Читать книгу Die Weisheit eines offenen Herzens - Thubten Chodron, Russell Kolts - Страница 16
Оглавление6 Mitgefühl bedeutet Mut
Wenn sie das Wort „Mitgefühl“ hören, denken manche Leute, es bedeute, auf alles einzugehen, was ein anderer Mensch will. Andere denken, Mitgefühl bedeute, zu versuchen, eine Welt zu schaffen, in der alles vollkommen ist und alle sich bei der Hand fassen und spirituelle Lieder singen. In dieser imaginären Welt hat kein Mensch je mit irgendetwas zu kämpfen, niemand weint, alle Konflikte werden sanft gelöst, es gibt keinen Schmerz und keine Schwierigkeiten und wir alle leben glücklich bis ans Ende unserer Tage.
Manche Menschen stellen sich unter Mitgefühl einen Zustand vor, in welchem man über allem steht, mit heiterer Gelassenheit alle weltlichen Probleme hinter sich lässt und unversehrt und unbeeinflusst von Schwierigkeiten durchs Leben geht. Wir stellen uns vielleicht vor, wie wir mit einem feinen Lächeln durchs Leben schweben, mit anderen auf eine Weise kommunizieren, die sie wie durch Zauberhand sofort und mühelos von ihren inneren und äußeren Kämpfen befreit und sie inspiriert, ihr Leben um 180 Grad zu drehen. Wir stellen uns vielleicht vor, wie wundervoll die Welt wäre, wenn nur jede(r) die Welt von unserem Standpunkt aus betrachten würde und wenn diese armen Menschen verstehen könnten, was wir verstehen.
Hier eine Kurzmeldung: Das hat mit Mitgefühl nichts zu tun. Es ist Selbstgefälligkeit und riecht nach etwas, das Chögyam Trungpa „Narren-Mitgefühl“ nannte. Mitgefühl ist weder abgehoben noch versponnen. Es ist nicht anmaßend. Es bedeutet nicht, immer nur nett zu sein und es gemütlich zu haben, und es ist auch keine Ausrede dafür, sich anderen überlegen zu fühlen.
Stellen Sie sich vor, Sie wären Installateur und jemand riefe Sie an, weil seine Toilette nicht mehr richtig funktioniert. Er berichtet von einem schrecklichen Geruch, der von unterhalb des Hauses nach oben zieht, was auf ein Leck in einem Abwasserrohr hinweisen könnte, das erneuert werden muss. Wir kommen in unserer sauberen, weißen Arbeitskleidung an, unterhalten uns mit dem Kunden über das Problem und geben gut gemeinte Ratschläge: „Diese Dinge erledigen sich oft von selbst. Achten Sie darauf, dass Sie keine verkehrten Sachen in die Toilette werfen. Trinken Sie eine schöne Tasse Tee, essen Sie einen Keks und Sie werden sich gleich besser fühlen.“ Das ist alles gut und schön, aber es wird das Problem nicht lösen. Wir müssen den Kanalzugang unter dem Haus öffnen, hineinkriechen, um das Problem zu diagnostizieren, unser Werkzeug durch den Dreck schleifen und das geborstene Rohr reparieren. Es wird ungemütlich sein. Der Geruch wird sehr unangenehm sein. Die weiße Arbeitskleidung wird definitiv schmutzig werden. Aber das ist es, was getan werden muss, wenn wir helfen wollen.
Und so setzt auch Mitgefühl eine Bereitschaft voraus, mit dem Schmerz und dem Leiden in Berührung zu kommen – unserem eigenen und dem Leid derjenigen, denen wir helfen wollen. Mitgefühl setzt voraus, dass wir dableiben, wenn es ungemütlich wird, dass wir die schwierigen Gefühle aushalten, die hochkommen, wenn wir in Kontakt mit dem Leiden kommen und mit denen, die es durchmachen. Mitgefühl bedeutet Mut.
Es ist nicht leicht, mit Menschen zusammen zu sein, die leiden. Und das hat auch etwas mit unserer Gehirnstruktur zu tun: Bestimmte Zellen in unserem Gehirn, sogenannte „Spiegelneuronen“ erlauben uns, bis zu einem gewissen Grad nachzufühlen, was diejenigen fühlen, mit denen wir in Kontakt sind. Deshalb schaudern wir, wenn wir sehen, dass jemand Schmerzen leidet – wir spüren psychisch etwas von ihrem Schmerz. Zeuge des Leidens anderer zu werden kann intensive Gefühle bei uns auslösen, Gefühle, die auszuhalten und mit denen zu arbeiten wir lernen müssen, wenn wir hilfreich sein wollen. Die Gefühle, die hochkommen, wenn wir andere (oder sogar uns selbst) leiden sehen, können sehr schmerzlich sein, aber das ist keine schlechte Sache. Es ist ein wesentlicher Aspekt des Mitgefühls, es ist Teil unserer emotionalen „Grundausstattung“.
Probieren Sie eine kurze Übung aus: Atmen Sie ein paar Mal ein und aus und nehmen Sie bewusst Ihre Gefühle und Gedanken wahr. Sagen Sie nun zu sich: „Hungriges Kind.“ Nehmen Sie alle Gefühle wahr, die bei diesen Worten hochkommen und lassen Sie sie zu. Vielleicht fühlen Sie sich berührt oder traurig – diese Gefühle kamen bei mir hoch, als ich die Worte schrieb. Das ist kein Zufall. Wir werden mit der Fähigkeit geboren, unseren Schmerz miteinander zu teilen, und wir sind mit dem Instrumentarium des Mitgefühls ausgestattet, um darauf zu antworten.1
Es braucht Mut und Geduld, sich diesem Schmerz zu stellen. Das ist nicht leicht, denn wir haben starke Instinkte, die uns vor allem zurückschrecken lassen, was uns unangenehm ist. Aber wenn wir uns ständig erlauben, dem äußeren und inneren Leiden auszuweichen, werden wir nicht in der Lage sein, es gut genug zu verstehen, um helfen zu können. Wir müssen bereit sein, uns in den Leidenden hineinzuversetzen, die Welt durch seine oder ihre Augen zu betrachten. Wir müssen fähig sein, dazubleiben und zuzuhören. Und das bedeutet, dass wir unsere gewohnheitsmäßige Reaktion, aus der Situation zu flüchten, zu urteilen oder gedankenlosen Rat zu erteilen, aufgeben müssen, damit wir weitergehen können. Stattdessen müssen wir uns das Leiden genau anschauen, um sein Wesen und seine Ursachen zu verstehen und zu wissen, was heilsam sein kann. Wenn wir dann mitfühlend handeln, können wir es mit Weisheit und Selbstvertrauen tun.
BETRACHTUNG
Uns selbst kennenlernen
Denken Sie an ein paar Situationen, in denen Sie sich unwohl fühlen und die Sie gerne meiden. Wie empfinden und reagieren Sie beispielsweise, wenn Sie mit Menschen zusammen sind, die körperliche Schmerzen leiden oder die Trauer, Kummer, Angst, Wut oder Hoffnungslosigkeit fühlen? Überlegen Sie, welche Erfahrungen Sie mit diesen Menschen teilen können und welche Sie dazu bringen, sich zurückzuziehen.