Читать книгу Die Weisheit eines offenen Herzens - Thubten Chodron, Russell Kolts - Страница 18

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8 Eine andere Art von Stärke


Obwohl das Entwickeln und Kultivieren von Mitgefühl manchmal herausfordernd und unbequem sein kann, lohnt es sich. Mitgefühl hilft uns, unsere Werte zu leben, anderen Menschen zu helfen, Probleme in unseren Gemeinden zu lösen und zu einer besseren Welt beizutragen. Wenn wir mit Mitgefühl auf Herausforderungen antworten, können wir unsere innere Einstellung ändern und positiv auf die Situationen und Menschen einwirken, die uns begegnen; wir können anderen und uns selbst Unterstützung geben, wenn wir mit Dingen konfrontiert werden, die wir nicht ändern können.

Je öfter wir Mitgefühl praktizieren, desto einfacher wird es. Wir entdecken, dass wir dazu fähig sind. Wir stellen fest, dass wir mit all den beängstigenden Gedanken, die wir in unserem Geist erzeugt haben, sowie mit den Gefühlen, von denen wir glaubten, sie seien ganz und gar unerträglich, umgehen können. Wenn wir uns den Dingen, die uns ängstigen, immer wieder mutig stellen, hören sie auf, so beängstigend zu sein.

Psychologen nennen dies Habituation. Es bedeutet, dass ein Gewöhnungseffekt eintritt, wenn wir uns immer wieder den Dingen aussetzen, die uns ängstigen, und dann nichts Schreckliches passiert. Unsere Angst lässt dann im Lauf der Zeit allmählich nach. Wie Shantideva in The Way of the Bodhisattva schrieb: „Es gibt nichts, das nicht durch Vertrautheit leichter wird.“1

Wenn wir mit Menschen zusammen sind, die trauern, Angst haben oder wütend sind, und ihnen gegenüber eine mitfühlende Haltung einnehmen, beginnen wir zu verstehen, dass wir intensive Gefühle anderer aushalten können, ohne darauf reagieren oder etwas in Ordnung bringen oder flüchten zu müssen. Wenn wir mit Menschen in Kontakt kommen, deren Herkunft oder Hintergrund, Manieren, Glaubensvorstellungen oder Lebensweise uns anfangs abstoßen, verstehen wir allmählich, dass auch sie wertvolle Menschen sind, die genau wie wir Hoffnungen und Träume haben und genau wie wir einfach glücklich sein und nicht leiden wollen.

Als ich (Russell) anfing, in Gefängnissen Compassion-Focused-Therapy-Gruppen für den Umgang mit Wut zu leiten, war ich zunächst ein bisschen eingeschüchtert. Einige der Gefangenen saßen wegen Vergewaltigung, Mord und anderen Gewalttaten ein, und ich war hier, um mit den richtig Wütenden zu arbeiten! Doch bald stellte ich fest, dass diese Männer in vielen Dingen genau wie ich waren und dass sie, wenn man ihnen die Gelegenheit gab und ihnen mit Mitgefühl begegnete, nicht nur Verantwortung für ihre Taten übernahmen, sondern auch dafür, ihr Leben zu ändern, und sich darum bemühten, ihre Wut durch Mitgefühl zu ersetzen.

Jetzt, nach mehr als drei Jahren Gruppenarbeit, kann ich voller Überzeugung sagen, dass ich niemals mit einer engagierteren Gruppe von Menschen gearbeitet habe. Obwohl es einige Sitzungen dauerte, bis diese Männer die Vorstellung an sich heranlassen konnten, sich selbst als „mitfühlend“ zu betrachten, begannen sie fast unmittelbar, alles umzusetzen, was ich sie über Mitgefühl und das Praktizieren von Mitgefühl lehrte. Anstatt sich selbst und andere zu verurteilen und zu verdammen, versuchten sie zu verstehen. Anstatt auf kleine (und große) Provokationen mit Wut und Gewalt zu reagieren, begannen sie, in solchen Situationen einen Moment innezuhalten, um „sich abzuregen“, und versuchten, die Dinge von einem anderen Standpunkt aus zu sehen. Anstatt gleichgültig zu bleiben, fingen sie an, anderen Inhaftierten mit Freundlichkeit zu begegnen. Das ging so weit, dass sie ihren Zellengenossen und anderen im selben Trakt beizubringen versuchten, was sie lernten. Der häufigste Kommentar, den ich von diesen Männern zu hören bekam, war, dass sie oft von anderen Menschen – von den Vollzugsbeamten bis hin zu ihren Angehörigen – gefragt wurden: „Was ist passiert? Du bist so anders. Was machst du?“ Ihre Antwort lautete: „Mitgefühl.“

Wenn wir uns erlauben, voller Mitgefühl die ganze Bandbreite unserer Emotionen zu erleben, auch solche, die uns überwältigend oder abstoßend erscheinen, fangen wir an zu verstehen, dass wir sie fühlen können, ohne davon überwältigt zu werden. Indem wir mit unserer Angst, Wut, Trauer, Gier oder unserem Abscheu vertraut werden, lernen wir, dass es möglich ist, in diese Gefühle hinein- und wieder herauszukommen, ohne darin gefangen zu bleiben. Wir können lernen, mit uns selbst warmherzig und mitfühlend umzugehen, wenn wir mit unseren schwierigen Gefühlen zu kämpfen haben – so wie wir mit anderen Menschen in solchen Situationen umgehen. Auf diese Weise entdecken wir allmählich Möglichkeiten, uns sicher zu fühlen, während wir zulassen, alle Gefühle, die da sind, zu erleben. Wir lernen, Empathie auszudrücken, und entwickeln mitfühlende Kompetenzen, auf die wir in unserem Leben zurückgreifen können.

Wenn all das zusammenkommt – Habituation, Erkennen, Verständnis und neue Kompetenzen –, verfügen wir über eine neue Art von Stärke. Wir erleben ein Selbstvertrauen und eine Furchtlosigkeit, die in der Tat beeindruckend sind. Es ist die Stärke, sich dem Leben zu stellen – gerade so, wie es kommt.

Unsere Angst weicht der Zuversicht: „Was auch geschieht, ich kann einen Weg finden, damit umzugehen.“ Indem wir erkennen, was uns verbindet, wird die Vorstellung vom „Feind“ lächerlich. Wenn wir uns durch Sichtweisen, die sich von unseren unterscheiden, nicht länger bedroht fühlen, werden wir besonnener, und das Bedürfnis, ständig unsere eigenen Ansichten durchzusetzen, weicht der Bereitschaft, zuzuhören und von anderen zu lernen.

Indem wir erkennen, dass die Dringlichkeit, die wir empfinden, wenn ein starkes Gefühl hochkommt, einfach nur ein Aspekt des Gefühls selbst ist, können wir auch sehen, wenn eine Situation eine ausgewogenere, differenziertere Herangehensweise erfordert. Denken Sie an eine Auseinandersetzung mit einem Partner oder einem Familienmitglied, bei der Sie wütend wurden und absolut sicher waren, dass Ihre Sichtweise die richtige ist. Die Wut oder Frustration kommt hoch und Sie verspüren den intensiven Drang, die Auseinandersetzung fortzuführen – zu versuchen, dem Gesprächspartner Ihren Standpunkt einzuhämmern –, selbst wenn Ihnen die Körpersprache Ihres Gegenübers eindeutig zu verstehen gibt, dass im Moment nichts zu ihm durchdringt. In solchen Situationen können wir erkennen, dass es bei unserem Drang, das Gespräch fortzusetzen, weniger darum geht, was jetzt hilfreich wäre. Es ist einfach nur die Art, wie sich unsere Wut in unserem Geist ausdrückt. Wenn wir das verstehen, können wir uns stattdessen entscheiden, zunächst einmal innezuhalten. Es ist bemerkenswert, wie unsere Fähigkeit, dies zu tun und dem anderen zuzuhören, dazu beiträgt, auch ihn dazu zu bewegen, sich „abzuregen“ und uns zuzuhören. Wir lernen auch, dass wir unsere Gefühle akzeptieren können, ohne sie auszuagieren, ihnen auszuweichen oder uns vorzuwerfen, dass wir sie haben. Stattdessen können wir ihnen wohlwollend begegnen, wie alten Freunden, die wir schätzen, die uns aber manchmal in die Irre führen können: „Wut, ich erkenne dich. Obwohl ich verstehe, dass du nur versuchst, mich zu schützen, ist deine Art, an die gegenwärtige Situation heranzugehen, nicht wirklich angemessen. Ich will dir helfen.“

Denken Sie an Menschen, die Ihnen vielleicht als Vorbild für Mitgefühl dienen können: Seine Heiligkeit der Dalai Lama, Jesus Christus, Mahatma Gandhi, Nelson Mandela, Mutter Theresa. Sie alle zeigen Furchtlosigkeit im Angesicht von Situationen, die viele von uns veranlassen würden, sich wegzuducken. Sie machen weiter, wo sich viele andere abwenden würden. Das heißt nicht, dass sie nie Angst hatten. Es heißt einfach, dass sie keine Angst vor der Angst hatten. Sie akzeptierten ihre Angst und gingen dennoch weiter. Das ist der Mut des Mitgefühls.

BETRACHTUNG

Die Essenz des Mitgefühls ist die Erkenntnis, dass wir alle glücklich und frei von Leiden sein wollen.

Diese einfache Wahrheit verbindet uns alle. Denken Sie einmal über Ihr tiefstes Verlangen nach: Drehen sich nicht alle Ihre Aktivitäten jeden Tag um den Wunsch, glücklich zu sein und nicht zu leiden?

Das gilt auch für jeden anderen Menschen. Die Person, die im Supermarkt vor Ihnen in der Kassenschlange steht und laut in ihr Handy spricht, will glücklich sein und nicht leiden. Der Politiker, der in der Fernsehsendung seinen Kontrahenten bösartig attackiert, will glücklich sein und nicht leiden. Der Mann, der am Straßenrand um ein paar Münzen bettelt, will glücklich sein und nicht leiden. Wenn wir hinter die äußere Fassade der Handlungen anderer schauen können, sehen wir den tiefen Wunsch, glücklich zu sein und nicht zu leiden.

Erinnern Sie sich im Laufe des Tages bei Ihren Begegnungen mit anderen immer wieder daran, dass deren tiefster Wunsch, wie der Ihre, darin besteht, glücklich zu sein und nicht zu leiden. Wenn Sie an einer roten Ampel stehen, im Zug unterwegs sind, eine Straße entlang gehen oder in einer Schlange warten, schauen Sie sich die Menschen an und denken Sie: „Dieser Mensch wünscht sich genau wie ich, glücklich zu sein und nicht zu leiden.“ Lassen Sie dieses Bewusstsein tief in Ihr Herz sinken. Gehen Sie dann noch einen Schritt weiter und senden Sie diesen Menschen gute Wünsche: „Mögest du glücklich und frei von Leiden sein.“ Und diesen freundlichen Wunsch können wir auch zu uns selbst aussenden. Das wiederholte Aussenden mitfühlender Wünsche kann uns innerlich transformieren: Während wir uns allmählich mitfühlende Verhaltensweisen angewöhnen, ersetzen diese unsere Angewohnheit, zu urteilen, zu kritisieren und zu beschämen, die uns in der Wut, der Angst und Negativität gefangen hält.

Die Weisheit eines offenen Herzens

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