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Kontrollverlust

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Jeder kennt das Gefühl von extremem Zeitdruck. Meist ist es ein unangenehmes, beengendes Gefühl, ein Stresszustand – ein Zustand der Angst, es »nicht zu schaffen«. Doch die stressige Situation in der U-Bahn kann man auch ganz nüchtern beschreiben: Sie sind einfach »zu spät« dran. Ihre Eigenzeit und die Fremdzeit stehen im Konflikt. Vielleicht sind Sie zu spät losgefahren, vielleicht hat sich ein vorangegangener Termin verzögert, vielleicht kam Ihre U-Bahn einfach nicht. Was auch immer »schuld« daran ist: Ihre Eigenzeit ist kollabiert, die Fremdzeit hat die Kontrolle übernommen. Während Sie atemlos über den Bahnsteig rennen, verschwindet gleichsam Ihr Ich. Plötzlich sind Sie nur noch Fremdzeit – der Zug, den Sie unbedingt erwischen müssen.

Die Zeit können wir nicht sehen, riechen, anfassen oder schmecken. Meist bemerken wir sie gar nicht, sie hält sich im Hintergrund. Bei vielen Tätigkeiten denken wir gar nicht an sie. Wir bemerken sie erst, wenn wir sie brauchen – und besonders, wenn sie uns fehlt. Dann stehen wir plötzlich vor einer Schranke, vor einem Widerstand. Wenn eine Deadline naht, eine Frist abläuft, fühlen wir uns bedrängt und unter Druck gesetzt. Es ist, als liefen wir gegen eine Wand. Man muss nur Menschen beobachten, die unter Zeitdruck stehen. Die einen schauen ständig auf die Uhr, die anderen stöhnen und verziehen das Gesicht, andere werden wütend oder flippen regelrecht aus.

Alles im Leben braucht seine Zeit. Das klingt ziemlich banal. Und doch vergessen wir es regelmäßig. Obwohl wir ständig auf die Uhr schauen, missachten wir die Zeit. Wir kommen unpünktlich, weil wir den Verkehr unterschätzen. Wir nehmen uns zu viel vor, obwohl wir nicht alles schaffen können. Wir planen viel zu optimistisch, weil wir nicht mit Verzögerungen rechnen. Wir betrachten die Zeit als Ressource, über die wir nach Belieben verfügen können, als wären wir die Herren der Zeit. Doch dabei stoßen wir immer wieder schmerzhaft an Grenzen. »Alles zu viel«, klagen wir dann – und meinen damit: Wir haben zu wenig Zeit.

Ein Blick auf die Uhr sagt uns noch nichts über unsere Zeit.

Seit ich über die Zeit nachdenke, hadere ich damit, dass ich nicht mehr davon habe. Es gäbe so viel zu tun, so viel zu lernen, so viel zu erleben! Die Informationsflut der digitalen Welt konfrontiert uns tagtäglich mit unendlichen Möglichkeiten. Unsere Zeit reicht nicht einmal dazu, diese Möglichkeiten zu erfassen. Je älter ich werde, umso mehr wird mir bewusst, was ich alles nicht tun, lernen und erleben kann. Dass ich es nicht einmal schaffe, mich um die Dinge zu kümmern, die mir wirklich wichtig sind. Es ist, als würde ich ständig einem Zug nachrennen, den ich nicht mehr erreichen kann.

Das Leben ist kurz, die Kunst lang, sagte Hippokrates, der griechische Arzt … Ich denke, man versteht auch noch heute sofort, was damit gemeint ist. Eine anspruchsvolle Kunst wie etwa die Medizin wirklich zu erlernen, das braucht Zeit. Ein einziges Leben kann dafür zu kurz sein. Und so ist es auch mit vielen anderen Dingen. Wir können nicht alle Bücher lesen, alle interessanten Menschen treffen, alle schönen Orte dieser Welt besuchen.

Unsere Zeit wird nie für alles reichen, was wir uns wünschen.

Unsere Welt ist voller Möglichkeiten. Als endliche Wesen können wir jedoch nur einen Bruchteil davon realisieren. Mit zunehmendem Alter ahnen wir: Unser Leben ist zu kurz für diese Welt. Ständig versuchen wir daher, Zeit zu gewinnen, um mehr von der Welt zu haben. Wie der Philosoph Hans Blumenberg einmal schrieb: »Die Welt kostet Zeit.«

Unsere »Lebenszeit« und die »Weltzeit«, wie es Blumenberg nennt, fallen auseinander. Wie viel Zeit wir uns auch wünschen, unser Leben ist eben begrenzt. Statt Zeit zu gewinnen, verlieren wir sie ständig, bis wir am Ende gar keine mehr haben. Die Zeit, sagt Blumenberg, ist das »am meisten unsrige und doch am wenigsten verfügbare«.

Mit anderen Worten: Unsere Zeit ist knapp.

Das Wort »knapp« bezeichnet einen Mangel. Es kommt vermutlich vom niederdeutschen knap (kurz, eng, gering) und ist verwandt mit Verben wie »kappen«, »knapsen« oder »kneifen«, also lauter Wörtern, bei denen etwas weggenommen wird. Knappheit bedeutet, »nicht genug« von etwas zu haben. Es besteht ein Missverhältnis zwischen unseren Bedürfnissen und unseren Ressourcen. Wenn die Lebensmittel »knapp« werden, dann haben wir »nicht genug« zu essen. Wer »knapp bei Kasse« ist, der muss sparen. Wenn die Zeit knapp ist, dann müssen wir uns beeilen – und im Extremfall eben wie wahnsinnig über den Bahnsteig rennen, um den Zug noch zu erwischen.

Zeit leben

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