, die sie den unablässigen Strom der Zeit am deutlichsten spüren ließen.

Sie ging in die Hocke, nahm eine Handvoll Sand und ließ ihn durch ihre Finger rieseln. Die feinen Körner glitzerten in der Sonne.

Hannah spürte die Jahrtausende, die in diesen Kristallen lagen. Was hatten diese Körner schon alles gesehen! Den Aufstieg und Fall von Imperien, von Kulturen, die immer mächtiger wurden, ehe sie wieder im Nebel der Zeit verschwanden. Was sie hier mit der Hand fühlte, war pure, unverfälschte Geschichte, und sie spürte das Geheimnis, das in jedem einzelnen dieser Kristalle lag.

Man hatte ihr immer nachgesagt, dass sie über eine besondere Gabe verfüge, eine Gabe, die es ihr ermöglichte, zum Kern der Dinge vorzustoßen – die Wahrheit darin zu erkennen. Ob das stimmte, wusste sie bis zum heutigen Tage nicht. Klar war nur, dass sie nicht wie andere Menschen war.

Sie blies den Sand von ihren Fingern und hob den Kopf. Die Luft war erfüllt von Modergeruch, ein Geruch, der ihr selbst nach einer Woche Ägypten immer noch fremd war. Der Nil roch, man konnte es nicht anders ausdrücken. Er überzog das Land mit einer Duftglocke, die nur an kühleren Tagen etwas an Intensität verlor. Das Wasser stank, die bewachsenen Uferzonen stanken, die Bewässerungsgräben stanken, ja selbst die Felder verströmten diesen unangenehmen Fäulnisgeruch. Andererseits – dies war der Geruch der Fruchtbarkeit. Ohne das träge dahinfließende Wasser, ohne den fruchtbaren Schlamm, der in jüngerer Zeit immer mehr durch Düngemittel ersetzt wurde, hätte es niemals das Reich der Pharaonen gegeben, wären niemals die gewaltigen Bauwerke entstanden, die sich, einer Perlenkette gleich, den Fluss entlangzogen.

Der Nil. Längster Fluss der Erde. Ein breites Band aus schlammigem Grün, das sich über sechstausend Kilometer quer durch den Kontinent zog. Sein Geruch war der Preis für den Wohlstand, den er brachte. Auch heute noch garantierte er reiche Erträge und einen nicht abreißenden Strom bildungswütiger Pauschaltouristen. Der Nil war das Leben, die Quelle, die Hauptschlagader inmitten dieses trockenen und unfruchtbaren Landes. Ohne ihn gäbe es hier nichts. Dafür konnte man den Gestank schon fast wieder lieben.

Hannah überquerte eine kleine Kuppe und sah unvermittelt ihr Ziel vor sich liegen. Ein Hügel, der sich, einer Burganlage gleich, vor die steile Abbruchkante geschoben hatte und das Flussbett von der dahinterliegenden Wüste trennte. Hier endete jegliche Vegetation. Die wenigen Felder oberhalb des Plateaus waren nicht der Rede wert. In Hannahs Augen wirkte ihre Anwesenheit ohnehin unpassend. Sie waren Teil eines Projekts zur Neuerschließung von Land, das jedoch aus Kostengründen nur halbherzig verfolgt wurde. Pumpen kosteten Geld, und wenn man sie abschaltete, war es nur eine Frage der Zeit, bis die Wüste sich ihr Territorium zurückeroberte. Der Felsen, der sich wie eine Nase vorwölbte, beherbergte eine der schönsten ägyptischen Tempelanlagen überhaupt. Eine Anlage, deren Geheimnisse erst in den sechziger Jahren vollständig entschlüsselt wurden. Es war die Zeit, in der das gesamte obere Niltal dem Assuanstaudamm zum Opfer fiel. Weniger eine Zeit der Archäologen denn eine Zeit der Architekten und Ingenieure. Immerhin ging es darum, einige der bedeutendsten Baudenkmäler der Welt zu versetzen. Die Verlegung von Abu Simbel oder Sakkara verschlang Unsummen und erforderte den Sachverstand eines ganzen Heeres von Technikern. Es war nur natürlich, dass sich das Interesse der Weltöffentlichkeit auf diese Mammutprojekte richtete und dabei übersah, dass nebenan weiterhin interessante Neuentdeckungen gemacht wurden. Eine dieser Entdeckungen betraf den Tempel der Hatschepsut in Deir el-Bahari. Die gewaltige Anlage lag im Westteil von Theben, das dem berühmten Tal der Könige vorgelagert ist. Für Hannah war dieser Tempel so interessant, weil er einige Darstellungen enthielt, die ihr bei der Lösung eines aktuellen Problems helfen sollten. Ein Problem, das nur am Rande mit Ägypten oder der Wüste zu tun hatte. Ein Problem, bei dem sie Hilfe brauchte.

John Evans erwartete sie am obersten Absatz der Tempelanlage. Der Wind zauste seine Haare, während er da stand, die Hände in die Hosentaschen gesteckt, und beobachtete, wie sie die zweimal einhundertzwanzig Stufen zu ihm hinaufstieg. Sein Gesicht lag im Schatten, doch sie konnte erkennen, dass er lächelte. Die Monate in der Wüste hatten ihm gutgetan. Braun und schlank war er. Welch ein Gegensatz zu ihr, die sie das letzte Jahr in Deutschland verbracht hatte. Wehmütig dachte sie an die Zeit zurück, als sie selbst in der Sahara geforscht hatte, auf der Suche nach urzeitlichen Felsmalereien.

»Guten Morgen«, sagte er, als sie nur noch wenige Meter entfernt war. Er streckte ihr seine Hand entgegen, die sie nur kurz ergriff und schnell wieder losließ. Wenn er enttäuscht war, ließ er es sich nicht anmerken.

»Ist das nicht herrlich hier, zu so früher Stunde?«, fragte er, die Hände wieder in den Hosentaschen vergrabend. »Wie du siehst, habe ich eine Sondergenehmigung zum Betreten der Anlage bekommen. Keine Touristen, keine Fremdenführer, kein Gerenne, kein Geschrei – nur wir beide. Nicht schlecht, oder?« In seinen mandelbraunen Augen blitzte es auf. »Fast wie in alten Zeiten.«

Hannah überging den Kommentar mit einem kurzen Lächeln. Sie hatte nicht vor, sich von ihrem ehemaligen Lebensgefährten aus der Reserve locken zu lassen. John und sie hatten sich vor über einem Jahr während einer Expedition in der Sahara kennengelernt. Damals hieß er noch Chris Carter, doch das war nur ein Deckname gewesen. John gehörte zu jenem Menschenschlag, der nichts dem Zufall überließ, nicht mal seine Identität. Er war ein Allroundtalent. Promovierter Klimatologe, Spezialist für Astroarchäologie und bewandert in sämtlichen Naturwissenschaften. Vor allem aber war er Jäger. Ein moderner Schatzsucher, der sich fortwährend auf der Jagd nach archäologischen Relikten befand. Sein Chef war der Milliardär Norman Stromberg, eine Größe in der internationalen Wirtschaft und ein Mann, dessen Ruf ebenso legendär war wie der des berühmten Howard Hughes. Strombergs Gespür für seltene Funde war beinahe ebenso phänomenal wie sein Riecher für gute Geschäfte. Er war nicht nur einer der wohlhabendsten und einflussreichsten Männer der Welt, sondern auch einer der bedeutendsten Kunstsammler. Und genau darum ging es bei Johns Arbeit, um das Aufspüren von Kunstschätzen. Er war Strombergs Spürhund, sein Scout, wie man diese Leute in der Branche auch nannte.

Stromberg hatte seine Leute rund um den Erdball im Einsatz. Wo immer Gerüchte von neuen Funden die Runde machten, waren sie zuerst da. Manchmal sogar, ehe die zuständigen Behörden davon Wind bekamen. Sie waren autorisiert, Kunstwerke aufzukaufen oder sich auf irgendeine andere Art die Besitzrechte zu sichern. Und ihre Mittel waren unerschöpflich. Inzwischen gehörten dem Milliardär Höhlen in Südfrankreich, Paläste in Indien, Tempel in Japan sowie Schiffe, die mitsamt ihren Schätzen in den Tiefen des Meeres versunken waren. Sein Hunger auf Relikte mit geheimnisvoller Vergangenheit war ebenso groß wie sein Bankkonto, und das wollte bei diesen Dimensionen schon etwas heißen.

Hannah war fest entschlossen, sich von Johns Charme und seinem guten Aussehen nicht einwickeln zu lassen. »Es ist viel geschehen im letzten Jahr«, sagte sie. »Ich stecke bis über beide Ohren in Arbeit und werde deshalb nicht lange bleiben können. Nur eine schnelle Information, dann bin ich auch schon wieder weg.« Sie merkte, dass ihr Ton ein wenig zu schroff war, und fügte etwas milder hinzu: »Danke, dass du gekommen bist. Ich weiß das wirklich zu schätzen.«

»Ich bin es, der zu danken hat«, sagte John, und Hannah meinte einen rosigen Schimmer über seine Wangen huschen zu sehen. »Du weißt gar nicht, wie sehr ich mich auf diesen Moment gefreut habe. Tausend Dinge wollte ich dir sagen, tausend Fragen stellen. Aber kaum stehst du vor mir, ist alles wie weggeblasen. Verrückt, oder? Ich hatte gehofft, dass wir vielleicht reden könnten …«

»Tun wir das nicht gerade?« Hannah wusste genau, worauf er hinauswollte. Seit einem Jahr herrschte Funkstille zwischen ihnen. Er war damals von Washington aus in die Sahara gereist, um für Stromberg Ausgrabungen im nigerianischen Aïr-Gebirge zu leiten, sie hingegen war – nach einer kurzen Phase, in der sie feststellen musste, wie sehr sich die USA in den Jahren nach dem elften September verändert hatten – nach Deutschland zurückgekehrt. Sie folgte damit einer Einladung des Museums für Ur- und Frühgeschichte des Landes Sachsen-Anhalt, dessen Direktor Hannahs Verdienste um die außergewöhnlichen Saharafunde zu Ohren gekommen waren. Kaum in Halle angekommen, hatte er ihr ein Projekt angeboten, das sie unmöglich ausschlagen konnte. Ein Projekt, das so einzigartig war, dass die Forschung sich über dessen wahre Dimensionen immer noch nicht im Klaren war. Die Himmelsscheibe von Nebra. Der aufregendste Fund der letzten hundert Jahre für die europäische Frühgeschichte.

Welcher Archäologe bekam keine glänzenden Augen, wenn die Sprache auf dieses annähernd viertausend Jahre alte Fundstück kam? Wer hätte bei einem solchen Angebot nicht gleich zugegriffen? Doch hätte sie jemals ahnen können, dass sich die Entschlüsselung dieses kleinen Blechtellers als dermaßen schwierig erweisen würde. Ein Dreivierteljahr zäher Forschung lag hinter ihr. Verbittert hatte sie irgendwann einsehen müssen, dass sie allein nicht weiterkam. Sie brauchte Hilfe. Und der Einzige, der über das nötige Fachwissen verfügte und verfügbar war, war John.

Ausgerechnet!

Sie musste daran denken, wie sie sich kennengelernt hatten, gar nicht weit von hier, in Algerien. Die Erinnerung tat weh.

»Ich habe bis heute nicht verstanden, warum du damals so sang- und klanglos gepackt hast und abgereist bist«, sagte John, als habe er ihre Gedanken erraten. »Es gab nicht den geringsten Grund dafür.«

Hannah verdrehte die Augen. Ihr hätte klar sein müssen, dass er nicht aufgeben würde. Nicht John. »Ich habe es dir doch erklärt«, sagte sie. »In E-Mails, in Briefen und am Telefon. Über Seiten hinweg habe ich dir meine Beweggründe zu erklären versucht. Wenn dir das immer noch nicht reicht, kann ich dir auch nicht helfen.« Sie spürte, wie das schlechte Gewissen sich in ihr meldete.

»Nein, du hast recht«, sagte er, und seine Stimme bekam einen traurigen Tonfall. »Ich habe es wirklich nicht verstanden. Aber nur, weil du nie über Gefühle gesprochen hast. Du hast mir erklärt, dass wir zu verschieden seien, um eine dauerhafte Beziehung zu haben. Du sagtest, du würdest mein Verlangen spüren, nach Afrika zurückzukehren, und wärst der Meinung, ich würde nur dir zuliebe in Washington bleiben. Ein Almosen sozusagen, ein Opfer aus Mitgefühl. Und du hast gesagt, dass du unter diesem Druck keine Beziehung führen könntest. Das alles hast du mir mitgeteilt, ohne mir eine Chance zu einer Erwiderung zu geben. Du hast diese Dinge in mich hineininterpretiert, ohne mich jemals zu fragen, wie ich dazu stehe. Wahrscheinlich hast du davor zurückgescheut, weil du genau wusstest, wie meine Antwort ausfallen würde.«

»Ich wollte dir nicht weh tun«, sagte Hannah. Sie hasste es, von John durchschaut zu werden. Er war einer der wenigen, die das konnten. »Ich kannte dich gut genug, um zu wissen, dass du liebend gerne Strombergs Angebot, die Ausgrabungen im Niger zu leiten, angenommen hättest. Du bist nur meinetwegen geblieben.«

»Es war nicht fair, einfach so zu gehen, und das weißt du«, sagte John mit gepresster Stimme. »Du hast nie offen mit mir darüber gesprochen. Du hast für dich die Karten ausgelegt und danach gehandelt. Mich in den Entscheidungsprozess mit einzubeziehen, dieser Gedanke ist dir wohl nicht gekommen. Wenn du mich fragst, warst du zu lange in der Wüste.«

Hannahs Augen funkelten. »Was soll denn das wieder heißen?«

»Das heißt, dass du über Jahre hinweg darauf angewiesen warst, eigene Entscheidungen zu treffen. Und genau das hast du wieder getan. Vielleicht war dir das Leben mit mir zu eng, zu klein, zu bürgerlich – wer weiß? Was immer der Grund war, du hast entschieden, dass du so nicht leben möchtest, und danach gehandelt. Einsam und allein, wie du es immer getan hast. Aber du warst nicht allein, du warst mit mir zusammen. Ich habe dich geliebt, Hannah, und das tue ich immer noch. Was du getan hast, war einfach nicht fair.«

Die Worte verhallten im Wind, der um die steinernen Pfeiler strich und kleine Staubwolken vor sich herwehte. Von irgendwoher erklang der klagende Schrei eines Falken.

»Können wir jetzt bitte zur Sache kommen?« Sie hatte einen Kloß im Hals. Ihr war klar, dass er die alte Geschichte aufkochen würde – das war der Preis, den sie für seine Hilfe zahlen musste. Sie hatte nur nicht gewusst, dass es so weh tun würde.

John zuckte die Schultern und sagte mit einem Seufzen: »Na schön. Du hast mir geschrieben, es ginge um Sterne und dass du meine Hilfe brauchst. Also, hier bin ich. Was genau willst du?«

Hannah zog eine Abbildung der Sternenkarte aus ihrer Umhängetasche und reichte sie John. Das Foto hatte zwar ein paar Eselsohren abbekommen, aber das Motiv war immer noch beeindruckend schön.

John stieß einen Pfiff aus. »Ich will verdammt sein. Darum geht es also. Willst du mir etwa erzählen, dass du gerade daran arbeitest?«

»Ich bin die Projektleiterin«, sagte Hannah, nicht ohne Stolz.

»Wow!« John warf ihr einen anerkennenden Blick zu. »Du mischst gleich ganz oben mit. Respekt. Und wie geht die Arbeit voran? Ich hoffe, es ist nicht zu einfach für dich.«

»Du kennst mich doch. Einfach ist nicht mein Stil.«

»Wohl wahr«, grinste John. »Die Himmelsscheibe ist frühe Bronzezeit, richtig?«

Hannah nickte. »Eine Kultur, über die wir so gut wie nichts wissen, nicht mal ihren Namen.«

»Und sie haben nichts Schriftliches hinterlassen.«

»Der Kandidat hat hundert Punkte.« Hannah war froh, endlich das leidige Trennungsthema hinter sich zu lassen und mit ihrer Arbeit fortzufahren. »Wenn wir wenigstens Tontafeln oder etwas Ähnliches hätten. Aber bisher Fehlanzeige. Wenn in dieser Zeit überhaupt etwas geschrieben wurde, dann auf Material, das die Zeit nicht überdauert hat.«

»Das Problem haben wir heute auch«, ergänzte John mit einem ironischen Lächeln. »Bücher, CDs, Zeitungen, nichts davon wird in tausend Jahren noch existieren. Wir werden eine Kultur sein, über die sich kommende Generationen gehörig den Kopf zerbrechen werden – wenn es dann überhaupt noch Menschen gibt.«

»Alles, was wir über sie wissen, müssen wir uns anhand von Grabbeigaben wie Kelchen, Schwertern und Schmuckstücken zusammenreimen. Reichlich wenig, wenn man nicht weiß, wie man diese Objekte interpretieren soll. Stell dir mal vor, in tausend Jahren fände jemand ein Kruzifix. Das Abbild eines Menschen, den man an ein Kreuz genagelt hat. Wahrscheinlich würde man davon ausgehen, einen Verbrecher vor sich zu haben. Warum sonst würde man einen Menschen so leiden lassen? Wer käme schon auf die Idee, dass es sich dabei um Gottes Sohn handelt? Genauso ist es auch bei bronzezeitlichen Abbildungen. Wir können nur raten.«

Seufzend blickte sie auf die Fotografie. Die etwa dreißig Zentimeter große Himmelsscheibe bestand aus grün oxidiertem Kupfer, und ihre Vorderseite stellte einen stilisierten Sternenhimmel aus Blattgold dar. Die Ränder waren punktiert und an manchen Stellen ausgefranst. Insgesamt ließen sich zweiunddreißig Sterne zählen, die ungeordnet über die gesamte Fläche verteilt waren. Hinzu kamen ein sichelförmiger Mond und eine großflächige Scheibe, bei der es sich möglicherweise um die Sonne handelte.

Zwei deutlich abgesetzte Begrenzungsstreifen auf der rechten und linken Hälfte der Scheibe legten die Vermutung nahe, dass dieses Instrument seinerzeit zu Himmelsbeobachtungen benutzt wurde. Am richtigen Standort eingesetzt, markierten sie den Sonnenaufgang beziehungsweise -untergang während der Sonnenwende. Es konnte sich also durchaus um eine Art Kalender handeln, der es ermöglichte, die exakten Jahreszeiten und somit die günstigsten Termine für Aussaat und Ernte festzulegen. Er markierte den Wechsel der Jahreszeiten, der Monate, des Vergangenen und des Künftigen. Ein unermesslicher Schatz für ein Volk, das ohne Uhren und Kalender lebte. Dass es dabei nicht um eine primitive Art von Bauernkalender ging, ließ sich daran ermessen, dass jegliche Form von Kultivierung und Bepflanzung in der frühmenschlichen Mythologie eine tiefe religiöse Bedeutung hatte. Befruchtung, Wachstum, Tod. Der ewige Kreislauf des Lebens. Es war diese Verbindung zwischen Mensch und Kosmos, die in der Himmelsscheibe ihre bildliche Darstellung fand. Und somit stand sie, wie auch derjenige, der sie zu lesen vermochte, in direktem Kontakt mit den Göttern.

»Was ist das?« John deutete auf ein längliches, gebogenes Symbol, das mit den Symbolen für Sonne und Mond ein gleichschenkliges Dreieck bildete. Das Blattgold wurde an dieser Stelle durch parallele Linien strukturiert.

»Das ist einer der Gründe, warum ich hier bin.« Hannah strich sich eine Locke aus dem Gesicht. »Dieses Zeichen hat mich überhaupt auf die Ägypter gebracht. Siehst du, wie dieses gekrümmte Ding zwischen der Sonne und dem Mond hin- und herzufahren scheint?«

John nahm ihr die Fotografie aus der Hand und betrachtete sie aufmerksam. »Könnte eine Sonnenbarke sein. Ein Schiff, das vom Morgengrauen bis zum Sonnenuntergang über den Himmel kreuzt«, flüsterte er.

»Genau mein Gedanke«, sagte Hannah. »Sieh mal: Die angedeutete Maserung auf der Seite. Sie unterstreicht den Eindruck von Holz in der Schiffsbeplankung.«

Seine Augen wanderten über jeden Zentimeter der Abbildung. »Hol mich der Teufel«, murmelte er. »Du könntest tatsächlich recht haben. Die Sonnenbarke ist eines der wichtigsten Symbole in der altägyptischen Mythologie. Sollte es wirklich eine Verbindung zwischen den Ägyptern und den Schöpfern der Himmelsscheibe gegeben haben? Aber dazwischen liegen dreitausend Kilometer. Luftlinie, wohlgemerkt.«

»Unvorstellbar, ich weiß.« Hannah lächelte. »Trotzdem. Es müssen irgendwelche Handelsbeziehungen bestanden haben. Eine Theorie, über die schon seit Jahren spekuliert wird. Mit dem Symbol der Sonnenbarke hätten wir den ersten wirklich schlagenden Beweis.«

In Johns Augen begann es zu leuchten. »Deshalb der Tempel der Hatschepsut. Jetzt beginne ich zu verstehen.« Er packte Hannahs Hand und zog sie mit sich fort. »Das, wonach du suchst, ist gleich hier drüben«, sagte er. »Komm.«

Nebra

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