Читать книгу Nebra - Thomas Thiemeyer - Страница 25
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Mittwoch, 23. April
Der Nebel ließ die umliegenden Felsbrocken in den frühen Morgenstunden wie gewaltige Trolle erscheinen. Finster und bedrohlich ragten sie rechts und links des Weges in die Höhe. Nass glänzende Moospolster hingen wie zottige Bärte an ihnen herab, und die Flechten wirkten wie Haare an einer Wasserleiche.
Die Feuchtigkeit schien förmlich aus dem Boden zu kriechen. Sie stieg aus jeder Öffnung, jedem Spalt und jedem Loch. Sie strich um die mächtigen Stämme der Buchen und ließ sich auf Blättern, Gräsern und Kräutern nieder wie der kalte Atem eines mächtigen Riesen.
Während Hannah den Pfad erklomm, musste sie darauf achten, nicht auf einen jener glitschigen, von Moos bedeckten Steine zu treten, die ihr immer wieder den Weg versperrten. Sie war bereits einmal abgerutscht und hatte sich trotz ihrer halbhohen Wanderschuhe den Knöchel angeschlagen. Nicht noch einmal. Zudem packte sie der Ehrgeiz, als sie sah, mit welcher Leichtigkeit Michael den Pfad erklomm. Er bewegte sich so geräuschlos und geschmeidig, als wäre er ein Teil dieses Waldes.
Zu Beginn ihrer Wanderung, am Fuß der Steinernen Renne, hatten sie noch ihre Taschenlampen gebraucht. Mittlerweile war es so hell geworden, dass es ohne sie ging. Das Licht war zwar immer noch schummerig, aber es reichte aus, um zu erkennen, in was für eine wilde Gegend sie geraten waren. Nach weiteren fünfzehn Minuten blieb sie stehen. »Warte mal einen Augenblick«, schnaufte sie. »Ich glaube, ich brauche eine kleine Pause.«
Michael blieb stehen, weiße Dampfschwaden ausstoßend. »Was denn, jetzt schon?«
»Ja«, keuchte sie. »Ich bin völlig aus der Puste.« Sie lehnte sich gegen einen mannshohen Felsen.
Lächelnd kam er zu ihr herunter. »Von mir aus gern. Gegen einen Kaffee habe ich nichts einzuwenden. Hier. Setz dich da drauf.« Er zog eine Sitzunterlage aus seinem Rucksack und blies etwas Luft hinein. »Damit holt man sich keinen kalten Hintern«, sagte er, während er die Matte auf einen Stein legte. Hannah nahm die Einladung dankbar an. Im Nu hatte er eine Thermoskanne hervorgezaubert und schenkte ihr eine Tasse duftenden Kaffee ein. Hannah nippte daran und blickte sich um.
»Schön ist es hier«, konstatierte sie, als sie fühlte, wie das warme Getränk neue Kraft spendete. »Genau so, wie ich mir den Wald in den Märchen immer vorgestellt habe. Würde mich nicht wundern, wenn hier gleich eine Horde singender Zwerge hinter dem nächsten Baum hervorkommt.«
»Höre ich da etwa Ironie heraus?« Michael schenkte sich ebenfalls eine Tasse ein. »Ich habe mich übrigens mal umgehört wegen des seltsamen Leuchtens gestern Abend. Also ein Feuerwerk war das nicht.«
»Vielleicht ein Hexensabbat«, sagte sie mit einem schiefen Lächeln. »Ein Haufen wilder Weiber, die sich schon mal für den großen Abend warm machen.«
Michael schüttelte den Kopf. »Je länger wir uns unterhalten, umso mehr frage ich mich, warum du eigentlich hergekommen bist. Aus tiefempfundener Liebe zu diesem Landstrich doch wohl eher nicht.« Ein schelmisches Grinsen umspielte seinen Mund.
Hannah lag eine flapsige Antwort auf der Zunge, doch dann entschied sie sich, ihm die Wahrheit zu sagen. Sie hatte noch nie gut lügen können. Außerdem spürte sie das tiefe Bedürfnis, sich jemandem anzuvertrauen. Jemand Außenstehendem, der nichts mit ihrem Job zu tun hatte.
»Ich gebe es zu«, sagte sie. »Dass ich hier Urlaub mache, ist nur die halbe Wahrheit. Ein Stück weit hat es mit meinem Beruf zu tun.«
»Ah.« Michael setzte sich auf den Stein neben ihr. Seine Augen leuchteten. »Ich hatte gleich so einen Verdacht und habe mich schon gefragt, wann du endlich mit der Sprache rausrückst.«
»Du hättest fragen können.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich finde, jeder sollte nur das von sich erzählen, was er wirklich preisgeben möchte. Aber dass etwas Besonderes an dir ist, das war mir gleich von Anfang an klar.«
Hannah runzelte die Stirn. »Wieso das?«
»Keine Ahnung. Nennen wir es Intuition. Ich bin ganz gut darin, Menschen einzuschätzen. Ist ein Teil meines Berufes.«
»Jetzt bin ich aber gespannt«, sagte Hannah lächelnd. »Worauf tippst du bei mir?«
Er überlegte kurz, dann sagte er: »Du bist viel herumgekommen. Norddeutscher Akzent und sonnengebräunte Haut, eine ungewöhnliche Mischung. Allerdings keine frische Bräune, sondern eine, die schon länger zurückliegt. Ein längerer Auslandsaufenthalt, würde ich sagen. Dazu der Schmuck, den du gestern getragen hast. Ich habe so etwas schon einmal gesehen. Tuaregkunst, habe ich recht? Das lässt vermuten, dass du mal in der Sahara warst.« Er lehnte sich zurück. »Deine Art, zu sprechen, deine Gesten – all das lässt den Schluss zu, dass du lange Zeit in einer anderen Kultur gelebt hast und dass du erst seit einer gewissen Zeit zurück in Deutschland bist.«
Hannah nickte anerkennend. »Nur weiter.«
»Deine Ausdrucksweise lässt auf einen akademischen Hintergrund schließen, vielleicht aus dem Bereich Naturwissenschaften. Du sagst, dein Besuch im Harz hätte etwas mit deinem Job zu tun. Dass diese Gegend geologisch sehr interessant ist, wissen wir beide. Also tippe ich mal: Du könntest Geologin sein.«
Hannah lächelte geheimnisvoll. »Nicht schlecht, besonders der Anfang. Am Ende hast du dich etwas verrannt. Wenn du es genau wissen willst: Ich bin keine Geologin, sondern Archäologin.«
»Archäologin?«
»Ich arbeite an der Erforschung der Himmelsscheibe von Nebra. Schon mal davon gehört?«
Sein Mund blieb offen stehen.
»Irgendetwas nicht in Ordnung?« Seiner Reaktion nach zu urteilen, war er mehr als nur leicht überrascht. »Es ist ein Beruf wie jeder andere. Na ja, fast«, sagte sie mit einem Schulterzucken.
Er schüttelte den Kopf. »Bitte verzeih mein Erstaunen«, sagte er. »Es kommt nicht oft vor, dass mich eine Nachricht so aus den Schuhen hebt.«
»Aber warum?« Hannah verstand es immer noch nicht. »Zugegeben, es ist kein x-beliebiger Bürojob, obwohl ich das letzte Jahr fast nur in Labors und Büros zugebracht habe. Aber trotzdem ist es nur ein Job.«
»Nur ein Job?« Seine Augen leuchteten in der Dunkelheit. »Du behauptest, an der Erforschung des wohl wichtigsten archäologischen Fundes der letzten hundert Jahre beteiligt zu sein, und sagst, es wäre nur ein Job? Tut mir leid, aber das ist die Untertreibung des Jahres.«
»Dann weißt du also etwas darüber?«
»Ich weiß so gut wie alles darüber.« Er richtete sich auf. »Jedenfalls das, was in den Medien darüber zu sehen, zu lesen und zu hören war. Ich bin ein Doku-Freak, um genau zu sein. Ich schaue mir so ziemlich jede Dokumentation im Fernsehen an und lese jeden Artikel in den einschlägigen Zeitschriften. Als ich dir gesagt habe, ich wäre besessen von Geschichten und Geschichte, habe ich keineswegs übertrieben. Ich weiß alles über diese Gegend, über ihre Geschichte, über ihre Geheimnisse. Und jetzt sitze ich einer Frau gegenüber, die behauptet, die sagenumwobene Himmelsscheibe in Händen gehalten zu haben.« Wieder schüttelte er den Kopf. »Ich kann es immer noch nicht glauben.«
»Ich habe sie nicht nur in den Händen gehalten.« Sie grinste. »Ich habe sie gemessen, gewogen, sie erhitzt, verbogen, Späne davon abgerieben und mit Strahlen bombardiert. Alles im Dienste der Wissenschaft, wohlgemerkt. Ich hätte ihr noch viel üblere Sachen angetan, wenn man mich nur gelassen hätte.«
Michaels Blick drückte pures Entsetzen aus. Aber genau diese Reaktion hatte Hannah bezweckt. Lächelnd fuhr sie fort: »Das Problem ist nur: Wir wissen zwar so gut wie alles über die Scheibe, aber leider so gut wie nichts über die Menschen, die sie hergestellt haben. Darüber etwas herauszufinden, das ist meine Aufgabe und der Grund meines Besuches.«
Michael schien seine Überraschung überwunden zu haben. Er war wieder aufgestanden und schulterte seinen Rucksack. »Vielleicht kann ich dir helfen. Ganz bestimmt kann ich das. Du sagst mir, wonach du suchst, und ich führe dich hin.«
Tief in einer Schlucht am Fuße der Heinrichshöhe, dort, wo der Mischwald aus Buchen und Fichten am dichtesten war, war eine schattenhafte Bewegung zu sehen. Etwas Dunkles regte sich. Etwas, das den Tag mied und die Nacht liebte. Es stand im Begriff, aus seiner Felsspalte zu kriechen. Dass ein Wesen wie dieses zu dieser frühen Morgenstunde noch wach war, hatte einen Grund. Seine feine Nase sandte ihm unmissverständliche Signale. Es konnte jeden Geruch des Waldes identifizieren. Pilze, Beeren, den Modergeruch von verrottendem Holz, den feinen Duft frisch gefallener Blätter, die ätherischen Öle von Harz und Tannennadeln – es war sogar in der Lage, unterschiedliche Tierarten voneinander zu unterscheiden, einzig am Geruch des Blutes. Das von Rehen roch anders als das von Schweinen. Eichhörnchen rochen anders als Mäuse. Lurche rochen überhaupt nicht, und das Blut von Vögeln hatte einen scharfen Unterton. Am besten rochen Kaninchen, weshalb es sie am liebsten fraß. Ihr Fell hatte einen unverwechselbaren Duft nach Erde und Heu. Was gab es Schöneres als ein junges Kaninchen, wenn man Hunger hatte. Und das Wesen hatte immer Hunger. Es war ein Jäger, der sich am Blut seiner Opfer labte. Der Gedanke an eine frisch geöffnete Bauchhöhle und das Geräusch des noch schlagenden Herzens ließ ihm das Wasser im Maul zusammenlaufen.
Aber es war kein Kaninchen, was sich da näherte. Der Geruch, der um diese frühe Morgenstunde vom Tal heraufkam, war fremd. Er gehörte nicht hierher.
Zweibeiner, schoss es dem Wesen durch den Kopf. Nur sie konnten so erbärmlich stinken. Das lag weniger an ihren körpereigenen Düften als an dem Zeug, mit dem sich viele von ihnen einsprühten. Scharfe, alkoholische Essenzen, von denen man Kopfschmerzen bekam. Ausdünstungen in einer Intensität, dass es einem die Eingeweide umdrehen konnte. Nun war es nichts Ungewöhnliches, dass Zweibeiner sich am Brocken herumtrieben. Sie infizierten den Berg wie eine Krankheit, wie ein Schimmelpilz, der sich immer mehr ausbreitete. Ungewöhnlich war nur, dass sie so früh unterwegs waren.
Das Wesen richtete sich auf und hielt die Nase in den Wind. Kein Zweifel: Die Eindringlinge kamen näher. Ihr Weg führte sie direkt an seiner Schlafstatt vorbei. Eile war geboten. Es schüttelte sein Fell und schabte sich den Buckel seitlich an der Felswand. Mit den Krallen scharrte es die Reste seines Lagers auf einen Haufen, dann trat es hinaus ans Tageslicht.
Der Sonnenaufgang stand unmittelbar bevor, und die Helligkeit stach ihm unangenehm ins Auge. So gut es bei Dunkelheit auch sehen konnte, so empfindlich war es bei Tag. Nur noch eine Stunde, dann würde es hier so hell sein, dass seine Augen ihm unerträgliche Schmerzen bereiten würden. Viel Zeit blieb ihm also nicht.
Ein paar keuchende Atemzüge, dann machte es sich auf den Weg.