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5 Falsche Vorstellungen loslassen und Frieden mit unseren Ängsten schließen


Wenn wir das Wort „Mitgefühl“ hören, kommen uns verschiedene Bilder in den Sinn: eine Mutter, die zärtlich für ihr Kind sorgt, Mutter Theresa, die sich liebevoll um Sterbende kümmert, Anteilnahme am Leid anderer. Das Wort kann aber auch andere, weniger positive Assoziationen auslösen: das Gefühl, vom Leid anderer erdrückt oder überfordert zu werden, die Furcht, ausgenutzt zu werden, oder Dinge zuzulassen, mit denen man eigentlich gar nicht einverstanden ist.

Die wahre Bedeutung von Mitgefühl zu verstehen, ist gar nicht so leicht. Hier ist Kontemplation notwendig, und wir müssen Frieden mit unseren Ängsten schließen und falsche Vorstellungen loslassen. Dadurch öffnet sich unser Herz für uns selbst und andere auf eine Weise, wie wir es nie zuvor für möglich gehalten hätten.

Eine falsche Vorstellung ist die, Mitgefühl bedeute, jemanden zu bemitleiden. Stellen Sie sich vor, Ben stellt sich mit einer überlegenen Attitüde vor einen Obdachlosen und denkt: „Wie schrecklich! Armer Teufel! Du tust mir leid“, wobei unausgesprochen mitschwingt: „Es ist eine Schande, dass du nicht so intelligent bist wie ich und dumme Sachen gemacht hast, so dass du auf der Straße gelandet bist.“ Das ist kein Mitgefühl, sondern Herablassung gemischt mit Bemitleiden.

Anderen mit Mitgefühl zu begegnen bedeutet, sie als gleichwertig zu betrachten. Wir sind alle Menschen, die nach Glück streben und nicht leiden wollen. Shantideva, ein buddhistischer Weiser, der im achten Jahrhundert lebte, veranschaulicht dies mit der Analogie unserer Hand, die einen Dorn aus unserem Fuß zieht. Die Hand denkt nicht: „Ich, die großartige und glorreiche Hand, schenke dir gnädig mein Mitgefühl, dem dummen Fuß, der nicht aufgepasst hat, wo er hintrat, obwohl ich dir gesagt hatte, dass du dich vor Dornen in Acht nehmen sollst. Und jetzt steckst du in diesen Schwierigkeiten und hast wirklich großes Glück, dass ich da bin, weil ich dich wieder einmal retten werde. Fuß, ich wünschte wirklich, du würdest dich einmal zusammenreißen und auf dich selbst aufpassen. Es ist mir sehr lästig, dir zu helfen, aber ich tue es trotzdem. Vergiss also nicht, was ich für dich tue, denn du bist mir nun etwas schuldig.“

Uff, da lädt die Hand eine Menge auf dem Fuß ab, der ja schon unter dem Dorn zu leiden hat. Weder die Hand noch der Fuß sind glücklich mit der Situation.

Wenn echtes Mitgefühl da ist, erkennen die Hand und der Fuß, dass sie Teil desselben Organismus sind. Da gibt es kein Machtgefälle, keinen herablassenden Ego-Trip, keine Schuldzuweisung oder Verpflichtung. Die Hand zieht einfach den Dorn aus dem Fuß, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden. Es ist ihr natürlicher Instinkt und es kommt beiden zugute. Wenn wir also anderen helfen, sollten wir auf unsere Motive achten und es mit echtem Mitgefühl tun.

Respekt für andere ist ein wesentliches Merkmal des Mitgefühls und echtes Mitgefühl fördert Respekt. Den meisten Menschen ist es wichtiger, respektvoll behandelt zu werden, als es physisch bequem zu haben. Diejenigen unter uns, die normalerweise mit Respekt behandelt werden, betrachten das vielleicht als selbstverständlich und verstehen gar nicht, wie essenziell das tatsächlich für uns ist. Menschen, denen Respekt versagt wird – Arme, Kranke, Behinderte, Inhaftierte und Unterdrückte –, kennen den Schmerz, den Respektlosigkeit verursacht, nur allzu gut.

Während eines Seminars, das ich (Chodron) über Mitgefühl hielt, bat ich meine Schüler, zu versuchen, täglich mindestens eine Tat aus echtem Mitgefühl heraus zu tun. In der folgenden Woche erzählte ein Schüler, dass er in der Innenstadt gewesen war, wo er eine Frau gesehen hatte, die auf dem Bürgersteig saß und bettelnd ihre Hände ausstreckte. Das hatte sein Mitgefühl geweckt und er wollte helfen. Er hatte nicht viel Geld bei sich, aber er zog einen Dollar aus der Tasche und überreichte ihn der Frau mit beiden Händen, während er ihr in die Augen schaute und sagte: „Ich wünschte, ich könnte Ihnen mehr geben, aber das ist alles, was ich bei mir habe.“

Die Frau blickte auf und schaute ihn mit Tränen in den Augen an. „Das ist das erste Mal, dass mich jemand mit Respekt behandelt hat, seit ich hier bin“, sagte sie, „das bedeutet mir mehr als das Geld.“

BETRACHTUNG

Mitgefühl und Respekt

Versuchen Sie, sich an eine Situation zu erinnern, in der Sie bemitleidet wurden und Sie dabei das Gefühl hatten, dass jemand auf Sie herabschaut oder Sie nicht respektiert. Falls Sie sich nicht an eine solche Situation erinnern können, stellen Sie sich vor, wie das für Sie wäre. Schauen Sie sich diese Gefühle an.

Rufen Sie sich jetzt eine Situation ins Gedächtnis, in der Ihnen jemand mit Mitgefühl begegnete – vielleicht respektvoll Hilfe anbot, als Sie sie brauchten, irgendetwas tat, um Ihren Tag schöner zu machen, oder einfach Ihre Hand hielt, als Sie traurig waren. Nehmen Sie auch hier wieder wahr, welche Gefühle das auslöst.

Nehmen Sie nun die unterschiedlichen Auswirkungen von Bemitleiden und respektvollem Mitgefühl auf Ihren inneren Zustand wahr. Unsere Haltung und unsere Einstellungen gegenüber anderen Menschen können einen enormen Einfluss auf deren Denken und Fühlen haben. Denken Sie darüber nach, welche Wirkung Sie auf andere haben wollen. Welche Gefühle möchten Sie in anderen wachrufen?

Die Weisheit eines offenen Herzens

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