Читать книгу Die Weisheit eines offenen Herzens - Thubten Chodron, Russell Kolts - Страница 13
Оглавление3 Mitgefühl, wechselseitige Abhängigkeit und universale Verantwortung
Wir alle müssen lernen, miteinander als Brüder und Schwestern zu leben, oder wir werden zusammen als Narren untergehen. Das ist die große Herausforderung der Stunde. Das gilt für Individuen. Das gilt für Nationen. Kein Mensch kann für sich allein existieren. Keine Nation kann für sich allein existieren.
Martin Luther King
Wie Martin Luther King betonte, kann niemand von uns für sich allein existieren, wir alle sind voneinander abhängig. Was müssen wir lernen, um miteinander wie Brüder und Schwestern zu leben? Die Antwort heißt: Mitgefühl. Mitgefühl zu haben heißt, sich um das Leiden der anderen zu kümmern und ihnen zu wünschen, frei vom Leiden und seinen Ursachen zu sein. Mitgefühl ist eng mit der Liebe verbunden, die den Wunsch beinhaltet, dass alle lebenden Wesen Glück und seine Ursachen erfahren mögen.
Es ist sinnvoll, Mitgefühl zu haben. Wenn wir uns nicht um andere scheren, werden wir alle leiden: Entweder, weil unsere Bedürfnisse nicht erfüllt werden, oder weil wir von unglücklichen Menschen umgeben sind – eine Situation, die unser eigenes Leben vergiftet. Aus diesen Gründen rät Seine Heiligkeit der Dalai Lama: „Wenn du egoistisch sein willst, dann sei intelligent egoistisch und hilf anderen.“
Mitgefühl braucht es in allen Bereichen unseres Lebens: auf einer persönlichen Ebene das Mitgefühl für uns selbst, für Freunde und Angehörige, für unsere Kollegen und unseren Chef und sogar für Leute, die uns manchmal lästig sind; auf einer kommunalen Ebene Mitgefühl einer Gruppe für eine andere; auf einer internationalen Ebene Mitgefühl der Bürger einer Nation für die Menschen anderer Nationen. Mitgefühl ist das Gegenteil von und das Heilmittel für unsere übliche Selbstbezogenheit, die uns drängt, das Beste und Meiste für uns selbst herauszuholen, um unser eigenes Glück sicherzustellen. Selbstbezogenheit bringt Schwierigkeiten für die Menschen in unserer Umgebung mit sich, und ihre Probleme stören nicht nur deren Ruhe, sondern auch unsere.
Vor vielen Jahren wollten viele der Bürger der Stadt, in der ich (Chodron) damals lebte, keine höheren Steuern zahlen, um Schulen und außerschulische Aktivitäten für Kinder und Jugendliche zu unterstützen. Sie dachten sich, sie hätten, da ihre eigenen Kinder schon erwachsen waren, keinen Grund, für die Bildung anderer Leute Kinder zu zahlen. Gegen die Verwendung ihrer Steuern für den Bau weiterer Gefängnisse, die sie vor Kriminellen schützen sollten, hatten sie jedoch nichts einzuwenden. Was sie allerdings nicht erkannten, war, dass diese beiden Dinge zusammenhängen.
Wenn Kinder keine gute Bildung erhalten und außerschulische Aktivitäten wie beispielsweise Sport gestrichen werden, kann es leicht passieren, dass sie in die Drogenszene abrutschen. Der Drogenkonsum kostet jedoch Geld, also beginnen manche von ihnen zu stehlen. Die Läden, die sie ausrauben und die Häuser, in die sie einbrechen, gehören oftmals den Leuten, die gegen eine Erhöhung der Einkommensteuer stimmen. Wenn Kinder keinen Zugang zu den Einrichtungen und der Bildung haben, die sie brauchen, und ihre Familien, Schulen und die Gesellschaft im Allgemeinen nicht gut für sie sorgen, hat das negative Folgen für uns alle. Wir sind alle miteinander verbunden.
Wir mögen uns durchsetzen, wenn wir uns nur um uns selbst und die uns nahestehenden Menschen scheren, aber es wird fast immer auf uns zurückfallen, wenn wir andere demütigen und ihr Leid ignorieren. Alle Konflikte und Kriege der Weltgeschichte bezeugen diese Tatsache. Wenn wir also selbst glücklich sein wollen, müssen wir auch das Glück anderer im Blick haben. Anstatt manche Menschen als „Feinde“ zu betrachten, deren Bedürfnisse keine Rolle spielen, können wir zu ihrem Wohlergehen beitragen. Weil wir sie als Menschen achten, ihnen helfen, ihre Grundbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung, Obdach und medizinische Versorgung zu erfüllen, und ihren Wunsch respektieren, akzeptiert zu werden, Liebe und Fürsorge zu empfangen und zu geben und zum Gemeinwohl beizutragen, gibt es keinen Grund für sie, uns feindlich gegenüberzutreten, denn wir haben alles getan, damit sie glücklich sein können und ihr Leiden enden kann. Ein Feind wird zum Freund. In der Geschichte gibt es viele Beispiele dafür, manche sogar aus unserer Zeit. Großbritannien und die USA betrachteten beispielsweise Deutschland und Japan in den 1940er Jahren als Feinde und heute sind diese Länder Verbündete, die gut zusammenarbeiten.
Die Menschen sind heutzutage abhängiger voneinander als je zuvor in der Menschheitsgeschichte. Anders als vor Jahrhunderten bauen heute nur noch sehr wenige Menschen ihre eigene Nahrung an, stellen ihre Kleidung selbst her oder bauen ihre Häuser selbst. Viele von uns wissen gar nicht, wie man das macht, und so sind wir abhängig von Leuten, die das können. Wir sind auch abhängig von den Menschen, die unsere Straßen bauen oder bestimmte Technologien entwickeln, sowie von denen, die uns alles beibringen, was wir wissen, um nur ein paar zu nennen. Wenn uns erst einmal bewusst wird, dass wir untrennbar miteinander verbunden sind, erkennen wir, dass gegenseitige Fürsorge heute unverzichtbarer ist als je zuvor.
Bei einem Treffen mit Großstadtkindern, die in Stadtvierteln mit hoher Kriminalität leben und daher gefährdet sind, selbst zu Gewalttätern zu werden, sagte der Dalai Lama: „Gewalt ist altmodisch. Krieg ist altmodisch. Wir verfügen über ein so hoch entwickeltes Gehirn wie keine andere Spezies, also müssen wir unsere Intelligenz benutzen, um einander zu helfen. Dann werden wir alle profitieren und in Frieden miteinander leben.“ Mitgefühl ist der Weg dorthin.
BETRACHTUNG
Mitgefühl in die Welt tragen
Stellen Sie sich eine Situation in der Welt oder in Ihrem eigenen Leben vor, die durch Mitgefühl verbessert werden könnte. Stellen Sie sich vor, wie anders diese Situation sein könnte, wenn die daran beteiligten Menschen mitfühlend empfinden, denken und handeln würden und wünschten, dass andere nicht leiden müssen.