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Entscheiden, was wichtig ist

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Die Zeit an sich sei gar nicht knapp, schreibt der Soziologe Niklas Luhmann (1927 – 1998). Der Eindruck der Zeitknappheit entstehe lediglich aus einer »Überforderung des Erlebens durch Erwartungen«. Unsere Zeit ist also knapp im Hinblick darauf, was wir mit ihr vorhaben. Wer nichts vorhat, der braucht auch keine Zeit, für den hat sie keinen Wert.

Die Knappheit der Zeit hat zwei Seiten. Je weniger verfügbare Zeit wir haben, desto weniger können wir tun oder erleben – und uns im Sinne Frankfurts um andere Menschen oder Dinge sorgen. Wenn Sie nach zehn Jahren einen alten Freund wiedersehen, werden Ihnen zehn Minuten Gesprächszeit reichlich »knapp« erscheinen. Die Zeit reicht einfach nicht aus, um alles zu bereden, was Sie eigentlich zu bereden hätten.

Eines der zentralen Probleme unseres heutigen Lebens besteht darin, dass wir zumindest »gefühlt« immer weniger Zeit haben, uns um Dinge und Menschen zu sorgen, die uns wichtig sind. Wenn wir »keine Zeit« mehr haben, Freunde zu treffen, Musik zu hören oder Bücher zu lesen, gutes Essen zu genießen, dann hören wir aber auch auf, diese Menschen und Dinge wirklich wichtig zu nehmen. Wir verschwinden gleichsam in einem Tunnel und sehen nichts mehr links und rechts. Schlimmstenfalls gerät unser Leben aus den Fugen.

Was uns wertvoll ist, darum sorgen wir uns. Worum wir uns sorgen, dem schenken wir Zeit.

Die andere Seite ist: Wenn die Zeit knapp wird, müssen wir uns auf das Wesentliche konzentrieren. Zeitknappheit wirkt selektiv, wie schon Luhmann feststellte. Termine und Fristen begrenzen unsere Möglichkeiten. Wenn die Deadline eines Projektes naht, müssen wir es eben zu Ende bringen. Alles andere tritt in den Hintergrund und muss auf »später« verschoben werden. Gäbe es keine Termine und Fristen, wären wir überfordert mit unseren Möglichkeiten. Wir wüssten vielleicht gar nicht, was wir zuerst tun sollten – und würden womöglich gar nichts tun. Zeitknappheit hat offenbar einen Sinn. Sie zwingt uns dazu, Prioritäten zu setzen, also zu entscheiden, was wir wichtig nehmen und was nicht.

Zudem bindet Zeitknappheit unsere Aufmerksamkeit. Solange wir noch reichlich Zeit haben, lassen wir uns leicht ablenken. Eine nahende Deadline kann uns produktiver machen. Jedenfalls gibt sie uns einen Grund, überhaupt mal anzufangen. Erst die Dringlichkeit verleiht der Sache einen Wert. Was für alltägliche Termine und Fristen gilt, das gilt in gewisser Weise für unser endliches Leben überhaupt.

Der Mensch sei »ein Wesen mit endlicher Lebenszeit, das unendliche Wünsche hat«, sagt Hans Blumenberg. Wir können eben nicht alle unsere Wünsche realisieren. Wenn wir unser Leben einigermaßen verantwortlich führen wollen, dann müssen wir uns auf jene Dinge konzentrieren, die wir für wichtig halten, die uns etwas bedeuten. Dazu aber brauchen wir Zeit. Die Antwort auf Zeitknappheit besteht somit nicht nur darin, einfach nur »im Augenblick« zu leben, ohne nach vorne oder zurück zu schauen. Wichtiger ist es zu entscheiden, wem und was wir welchen Wert und welche Sorge zumessen.

Eine unabdingbare Tatsache unserers zeitlichen Daseins ist, dass wir nicht alles gleichzeitig tun oder erleben können. Was auch immer wir tun, wie wir unsere Zeit auch verwenden, es »kostet« uns die Möglichkeit, zur gleichen Zeit etwas anderes zu tun. Man kann sich diese »Opportunitätskosten«, wie es die Ökonomen nennen, leicht vor Augen führen. Während Sie dieses Buch lesen, können Sie etwas anderes nicht tun. Überlegen Sie einmal kurz, was Sie alles stattdessen tun könnten. Dann bekommen Sie ein Gefühl für den Wert Ihrer Zeit.

Da wir immer nur eine Sache nach der anderen tun können, müssen wir alle unsere Tätigkeiten in ein zeitliches Nacheinander auflösen – erst dieses, dann jenes. Da wir aber endliche Wesen sind, können wir uns dabei nicht endlos Zeit lassen. Wir müssen unsere Zeit also planen, sie »managen«. Dabei sagt unser Zeitmanagement aber noch nichts darüber aus, wie wertvoll die Zeit für uns ist.

Um mit der Zeit im Alltag klarzukommen, müssen wir also mit ihr rechnen. Alles braucht seine Zeit. Wenn es Ihnen wirklich wichtig ist, den Zug um 10 Uhr 35 zu erreichen, dann müssen Sie eben um 9 Uhr 45 los. Bis zum Bahnhof »brauchen« Sie soundso viele Minuten, denn die Fahrt dauert eben soundso lang. Aber der Wert dieser Zeit besteht nicht nur darin, dass Sie den Zug erreichen. Es ist Ihre Zeit – die Zeit, die Sie leben.

Versuchen Sie einmal, die Fahrt zum Bahnhof aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Sicher wollen Sie Ihren Zug erreichen. Aber die Zeit ist Ihre Zeit. Sie könnten ein Buch lesen, ein Telefonat führen, irgendwelchen Gedanken nachhängen oder einfach nur andere Leute beobachten. All das können Sie schwerlich tun, wenn Sie rennen müssen. Die Zeitknappheit hindert Sie daran, die Zeit bis zum Bahnhof halbwegs sinnvoll zu verbringen – Ihre Zeit zu »leben«. Am Ende haben Sie zwar vielleicht Ihren Zug erreicht. Aber Ihre Zeit war leer. Vermutlich werden Sie sich hinterher kaum noch daran erinnern.

Da unsere Zeit knapp ist, kommen wir nicht umhin, mit ihr »ökonomisch« umzugehen. Aber Zeit ist mehr als eine Ressource, ein Mittel, über das wir verfügen können, um einen bestimmten Zweck zu erreichen – wie ein Hammer, mit dem wir einen Nagel einschlagen. Unsere Zeit ist Lebenszeit. Wir müssen lernen, die Zeit zu leben, sonst zerrinnt sie uns eben zwischen den Fingern, wie den »Vielbeschäftigten« bei Seneca.

Sicherlich ist sie mehr als das, doch benutzen wir unsere Zeit oft als Mittel zum Zweck. Wenn wir aber unsere Zeit nur als Mittel zum Zweck gebrauchen, dann leben wir sie – und damit unser Leben – nicht wirklich. Das wird uns besonders dann schmerzlich bewusst, wenn wir unser Ziel verfehlen. Wir haben vielleicht Monate oder Jahre in eine Sache »investiert«. Doch am Ende war alles vergebens. Die Sache hat viel Zeit »gekostet«, doch der Aufwand war umsonst. »Verlorene Zeit«, sagen wir dann manchmal – als hätten wir all die Zeit nicht gelebt.

Wir »nutzen« unsere Zeit, um möglichst viel aus ihr herauszuholen. Doch genau dadurch laufen wir Gefahr, unsere Zeit zu verschwenden – und die Dinge aus den Augen zu verlieren, die uns wirklich wichtig sind. Wenn wir immer nur damit beschäftigt sind, Zügen hinterherzulaufen, dann verpassen wir unser Leben.

Je besser wir die Zeit nutzen wollen, desto schneller läuft sie uns davon.

Seneca hatte recht: Das Leben ist lang genug. Wir dürfen unsere Zeit nur nicht verschwenden. Aber zugleich ist die Zeit keine einfache Ressource. Sie besteht aus mehr als einer abstrakten Anzahl von Stunden, Minuten und Sekunden, die wir für verschiedene Zwecke »ausgeben« können.

Ein Euro-Stück ist wie jedes andere Euro-Stück, jedes hat den gleichen Wert. Mit unserer Zeit aber verhält es sich ganz anders. Kein Augenblick gleicht dem anderen. Die Zeit ist nicht abstrakt, und sie ist nicht neutral. Sie ist unsere eigene Zeit – eine Zeit, die wir auf bestimmte Weise erfahren. Sie kann lang oder kurz für uns sein, spannend oder langweilig, erfüllt oder leer. Unsere Zeit kann großartig sein – oder unendlich trostlos.

Aus meiner Sicht ist es die erfüllte, die wertvolle Zeit, auf die es im Leben letztlich ankommt. Wir begehen einen Fehler, wenn wir die Zeit auf ihren quantitativen Aspekt reduzieren – auf eine bestimmte Menge, die uns zur Verfügung steht. Entscheidend ist, was wir aus ihr machen, welchen Wert wir ihr verleihen. Wir verlieren Zeit, wenn wir sie einfach nur »vorbeigehen« lassen, statt sie zu leben.

Die Zeit ist unser Leben. Wir dürfen sie daher nicht nur dazu instrumentalisieren, um bestimmte Ziele zu erreichen. Wir sind nicht die Herren der Zeit. Wir können über sie nicht nach Belieben verfügen. So sehr wir darüber klagen, dass unsere Zeit knapp ist: In vielen Bereichen unseres Lebens können wir das nun einmal nicht ändern. Die Welt kostet eben Zeit, erst recht die hyperkomplexe Welt, in der wir heute leben. Wir müssen daher lernen, mit Zeitknappheit bewusster umzugehen. Und das ist nicht nur eine Frage von möglichst gutem »Zeitmanagement«. Sicher können wir da und dort Zeit effizienter nutzen, indem wir sie besser planen oder Dinge schneller erledigen. Doch aus meiner Sicht geht es nicht darum, einfach nur »mehr Zeit« zu haben. Wir müssen vielmehr versuchen, unsere Zeit in wertvolle, erfüllte Zeit zu verwandeln. Wertvolle Zeit vergeht nicht, so werde ich später argumentieren. Leere Zeit hingegen haben wir in gewisser Weise nie gelebt.

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