Читать книгу Nebra - Thomas Thiemeyer - Страница 14

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Auf einem Felsplateau, hoch über den Wipfeln eines Fichtenwaldes gelegen, stand ein seltsamer Mann. An die zwei Meter groß und breit wie eine Eiche, wirkte er, als würde er den letzten Rest des Tageslichts förmlich aufsaugen. Mit der rechten Hand auf einen mannshohen Stab gestützt, links eine Keule haltend, die aus dem Oberschenkelknochen eines Bären geschnitzt war, verharrte er völlig regungslos am Rande eines Abgrunds und blickte in die Ferne. Eine Krone aus Wurzeln, aus der die Hörner eines Rehbocks ragten, zierte seinen Kopf. Seine Arme und Hände waren mit Streifen aus Leder und gewalkten Pflanzenfasern umwickelt. Das Haar war zu fettigen Strähnen verflochten und klebte an seinem Kopf. Sein Gesicht, das mit einer dicken Schicht aus Lehm und Asche bedeckt war, verlieh ihm das Aussehen eines wilden Tieres. Das einzig Menschliche an ihm waren seine Augen. Ein Hauch von Wehmut lag in ihnen, als er beobachtete, wie die Landschaft unter seinen Füßen in der Dunkelheit versank.

Der Mann war ein Priester, ein heiliger Mann, ein Schamane. Ein Relikt aus einer Zeit, in der es in dieser Gegend noch Wölfe, Bären und Eulen gegeben hatte. Ein Überbleibsel einer längst vergangenen Epoche.

Wie in den meisten Teilen der Welt hatte der Fortschritt auch in seinem Land Einzug gehalten, hatte die alten Werte und Traditionen verdrängt und durch Wissenschaft und Fortschritt ersetzt. Nur der Schamane war geblieben. Wie ein Fels in der Brandung stand er da und trotzte den Veränderungen der Welt.

Im blassen Licht des Abends flammten nach und nach Lichtpunkte auf. Erst langsam, dann mit zunehmender Geschwindigkeit wurde das Land von einem Netz aus Helligkeit überzogen. Lichterketten zeigten an, wo sich eine Straße befand, leuchtende Haufen kündeten von einer Ortschaft. Kaum ein Fleck, der nicht besiedelt war. Es dauerte nicht lange, da war das ganze Land unter ihm ein Meer aus leuchtenden Punkten.

Als abzusehen war, dass es nicht dunkler werden würde, wandte er sich um. Der Mond war als beinahe vollständige Scheibe über die Bergkuppe gestiegen, bereit, seinen Weg über das nächtliche Firmament anzutreten. Das Licht, das er spendete, genügte dem Schamanen, um den Weg zu finden. Er hätte ihn auch in vollkommener Dunkelheit nicht verfehlt, kannte er doch jeden Stein und jeden Grashalm dieses geweihten Landes. Ein kühler Wind kam auf und vertrieb die letzten Wolkenfetzen vom Haupt des heiligen Berges. Die ersten Sterne kamen zum Vorschein, flackernd und blinkend wie die Lagerfeuer der Götter. Eine Nacht, wie geschaffen für eine Anrufung.

Der Schamane verließ den Pfad und wandte sich nach rechts. Nicht weit entfernt lag eine Höhle, dorthin wollte er gehen. Er musste jetzt vorsichtig sein, denn seine Schuhe aus Birkenrinde waren ungeeignet, um damit auf rutschigem Geröll zu gehen. Schon von weitem konnte er sehen, dass jemand in der Höhle ein Feuer entzündet hatte. Ein heller Schein drang aus einer Öffnung in der Felswand und tauchte den unteren Bereich der Böschung in gelbes Licht. Der Geruch von frisch verbrannten Zweigen stieg ihm in die Nase. Sie war also bereits vor ihm angekommen. Das wunderte ihn nicht. Sie nahm die Anrufungen ernst, mehr noch als er selbst. Hätte man Glaube und Hingabe in eine Waagschale legen können, so wäre das Pendel zu ihrer Seite ausgeschlagen. Doch er empfand keinen Neid. Sein eigener Glaube war immer noch stark genug, um den meisten Versuchungen zu trotzen. Doch wer hätte ermessen können, dass es so lange dauern würde. Zwanzig Jahre waren seit dem letzten Beschwörungsversuch vergangen. Zwanzig Jahre auf der Suche nach Antworten. Zwanzig Jahre des Fastens, der Entbehrung und der Selbstaufgabe. Eine unvorstellbar lange Zeit, wenn man im Verborgenen leben und das Dasein eines Schattens führen musste.

Doch damit war es nun vorbei. Wenn die Runen nicht trogen, so stand ihnen in den kommenden Tagen ein neues Fenster offen. Alles, was sie jetzt noch benötigten, war ein Zeichen.

Als er die Höhle erreichte, sah er die zwei Wächter, die rechts und links des Eingangs kauerten. Fast hätte er sie nicht bemerkt, so sehr verschmolz die Farbe ihres Fells mit dem Grau der Felswand. Reglos hockten sie da und starrten ihn aus ihren kalten Augen an. Ihn schauderte. Die Hand um seinen Stab gekrallt, senkte er den Kopf und schob die Matte aus Gras und Zweigen, die den Höhleneingang versperrte, beiseite. Die Augen vor der plötzlichen Helligkeit schließend, trat er ein.

Der schwere Geruch verbrannter Kräuter schlug ihm entgegen. Ein rot flackerndes Feuer warf zuckende Schatten an die Wände.

»Du bist da.«

Es klang eher wie eine Frage denn wie eine Feststellung. Die Frau, die mit weit ausgebreiteten Armen vor dem Feuer kniete, hob ihren Kopf.

»Ich habe dich erwartet.«

Die Seherin bot wie immer einen erstaunlichen Anblick. Obwohl sie dieses heilige Amt schon viel länger innehatte als er, war sie wie immer bestrebt, sich zu jeder Zeremonie ein anderes Aussehen zu verleihen. Heute war sie als Vogel gekommen. Schwarze Federn klebten auf ihren nackten Schultern und zogen sich über den gesamten Rücken hinab. Ihre sonst grauen Haare waren schwarz gefärbt und mit Lederbändern zu Dutzenden von kleinen Zöpfen geflochten. Bronzene Glöckchen klingelten in ihnen bei jeder Bewegung ihres Kopfes. Auf ihr Gesicht hatte sie mit Hennafarbe Eulenfedern gemalt, die sie wie einen Vogel aussehen ließen. Auf ihrem Kopf thronte eine Tiara aus Laub und Beeren, das Zeichen ihrer Priesterwürde. Die messerscharfen Zähne, die ihr mit fünfzehn, während des Initiationsritus, zugespitzt worden waren, unterstrichen ihr raubtierhaftes Aussehen.

»Der Mond ist eben erst aufgegangen«, sagte er.

Die Erklärung schien der Seherin zu genügen. Sie nickte knapp und winkte ihn zu sich heran.

Der Mann trat ans Feuer und ließ seinen Blick in die Runde schweifen. Ganz in der Tradition der Ahnen war die Höhle von oben bis unten geschmückt. Geweihe, Felle und Knochen verdeckten große Teile der kargen Felswände. Viele der Knochen waren geschnitzt oder zu kostbaren kleinen Schmuckgegenständen verarbeitet worden. Bronzene Teller, Kelche und Schalen standen in Vertiefungen, die in die Felswände geschlagen worden waren. In manchen von ihnen befanden sich getrocknete Kräuter, andere waren mit dem Blut frisch erlegter Tiere gefüllt. Der Mann nickte. Es schien alles in Ordnung zu sein. Wie immer hatte die Seherin die Zeremonie mit größter Gewissenhaftigkeit vorbereitet.

»Wie lange noch?«

»Die Vorbereitungen sind abgeschlossen«, sagte sie und sah ihm dabei tief in die Augen. »Wir können mit der Anrufung beginnen.«

Der Mann runzelte die Stirn. War da etwa ein Anflug von Furcht in ihrem Blick? Er schüttelte innerlich den Kopf. Unmöglich. Die Seherin hatte sich noch nie vor etwas geängstigt. An ihrer Seite hatte er die dunkelsten Abgründe durchschritten, war in die verborgensten Winkel der menschlichen Seele vorgedrungen. Und immer war sie vorausgegangen. Was war es, das sie zurückschrecken ließ? Er wusste, dass sie die Gabe der Vorsehung hatte. Hatte sie etwa in die Zukunft geblickt?

Er wollte sie schon danach fragen, besann sich dann aber eines Besseren. Es war gefährlich, sie mit Fragen zu belästigen, wenn sie in diesem Zustand war. Gefährlich für ihn, gefährlich aber auch für das Gelingen der Anrufung.

»Gut.«

Zu einer längeren Erwiderung konnte er sich nicht durchringen. Er ließ sich ihr gegenüber auf der anderen Seite des Feuers nieder. Die Flammen waren mittlerweile in sich zusammengefallen und hatten einen Haufen roter Glut zurückgelassen. Hitze stieg empor. Der Mann merkte, wie ihm unter seiner Kleidung der Schweiß ausbrach. Die Seherin griff in eine der Schalen zu ihrer Rechten, nahm eine Handvoll Pulver und warf es in die Glut. Ein bläulicher Flammenstoß schoss empor, dann eine Wolke von betäubendem Geruch. Mit weit ausholenden Armbewegungen verteilte sie den Dampf, während sie uralte Beschwörungsformeln rezitierte. Der Mann fühlte, wie ihm der Geruch zu Kopf stieg. Nicht nur der Geruch der Kräuter, auch der ihrer Körper. Mit einem Mal schien sich die Fähigkeit seiner Nase um das Tausendfache gesteigert zu haben. Er wusste, dass die Zutaten, die während der Anrufung verwendet wurden, bewusstseinsverändernde Substanzen enthielten. Trotzdem war er jedes Mal aufs Neue von ihrer Wirkung fasziniert. Er atmete tief ein und ließ die Droge auf sich wirken.

Die Seherin wiederholte den Vorgang mit einem anderen Pulver. Diesmal leuchtete die Flamme in einem kränklichen Gelb, ehe sie in ein Grün umschlug. Der Gestank war atemberaubend. Der Mann konnte nur mit Mühe einen Hustenanfall unterdrücken. Tränen schossen ihm in die Augen. Ein stechender Schmerz breitete sich in seiner Lunge aus. Eine riesige Hand schien seinen Brustkorb zusammenzuquetschen. Für einen Moment lang glaubte er, er müsse ersticken – was, wenn man es genau betrachtete, auch beabsichtigt war. Dieser Teil der Anrufung war der schwerste. Er wurde der schwarze Tod genannt, ein Ausdruck, der eigentlich alles sagte. Es ging darum, zu sterben, wenn auch nur im Geiste. Ein Vorgang, der es dem Sterbenden ermöglichte, mit der Unterwelt in Kontakt zu treten. Keuchend und nach Luft ringend saß er da, hoffend, flehend, dass der Augenblick bald vorübergehen möge. Der Seherin schien es nicht besserzugehen. Tränen strömten aus ihren Augen, verwischten die Farbe auf ihrem Gesicht und ließen sie in Schlieren über ihre Wangen rinnen. Sie griff sich an den Hals, während sie nach Atem rang. Ihre Haut glänzte fiebrig im Schein des Feuers. Mit übermenschlicher Anstrengung und scheinbar unter großen Schmerzen ergriff sie eine weitere Schale und schleuderte ihren Inhalt in die Glut. Dabei stieß sie einen Schrei aus, der einem das Blut in den Adern gefrieren lassen konnte. Es gab eine Explosion aus roter Helligkeit, dann wurde es dunkel. Sämtliche Lichter bis auf die glühende Holzkohle verloschen.

Der Mann richtete sich auf. Der Schmerz war verschwunden, so als habe es ihn nie gegeben. Was blieb, war ein Zustand innerer Kälte. Oder war es um ihn herum tatsächlich kälter geworden? Sein Atem ging stoßweise. Vor dem schwachen Widerschein der Holzkohle bemerkte er, dass sich kleine Wolken vor seinem Mund bildeten. Er stutzte. Dann war der Temperatursturz also keine Einbildung? Ratsuchend blickte er zu der Seherin. Sie schien die Veränderung ebenfalls bemerkt zu haben. Im Schein der Kohlen glühte ihr Gesicht vor Erregung.

In diesem Augenblick geschah etwas Seltsames. Ein tiefes Grollen erklang. Der Boden unter ihren Füßen begann sich zu bewegen. Staub rieselte von der Decke, ließ sich als feiner Schleier auf Haut und Haaren nieder. Dem Staub folgten kleine Steine, die sich aus der Höhlendecke lösten und auf sie herabfielen. Schützend hielt der Schamane sich die Hände über den Kopf. Das Grollen schwoll an zu einem Donnern. Es klang, als ob sich tief unter ihren Füßen irgendwo eine Pforte geöffnet hätte. Irgendetwas schien sich Eintritt in die Welt der Lebenden verschaffen zu wollen.

Hin- und hergerissen zwischen einem Gefühl unbändiger Freude und einem alles verzehrenden Grauen, blickte er sich um. Die Schalen und Krüge in ihren Vertiefungen klirrten, manche von ihnen fielen heraus und zerbrachen beim Aufschlagen in unzählige Scherben. Geweihe lösten sich von den Wänden und stürzten herab, wobei sie einige der wertvollen Knochenskulpturen mit sich rissen. Eine Wolke aus Staub und Dreck raubte ihm die Sicht.

Es dauerte einige Augenblicke, dann war der Spuk vorbei. Die Staubschleier sanken zu Boden, die Erde beruhigte sich. Selbst die Temperatur kletterte wieder auf ein erträgliches Maß.

Stille breitete sich aus.

Der Mann und die Frau sahen sich an und nickten einvernehmlich. Es war gelungen. Zum ersten Mal seit über zwanzig Jahren hatten sie eine Antwort erhalten.

»Ein Zeichen«, murmelte die Seherin. »Genau wie es in den alten Schriften steht. Er hat uns geantwortet.«

»Was hat er gesagt?«

»Jemand wird kommen. Jemand, der uns das letzte Siegel bringen wird.« Sie schloss die Augen, drückte ihre Fingerspitzen an die Schläfen und sagte: »Eine Frau. Sie wird uns das letzte Siegel überreichen.«

Der Schamane spürte eine neue Kraft in sich. Eine Kraft, an die er schon fast nicht mehr geglaubt hatte. »Er hat geantwortet«, wiederholte er. »Die Runen haben nicht gelogen. Es ist alles wahr. Nicht mehr lange, dann erscheint sein Zeichen über dem Berg.«

Er stand auf und reichte der Seherin seine Hand.

»Komm«, sagte er, immer noch ganz überwältigt von dem unerhofften Erfolg. »Wir müssen die Frau willkommen heißen. Uns bleiben nur noch vierzehn Monde, um das Ritual vorzubereiten. Es wird Zeit.«

Nebra

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