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Der Irrtum der Zeitökonomie

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Die Knappheit von Gütern, so lehrt die klassische Ökonomie, ist der Grund für wirtschaftliches Handeln. Ähnlich wie mit Geld, sollen wir auch mit unserer Zeit ökonomisch umgehen, um ihrer Knappheit vorzubeugen. Allerdings gibt es zwischen der Zeit und dem Geld einen wesentlichen Unterschied: Geld kann man wiederbeschaffen, Zeit hingegen nicht. Lebenszeit ist unersetzlich. Man kann sie nicht gewinnen, sondern nur verlieren. Tatsächlich schwindet unsere Lebenszeit ständig. Wenn die Zeit knapp ist, müssen wir sie uns einteilen. Wir müssen also mit der Zeit haushalten, wir dürfen sie nicht vergeuden.

Das Gefühl der Zeitknappheit hat zu tun mit unserem Sinn für die Zukunft. Wir blicken voraus auf etwas, was noch nicht ist. Wir setzen uns Ziele, die wir erreichen wollen. Doch je älter wir werden, desto weniger Zeit bleibt uns dafür. Die Zukunft wird immer kleiner, sie schmilzt zusammen. Wenn wir die Lebenszeit als eine Ressource betrachten, dann müssen wir nun mal feststellen, dass uns mit jedem Tag weniger Zeit zur Verfügung steht. Unsere Zeit ist endlich – sie ist knapp.

»Zeit ist Frist«, schreibt der Philosoph Odo Marquard. Wir können daher nicht beliebig lange warten. Wir müssen uns beeilen. Die Kürze des Lebens zwingt uns zur Ungeduld, zur Schnelligkeit. Unsere Lebenszeit selbst ist knapp; Marquard nennt sie sogar die »knappste aller Ressourcen«. Wir können im Leben nicht alles erreichen, dazu fehlt uns schlicht die Zeit.

Für Marquard ist der Mensch das »Zeitmangel-Wesen«. Unser Leben ist nicht nur kurz, sondern auch einzigartig. Wir leben eben nur einmal, jeder hat nur seine Lebenszeit zur Verfügung. Wenigstens gelegentlich müssen wir uns klarmachen, dass wir in unserem Leben nicht ewig Zeit haben.

Während ich diese Zeilen schreibe, bin ich 49 Jahre alt, also nicht mehr ganz jung, um es vorsichtig zu sagen. Mit etwas Glück liegt noch einige Zeit vor mir. Aber auch ich habe das Gefühl, dass ich mich beeilen muss, um bestimmte Ziele noch zu erreichen – und dass es für manches vielleicht schon »zu spät« ist. Mein Bewusstsein der eigenen Endlichkeit treibt mich an. Ich schiebe weniger Dinge auf als früher. Ich versuche, meine Zeit zu »nutzen«, so gut es eben geht.

Unsere Zeit ist wertvoll, weil sie begrenzt ist.

Wie die meisten Menschen wünsche auch ich mir – und vor allem den mir nahestehenden Menschen – ein langes Leben. Die Fortschritte der Biomedizin erlauben es, die Lebensspanne immer weiter zu verlängern; manche Technikvisionäre hoffen sogar auf die Unsterblichkeit. Je länger wir leben, so könnte man denken, desto mehr Ziele und Wünsche können wir verwirklichen. Der Tod beraubt uns jedoch dieser Möglichkeiten – er nimmt uns die Zeit. Das heißt aber noch nicht, dass es besser für uns wäre, ewig zu leben.

Wenn wir ewig leben würden, könnten wir bedenkenlos Zeit vergeuden. Schließlich bliebe uns ja immer noch genug davon; wir könnten alles immer weiter hinausschieben. Wir hätten kein Problem damit, all unsere Ziele und Wünsche zu verwirklichen. Denn zu wenig Zeit hätten wir dafür ja nicht – sondern gleichsam zu viel davon. Nichts wäre mehr wirklich wichtig, nicht einmal die Zeit selbst. Vielleicht würden wir einfach gar nichts tun, weil wir alles später tun könnten. Das ewige Leben wäre womöglich sterbenslangweilig. So sehr wir auch mit unserer Endlichkeit hadern: Es ist der Tod, so denke ich, der unserem Leben Sinn verleiht.

Die Zeit ist aber nicht nur deshalb wichtig, weil sie knapp ist. Sie ist es auch deshalb, weil wir unser Leben wichtig nehmen. Wäre uns alles egal, bräuchten wir uns auch um die Zeit nicht zu kümmern; wir könnten sie einfach verstreichen lassen. Tatsächlich aber verfolgen wir Ziele, Pläne und Projekte. Wir wollen etwas aus unserem Leben machen – und dazu brauchen wir Zeit. Hier liegt der Grund für unsere gefühlte Zeitknappheit: Unsere Lebenszeit ist knapp im Hinblick darauf, was wir damit tun wollen. Wenn wir unsere Zeit verschwenden, so meinen wir, dann verpassen wir die Gelegenheit, sie sinnvoll zu nutzen. Wir verpassen unser Leben.

Das Leben sei nicht kurz, meinte der stoische Philosoph Seneca, wir gingen nur zu verschwenderisch mit ihm um. Die Zeit sei unser kostbarster Besitz, und doch vergeudeten wir sie, als wäre sie nichts wert. Der Lehrer und Berater des römischen Kaisers Nero dachte dabei an die »Vielbeschäftigten« seiner Zeit, die wohl schon damals von Termin zu Termin hetzten. Das Leben dieser »Vielbeschäftigten« erschiene ihnen nur deshalb kurz, weil sie ihre Zeit nicht richtig zu nutzen wüssten. Die Zeit scheine ihnen zwischen den Fingern zu zerrinnen, mit fatalen psychischen Folgen: Ihr zerstreuter Geist könne nichts mehr aufnehmen, sie kämen nicht zu sich selbst. Um dieses Schicksal nicht zu teilen, müsse man lernen, sich auf die Gegenwart zu konzentrieren – und jeden Augenblick so zu leben, als ob es der letzte wäre: »Jetzt, auf der Stelle, erfasse das Leben«, schreibt Seneca.

»Lange gelebt« hat somit nach Seneca nicht derjenige, der ein hohes Alter erreicht hat, sondern derjenige, der sein Leben genutzt hat. Wer hingegen seine Zeit verschwendet hat, der hat nicht lange gelebt, er ist »nur lange da gewesen«. Es geht also nicht darum, möglichst viel Zeit zu haben. Wir müssen unsere Zeit vielmehr leben – also etwas aus ihr machen.

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