Читать книгу Ego - oder das Unglück, ein Mann auf dem Mars zu sein - Till Angersbrecht - Страница 4

Wie konnte das nur passieren?

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Sein Name war Ego – schlicht und einfach Ego ohne jede Vor- oder Nachbezeichnung. Aber er war weder ein Egoist noch konnte er sich eines besonderen Ichgefühls rühmen, wie der Name ja eigentlich nahelegt. Im Gegenteil, sein Ich war kümmerlich unterentwickelt, denn in aller Selbstlosigkeit ging er voll und ganz im Dienst der Gemeinschaft auf. Glück brachte ihm dieser Dienst freilich nicht. Wenn man seit beinahe zwei Jahrzehnten in Marsopolis, der Stadt der Frauen, mit diesem Ding herumlaufen muss, dann liegt das Glück eher fern!

Dabei fehlte es Ego keinesfalls an professioneller Korrektheit. Immerhin war er dafür verantwortlich, den hochverehrten Bewohnerinnen der oberen Stadt ein wenig von jener Lust zu verschaffen, die ihnen offiziell ganz verboten ist und auf die dennoch so viele von ihnen – sagen wir ruhig, beinahe alle - nicht verzichten können und wollen, denn das Ideal völliger Entsagung von aller Sünde hat der Mensch eben nirgendwo verwirklicht - auch nicht in Marsopolis, dem bis heute fortschrittlichsten aller von Menschen bewohnten Ansiedlungen.

An diesem Tag, wo wir Ego zum ersten Mal begegnen, hatte ihn eine besonders unscheinbare Bewohnerin auf dem Gang zum ersten Obergeschoss angesprochen. Jede Frau weiß ja, welchen Diensten Ego in dieser Stadt obliegt. Nicht an seiner Kleidung erkennen sie es und schon gar nicht an einem äußerlich ungehörigen Betragen, nein, in dieser Hinsicht ist Ego ohne Fehl und Tadel. Sie erkennen es an dem etwas röteren, zweifellos der Schminke zu verdankenden Rot seiner Lippen.

Ja, und dann ist da noch die Frisur. Die Frauen in Marsopolis tragen sie zu kunstvollen Gebilden geschichtet, die sie mit Kämmen am Kopf fixieren, aber Ego und seinesgleichen, von denen es in der Oberstadt noch an die zweihundert gibt, lassen ihr Haar glatt auf die Schultern fallen – ihre geringe Stellung und Außenseitertum erkennt frau deshalb schon aus der Entfernung. Außerdem ist ihm ein Anflug von Dunkelheit zwischen Nase und Oberlippe geblieben, wofür er sich ganz besonders schämt. Trotz größter Bemühungen hat sich dieser Restbestand seiner ursprünglichen Natur nicht völlig beseitigen lassen. Jeden Morgen, wenn Ego sich im Spiegel erblickt und für den Tag herausputzt, blickt er mit tiefer Bekümmernis auf dieses unaustilgbare Brandmal einer geburtsbedingten Zweitrangigkeit.

Doch da er am heutigen Tag guter Dinge ist, wollen wir diesen Bericht nicht mit Jammerei beginnen, zumal wir uns auf dem Mars befinden, wo der Mensch seine erste, ganz und gar mangelhafte Natur überwand, um sich eine zweite und dritte Natur zu kreieren, mit anderen Worten sich selbst völlig neu zu erschaffen. Das ist freilich eine Geschichte, die ich erst nach und nach erzählen werde. Vorerst haben wir es nur mit Ego selbst zu tun, diesem missglückten Exemplar des neuen Menschen. Der Grund, warum wir uns aber gerade seiner Person zuwenden, ist nicht schwer zu verstehen: In Marsopolis wird etwas Unvorhergesehenes geschehen, etwas, das gar nicht geschehen dürfte – Ego aber wird als Held im Mittelpunkt dieses Geschehens stehen, obwohl er doch von Natur aus alles andere als ein Held ist und auch niemals danach strebte, einer zu sein.

Ein Mensch wie Ego – die Bezeichnung „ein Mann wie Ego“ sollten wir ihm ersparen, denn er wollte diesem Geschlecht ja niemals angehören – ein solcher Mensch geht ganz im Dienste am Nächsten auf: im wortwörtlichen Sinne ist er ja öffentlicher Besitz. Alle Frauen der Oberwelt haben ein Recht auf ihn. Auf einen Wink – einen ganz unauffälligen Wink, versteht sich, denn sündhaftes Treiben muss sich hier wie sonst auf der Welt sorgfältig verbergen – auf einen solchen Wink muss Ego jeder sofort zu Willen und Diensten sein, das gehört zu seinem Berufsethos, das ist es, was die Frauen von Marsopolis von ihm erwarten.

An diesem Tage begegnete Ego einer unscheinbaren Person namens Ella. Wie schon gesagt, liegt in einer solchen Begegnung nichts Außergewöhnliches, im Gegenteil, sie gehört zum Alltäglichsten in seinem Leben. Aus irgendeiner Wabe – so werden hier die eng aneinandergedrängten Wohnungen genannt – schaut ein weiblicher Kopf hervor, ein Arm reckt sich vor, tippt ihm auf die Schulter, und schon beginnt eine neue Arbeitsstunde. Das ist an und für sich völlig normal. Die Lust überkommt den Menschen ja meist ohne Vorbereitung, sie fällt sozusagen aus heiterem Himmel – für die fortschrittliche Frau auf dem Mars gilt das genauso wie für die Bewohner anderer Himmelskörper. Ella hatte sich ihm von hinten genähert, sie bemerkte sein glatt auf die Schultern herabfallendes Haar und vorsichtshalber warf sie auch noch einen Blick auf seine geschminkten Lippen. Eigentlich war sie ein schüchternes, zurückhaltendes Wesen, doch selbst diese Schüchternheit kam nicht gegen jene Urgewalt an, welche der Fachmann mit dem Wort „Libido” oder “Begehren bezeichnet. Schüchterne Naturen sind dieser Gewalt ebenso ausgeliefert wie schamlose Draufgänger(innen).

Ella tupfte Ego also nach der hier üblichen Art mit vorgestrecktem Zeigefinger auf die Schulter, woraufhin dieser ihr, ohne zu zögern, zu ihrer Wabe folgte.

Ein Schwarzhaarige aus dem Südbezirk, dachte sich Ego, deswegen tupft sie mir so behutsam auf die Schulter. Ganz anders als die Silberhaarigen aus dem Norden, das sind Draufgängerinnen, die keine Hemmungen kennen.

Die Wabe der Schüchternen unterschied sich allerdings in keiner Hinsicht von den vielen anderen, die Ego bis dahin besuchte. Da gibt es die große Truhe für die Toilette, in der sich die zwei Tageskleider befinden und – abgesondert in einem etwas größeren Wandschrank - das Festkleid für den Tag der Göttin Eana. Daneben befinden sich dann noch die Regale für die vielen bunten Pantoffeln, mit denen frau auf Marsopolis einen wirklichen Kult betreibt, und dann ist da natürlich noch das breite Lager, das in aller Regel groß genug ist, um wenigstens Platz für drei Personen zu bieten, denn ihre erotischen Bedürfnisse stillen die Frauen auf Marsopolis nicht selten mit zwei Freundinnen zugleich, wozu sie die besten Gründe haben, denn die ungerade Zahl, und vor allem die Drei, genießt auf dem Mars eine herausragende Bedeutung.

In der tiefen Ehrfurcht vor der heiligen Drei liegt ein zusätzlicher Grund, warum jede Frau, die sich nur zu zweit vergnügt, besondere Gewissensbisse verspürt. Diese werden zu purer Qual, wenn die zweite Person kein Vertreter des edlen Geschlechts ist, sondern wie Ego aus dem Restbestand früherer Zeiten stammt, also, wie man es hier abschätzig nennt, ein bloßes Männchen ist.

Ego weiß um den inneren Zwiespalt, in den sein Erscheinen und sein Beruf die Frauen auf dem Mars regelmäßig versetzt. Es betrübt ihn, wenn er erleben muss, wie diese zarten Wesen ganz entsetzlich mit sich kämpfen, während sie ihm auf die Schulter tupfen und sich von ihm zu ihrer Wabe folgen lassen. Einerseits quält es sie, dass sie gerade den Weg zur Sünde beschreiten, andererseits hält sie die innere Qual dennoch nicht von ihrem Vorhaben ab, denn der Mensch, und, ja, auch die Frau auf Marsopolis hat sich leider bis heute von der Sünde nicht losreißen können. Mögen Zwiespalt und innerer Kampf sie noch so sehr in Aufruhr versetzen: Kaum sind die Damen mit Ego allein, stürzen sie sich regelrecht auf und über ihn, denn alle vergehen vor Neugierde nach dem „Ding”.

Doch Ella war anders, auch wenn ihr anfängliches Verhalten auf die übliche Art verlief. Sie ging Ego durch die Tür ihres Zimmers voran und bat diesen, einen Augenblick an der Schwelle stehenzubleiben. Direkt über der Tür ist nämlich in jeder Wabe das sogenannte „Gewissen” montiert, eine kleine Kamera, die den ganzen Raum überblickt und den Holden im Fünften Reif gestochen scharfe Bilder über alles liefert, was in einer Wabe geschieht. Auf Marsopolis wird das Gewissen auch das „Auge Eanas” genannt. Es versteht sich, dass die Göttin nichts von dem sündhaften Treiben erblicken darf, das sich hier in Kürze abspielen wird. Deswegen griff Ella nach einem Tuch, womit sie das Gewissen verdeckt. Erst danach erteilt sie Ego mit einem Wink die Erlaubnis zum Betreten des Raums.

Doch dann setzte sich Ella zu Egos Erstaunen auf einen Stuhl und schlug die Augen nieder, ganz so als wäre sie auf einmal von ihrer eigenen Kühnheit gelähmt. Sie stürzte sich durchaus nicht auf das Männchen, riss ihm auch nicht die Kleider vom Leib, wie Ego es von den anderen Frauen gewohnt ist, sondern saß unbeweglich, beinahe starr auf ihrem Stuhl. Das war natürlich sehr verwirrend für Ego, doch sah er darin eine großartige Chance, der schüchternen Frau sein hohes professionelles Ethos zu demonstrieren. Um den höchsten Anforderungen seines Berufes zu genügen, hatte er nämlich in seinen Mußestunden alles an eleganten Bewegungen und choreographischem Zierrat erlernt, was den Kunstsinn der Frauen anzustacheln und zu verfeinern vermag.

Sie sind ein besonders kunstliebendes Geschlecht, sagte sich Ego. Deswegen bin ich es ihnen schuldig, nicht nur ihre physiologischen Bedürfnisse anzusprechen, sondern ihren Drang zu Kultur und Bildung.

Dazu war ihm der niedrige Tisch gerade recht, der den Mittelpunkt jeder Wabe bildet. Für seine Kunst der Entblätterung stellte er sozusagen ein natürliches Forum, eine Estrade und Bühne dar. Früher einmal sah sich Ego als großen Künstler gefeiert, der den animalischen Trieb auf dem Mars vergeistigen und am Ende ganz sublimieren würde. Leider musste er die Enttäuschung erleben, dass so manche, die ihm auf die Schulter klopfte, nicht den geringsten Bedarf nach Sublimierung verspürte. Fanden die Frauen es zu Anfang noch sehr erregend, das Männchen auf dem Tisch spielen und tänzeln zu sehen, so war ihnen schon beim zweiten und dritten Mal das Bedürfnis nach den höheren Reizen der Kunst vollständig vergangen. Sie wollten dann nur noch, wie frau es in Marsopolis auszudrücken beliebt, ganz einfach „zur Sache kommen”.

Man kann sich denken, wie sehr dieses Vorgehen Ego kränken, ja mit der Zeit erbittern musste: Er erblickte darin eine äußerste Geringschätzung seiner Person.

„Sie wollen doch immer nur dasselbe“, sagte er sich und war manchmal drauf und dran, von den Frauen enttäuscht zu sein, die er doch für höhere Wesen hielt. Doch letztlich bestärkte ihn auch diese Enttäuschung nur zusätzlich in seiner Selbstverachtung, denn in solchen Momenten fühlte er sich ganz und gar auf das unselige „Ding” reduziert, herabgewürdigt zu einem Instrument und Gebrauchsgegenstand. Aber er lehnte sich nicht gegen sein Schicksal auf. Wenn man wie die Frauen zu den höheren Wesen zählt, dann hatte frau auch eben ein Recht, mit einem erbärmlichen Männchen wie ihm auf diese Art zu verfahren.

An diesem Tag war jedoch alles anders. Obwohl keineswegs schön zu nennen oder in irgendeiner Hinsicht die Aufmerksamkeit auf sich lenkend, erwies sich Ella von Anfang an als ein außergewöhnliches Geschöpf. Sie hielt ihn durchaus nicht zurück, als er den Tisch bestieg, um ihr die geistige Dimension seiner Kunst zu beweisen. Vielmehr erfreute sie sich an jeder Bewegung, die er mit Armen und Beinen tänzelnd vor ihr vollführte. Dabei blickte sie ihn so versonnen und träumerisch an! Selbst als der vorläufige Höhepunkt seines Auftritts schließlich erreicht war und Ego – nur mit dem haarlosen Fell bekleidet, das dem Menschen von Natur aus zugedacht ist – in aller Blöße vor ihr stand, schien sie noch immer unter dem Eindruck seiner Kunst zu stehen.

Ein geistiges Geschöpf!, dachte Ego.

Natürlich galt auch Ellas sinnender und verwunderter Blick in erster Linie dem Ding, das die Frauen in Marsopolis ja nicht kennen und dessen Anblick sie deshalb mit Staunen erfüllt. Die traurige Deformation, die ihn selbst bei seinem allmorgendlichen Blick in den Spiegel stets von neuem deprimierte, weil sie den eigentlichen Makel seiner Existenz ausmachte, war für die Frauen, wenn sie zum ersten Mal einen Blick darauf warfen, etwas erschütternd Neues. Mehrfach hatte Ego erlebt, dass sie sich mit einem Schrei des Abscheus zur Seite wandten, oder dass andere hysterisch zu lachen begannen - manchmal so laut, dass er sie zur Vorsicht mahnen musste, denn Begegnungen mit seiner Person mussten ja nach außen sorgsam verheimlicht werden.

Andere Frauen hingegen, die Ego im Gespräch mit sich selbst als „wissenschaftlichen Typus” bezeichnete, griffen ungeniert zu, um die Konsistenz und das weitere Verhalten des Dings zu prüfen. Fassungslos aber waren im ersten Moment beinahe alle.

Kein Wunder, sagte sich Ego, mir würde es doch ganz genauso ergehen. Der Körper der Frauen lässt keine Steigerung im Grad der Vollkommenheit zu, eine schöne gleichmäßige Rundung schließt die Stelle ab, wo die Beine dem Rumpf entwachsen und verleiht diesem ein erhabenes Relief. Bei mir aber, dem unseligen Männchen, hängt dieser missgestaltete Schlauch hervor, ein Schwanz, ein verkümmertes drittes Bein oder ein Stachel, wie immer man die Sache bezeichnen will.

Ego hatte sich die Sicht der Frauen auf seine Person also völlig zu eigen gemacht. Umso mehr überraschte, ja verwirrte es ihn, dass dieses schüchterne Wesen an seiner Seite ihm gegenüber ein neues, ganz und gar ungewohntes Verhalten bewies. Träumerisch blickte sie an ihm hinauf und hinab, während er auf dem Tisch vor ihr stand. Sie wagte ihn zuerst überhaupt nicht zu berühren. Dann aber sprach sie einen Satz, der ihn im ersten Moment so sehr verstörte, dass sogar seine professionelle Erregung darunter litt.

Du bist schön!, flüsterte sie.

Das war unerhört und versetzte Ego anfangs in größte Verwirrung. Inzwischen ist ihm natürlich bewusst, was dieser Satz zu bedeuten hatte. Es war etwas geschehen, was eigentlich niemals geschehen durfte, weil seine Profession und die hohe Stellung der Frau auf dem Mars ein solches Vorkommnis grundsätzlich verboten. Ego und die wenigen anderen „Männchen”, die sich die Frauen in der Oberwelt hielten, waren Gemeinbesitz, auf die jede Frau das gleiche Recht und den gleichen Anspruch besaß. Und deswegen kam eben überhaupt nicht Frage, was sich nun trotz allem ereignet hatte.

Ella hatte sich in ihn verliebt – und, noch viel schlimmer: Ihm selbst erging es ihr gegenüber ganz genauso.

Dabei war dieser träumerisch gesprochene Satz doch völlig unsinnig und geradezu krank! Jeder Mensch, d.h. jede Frau auf Marsopolis, hat doch schon in der Schule gelernt, dass ein Mann niemals schön ist, gar nicht schön sein kann, denn der Mann ist eine Fehlplanung, ein Irrtum, ein Missgriff der Natur.

Ego - oder das Unglück, ein Mann auf dem Mars zu sein

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