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§ 1 Einführung in das Verwaltungsrecht

I. Das Verwaltungsrecht im Studium

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Lernende nähern sich dem Verwaltungsrecht mit großer Zurückhaltung, wahrscheinlich sogar mit einer gewissen Besorgnis. Dieses Phänomen ist alt. Das Erlernen des Verwaltungsrechts wird als „das“ Problem des Jurastudiums empfunden. Die gewisse Hilflosigkeit, mit der Anfänger verwaltungsrechtlichen Fragestellungen begegnen, ist manchmal noch bei Fortgeschrittenen zu beobachten. Selbst Referendarinnen und Referendare wissen des Öfteren mit dem Verwaltungsrecht (immer noch) nichts anzufangen. Das relative Unvermögen basiert häufig auf einer falschen „Programmierung“ der Lernenden. Diese Einstellung beruht auf einer unangemessenen Sicht des Verwaltungsrechts: Die enorme Menge verwaltungsrechtlicher Normen und die dadurch bedingte Fülle unbekannter Fragestellungen wird mit der falschen Annahme verbunden, der Stoff sei nicht beherrschbar. In der Folge bedingt das frühzeitige „Kapitulieren“ vor dem Stoff lediglich geringe Bemühungen um Problembewältigung. Das Verwaltungsrecht wird zum „Angststoff“[1].

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Das verwaltungsrechtliche „Gebirge“ besitzt natürlich „alpinen“ Charakter. Aus dieser Qualität aber den Schluss zu ziehen, der Berg sei unüberwindbar, ist falsch. Die Beantwortung verwaltungsrechtlicher Fragestellungen folgt in derselben Weise gewissen „Gesetzmäßigkeiten“ wie die Antwortfindung im Zivilrecht oder im Strafrecht. Diese Regeln lassen sich ebenso wie die jener Rechtsgebiete erlernen. Sie ermöglichen, auch bislang unbekannte verwaltungsrechtliche Normen anzuwenden. Damit reduziert sich zwar nicht das Problem der Stoffmenge, es zeigt sich aber, dass die Stofffülle eben nicht „das“ Problem des Verwaltungsrechts ist. Es kommt für den Verwaltungsrechtler darauf an, bestimmte, in ihrer Quantität begrenzte, Grundfragestellungen zu beherrschen. Das Lernproblem erreicht damit eine erträgliche Dimension: Die sachlichen Problemstellungen bleiben, lediglich die Normen, an denen das Problembewusstsein zu demonstrieren ist, wechseln. Ferner verlangen die Justizausbildungsordnungen nur Grundkenntnisse in einigen zentralen Materien des Besonderen Verwaltungsrechts; damit reduziert sich das Problem der Stofffülle ein weiteres Mal.

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Nach alldem zeigt sich: Die vielen Normen, die im „Sartorius I“ und in den landesrechtlichen Gesetzessammlungen abgedruckt sind[2], müssen die Studierenden nicht in einer Weise inhaltlich beherrschen, wie sie – um zivilrechtliche Beispiele zu wählen – das Recht der ungerechtfertigten Bereicherung oder das Eigentümer-Besitzer-Verhältnis im Griff haben müssen. Die ganze Fülle des Verwaltungsrechts beherrschen nicht einmal „Profis“: Die Feinheiten einzelner Materien des Besonderen Verwaltungsrechts haben nur wenige Spezialisten parat. Das auf der Stoffmenge basierende Vorurteil gegenüber dem Verwaltungsrecht ist deshalb unbegründet. Was die Studierenden aber spätestens im Examen präsent haben sollten, ist Folgendes: Sie sollten die Grundfragen des Allgemeinen Verwaltungsrechts und seine Institute sowie bestimmte Materien des Besonderen Verwaltungsrechts kennen, welche die Justizausbildungsordnungen erwähnen; sie sollten ferner einen Überblick über weitere Materien des Besonderen Verwaltungsrechts besitzen.

II. Das Anliegen dieses Buchs

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Die Lehrbuchliteratur zum Allgemeinen Verwaltungsrecht ist beachtlich[3]. Es gibt Lehrbücher für Anfänger und Fortgeschrittene; es gibt solche mit hohem wissenschaftlichen Anspruch und solche, die das bekannte Wissen lediglich präsentieren wollen; es gibt Lehrbücher, die aus dem Blickwinkel einer bestimmten Lehre geschrieben sind. Es gibt Fallsammlungen und Repetitorien. Dieses Buch möchte, entsprechend dem Anliegen der Reihe „Schwerpunkte“, das Allgemeine Verwaltungsrecht in der Breite und Tiefe lehren, die es ermöglicht, den durch die Erste Juristische Prüfung gestellten Anforderungen gerecht zu werden. Das bedeutet im Einzelnen: Es werden besonders betont

die verwaltungsrechtlichen Grundfragestellungen,
Grundprobleme der Anwendung verwaltungsrechtlicher Normen,
die Beziehungen des Verwaltungsrechts zum Verfassungsrecht sowie zum Europarecht,
die wichtigsten Probleme der verwaltungsrechtlichen Handlungsinstrumente.

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Diese Zielsetzung ist eine begrenzte. Deshalb wird nicht der gesamte Stoff des zum Allgemeinen Verwaltungsrecht Gehörenden vorgestellt, sondern eine Auswahl. Die Geschichte des Allgemeinen Verwaltungsrechts gelangt bei dieser eingeschränkten Themenstellung ebenso wenig zur Darstellung wie das Internationale Verwaltungsrecht[4]. Ferner werden dogmatische Probleme nicht mitgeschleppt, die sich überholt haben. Es geht in diesem Buch darum, das „Gebäude“ des Allgemeinen Verwaltungsrechts sichtbar werden zu lassen: freilich in einer Beschränkung auf seine Konstruktionsprinzipien, nicht in allen Details. Ferner werden neben zahlreichen Beispielsfällen Aufbauschemata für die Beantwortung der wichtigsten verwaltungsrechtlichen Fragestellungen geboten.

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Das Buch arbeitet mit einer Vielzahl praktischer Beispiele aus der Rechtsprechung. Wann immer möglich, enthält es Hinweise auf Besprechungen der Entscheidungen in der speziell für Lernende konzipierten juristischen Literatur[5]. Die jeweiligen (neueren) Aufsätze in den Ausbildungszeitschriften unter Einbeziehung von Fallbearbeitungen werden zum Ende eines Paragrafen aufgeführt (bei längeren Paragrafen zum Ende des jeweiligen Abschnitts). Vertiefende Literatur zu den einzelnen Teilthemen wird in den zugehörigen Fußnoten nachgewiesen. Sofern Literaturhinweise ausdrücklich zur Vertiefung empfohlen werden, sollten sie beim erstmaligen Erlernen des Stoffes noch nicht gelesen werden, sondern erst bei der späteren Wiederholung sowie bei der Examensvorbereitung. Zudem wird an den einschlägigen Stellen auf die jeweiligen Fälle im Klausurenkurs im Verwaltungsrecht[6] hingewiesen. Zu beachten ist, dass die dort enthaltenen Klausuren einen unterschiedlichen Schwierigkeitsgrad aufweisen, der von eher einfachen Klausuren zum Einstieg in die Materien über Fälle auf fortgeschrittenem Niveau bis hin zu Examensklausuren reicht.

III. Typische verwaltungsrechtliche Fragestellungen

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Eine normale verwaltungsrechtliche Klausur als

Ausgangsfall:

Familie A hat Zwillinge bekommen. Sie benötigt deshalb mehr Wohnraum. Herr A ist der Auffassung, er könne das Familienheim ohne behördliche Genehmigung um zwei Zimmer erweitern. Er lässt die Zimmer bauen. Durch Zufall erfährt das zuständige Bauordnungsamt von dem Anbau. Es gebietet Herrn A den Abriss des Anbaus, weil Herr A keine Baugenehmigung besitze. Herr A ist empört und möchte den behördlichen Bescheid aus der Welt schaffen. Auf Anraten seines Anwalts erhebt er Klage vor dem zuständigen Verwaltungsgericht. Hat die Klage des A Aussicht auf Erfolg?

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Diese Klausur ist insofern eine typische verwaltungsrechtliche Klausur, als sie zwei Grundfragestellungen enthält: eine prozessuale und eine materiell-rechtliche Frage[7]. Die prozessuale Fragestellung lautet: Liegen die Voraussetzungen für eine Sachentscheidung des Gerichts vor? Die materiell-rechtliche Frage lautet: Ist die Verfügung der Behörde rechtmäßig? Die Verknüpfung von prozessrechtlichen und materiell-rechtlichen Fragen kennzeichnet verwaltungsrechtliche Klausuren und Hausarbeiten ebenso wie verfassungsrechtliche[8]. Nicht immer erwartet eine Klausur die Bearbeitung beider Fragen. Manchmal beschränken sich verwaltungsrechtliche Klausuren auch allein auf die Lösung eines materiell-rechtlichen Problems.[9] Ganz selten erschöpfen sich Klausuren auch im Aufwerfen verwaltungsprozessualer Probleme[10].

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Dieses Buch behandelt ausschließlich die materiell-rechtlichen Fragen der durch den Ausgangsfall aufgeworfenen Probleme, soweit diese dem Allgemeinen Verwaltungsrecht zugehören – die prozessuale Seite wird in einem anderen Buch dargestellt: in einem verwaltungsprozessrechtlichen Lehrbuch dieser Reihe[11]. Die Trennung zwischen der prozessualen Seite und der materiell-rechtlichen Seite ist typisch und wird hier beibehalten. Freilich werden so oft wie möglich Hinweise auf das Prozessrecht gegeben.

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Die materiell-rechtliche Seite des Ausgangsfalls wirft typische verwaltungsrechtliche Fragen auf: Es ist von einer Behörde die Rede – was ist eine Behörde und wie stellt sich der Behördenaufbau der Bundesrepublik dar? A hat ohne Baugenehmigung gebaut – was ist eine Genehmigung und benötigt er eine? Die Behörde hat den Abriss ohne Anhörung des A verfügt – hat A Anhörungsrechte? Ist die Abrissverfügung überhaupt rechtmäßig – was ist die Voraussetzungen für ein rechtmäßiges Gebot? Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang das Verfassungsrecht? Die „klassische“ verwaltungsrechtliche Fragestellung – diejenige, die das Verwaltungsrecht strukturell vom Bürgerlichen Recht unterscheidet – lautet: Hat die Behörde rechtmäßig gehandelt? Die Rechtmäßigkeitsfrage ist die „besondere“ Frage des Verwaltungsrechts.

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Eine Abwandlung des Ausgangsfalls führt zu einem weiteren Problem:

A beantragt die Genehmigung für den Anbau, erhält sie indes erst nach zwei Jahren. Die Behörde verteidigt sich mit Arbeitsüberlastung. In der Zwischenzeit sind die Baupreise erheblich gestiegen. A meint, die behördliche Prüfung hätte innerhalb eines halben Jahres erfolgen können. Er verlangt Schadenersatz in Höhe der Baupreissteigerung der letzten eineinhalb Jahre. Hat er einen Anspruch auf Schadenersatz?

Diese Fragestellung entspricht der typischen privatrechtlichen Fragestellung: Wer kann was von wem woraus verlangen? Das angesprochene Problem ist hier aber ein öffentlich-rechtliches: Behörden unterliegen einem speziellen öffentlich-rechtlichen Haftungsregime. Auch die spezifisch privatrechtliche Fragestellung besitzt also im öffentlichen Recht Bedeutung.

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Eine letzte Abwandlung soll eine weitere verwaltungsrechtliche Fragestellung verdeutlichen:

Die Klage des A vor dem Verwaltungsgericht gegen die Abrissverfügung bleibe erfolglos. A kommt dem behördlichen Verlangen auf Abriss nicht nach. Die Behörde droht, sie werde nach Ablauf einer Frist den Bauunternehmer Schredder mit dem Abriss beauftragen. A unternimmt nichts. Nach Fristablauf bringt Schredder entsprechend einem behördlichen Auftrag die Abrissbirne zum Einsatz. Durfte die Behörde in dieser Weise vorgehen?

Dieses Beispiel demonstriert den Fragenkomplex, der sich beim praktischen Vollzug von behördlichen Entscheidungen stellt. Dieser Bereich wird „Vollstreckung“ genannt. Sie gibt es nicht nur im Bereich des Privatrechts – in der Person des Gerichtsvollziehers, der den „Kuckuck“ klebt, oder in Form der Zwangsversteigerung eines Grundstücks –, sondern auch im Verwaltungsrecht.

IV. Der Aufbau des Buchs

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Das Buch ist in insgesamt fünf Teile untergliedert. Nach den im ersten Teil dargestellten Grundlagen (§§ 1 bis 4) werden zunächst allgemeine Grundbausteine des Verwaltungsrechts behandelt (§§ 5 bis 10). Diese Grundbausteine sind sowohl für die weiteren Abschnitte dieses Lehrbuchs als auch für die im weiteren Studienverlauf folgenden Materien des Besonderen Verwaltungsrechts von erheblicher Bedeutung. Der dritte Teil behandelt die verschiedenen Handlungsformen der Verwaltung (§§ 11 bis 23). Von besonderer Relevanz ist hier die Figur des Verwaltungsakts (VA). Denn der VA bildet einerseits eine zentrale Handlungsform des Verwaltungsrechts; andererseits wird er von den Studierenden gerade zu Beginn des Studiums als „befremdlich“ angesehen, da er anders als etwa Verträge zuvor oftmals unbekannt war. Nach einem Abschnitt über die staatlichen Ersatzleistungen (§§ 24 bis 28) wird abschließend das Recht der öffentlichen Sachen behandelt (§§ 29 bis 31).

Hinweis:

§§ ohne nähere Kennzeichnung sind solche des VwVfG.

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