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Ein betäubendes Getränk, die Genies und das Reich der Frauen

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Der Jahrestag der glorreichen Revolution fällt jeweils auf den Ersten Mai des soundsovielten Jahres nach MM (Beginn des Matriarchats auf dem Mars oder 2045 n. Chr.). Fünf Jahre zuvor hatte sich Marsopolis von Gaia unabhängig erklärt (5 v. MM). Aus der Gaia-Kolonie war ein unabhängiger Staat geworden, der aber weiterhin unter der Herrschaft der Männer stand. Diesem Zustand setzte erst die “Revolution der Holden” ein Ende; erst sie löste uns endgültig von einer Vergangenheit aus Aberglaube und Unterdrückung. Dieser größte Tag in der Geschichte des Mars wurde Jahr um Jahr vor dem “Felsen des kosmischen Lichts” gefeiert.

Ich nehme an, dass dieses grandiose Naturspektakel noch nicht in sämtlichen Winkeln des Alls bekannt ist. Selbst der gebildete Leser auf einer unserer vielen bewohnten Planetenkugeln jenseits unseres Sonnensystems kann daher nicht unbedingt wissen, was ihn an diesem Felsen erwartet. Von den sieben Weltwundern auf Gaia hat er sicher gehört. Als dessen größtes gelten verschiedene Steinhaufen in Ägypten, die sie Pyramiden nennen, weil sie wie zugespitzte Zahnstocher meilenweit in den Himmel ragen. Ein anderes Weltwunder war die Arche Noah: ein bescheidener Holzkahn, dessen Passagiere aber nicht einmal Menschen, sondern fast ausschließlich Tiere waren. Auf dem roten Planeten gibt es zwar nur ein einziges Wunder, aber das ist, wie ich meine, allen Wundern sämtlicher übrigen Himmelskörper haushoch überlegen. Es sind die grünen Niagarafälle, oder, wie sie bei uns offiziell genannt werden, die “Quellen des Himmlischen Lichts”.

Etwa eine Stunde vor Anbruch der Dunkelheit machte sich Ella mit ihrem Gefährten Ego auf den Weg. Dieser saß neben ihr auf dem Beifahrersitz. Wie alle an diesem Tag festlich bewegten Menschen dachte er voller Bewunderung an die Großartigkeit des epochalen Ereignisses im Jahre Null der Revolution, mit der die eigentliche Geschichte des roten Planeten überhaupt erst begann. Damals hatte es einen Umsturz gegeben, welcher die alte Ordnung von einem Tag auf den anderen vom Mann auf die Frau, von Böse auf Gut, von Ver-kommen auf Voll-kommen umgepolt hatte, denn, wie ich schon sagte, herrschten die ersten fünf Jahre der Unabhängigkeit zunächst noch die Männer auf dem Mars.

Ego war zu dieser Zeit noch nicht geboren, deren Wildheit und rohes Wesen hat er deshalb nicht am eigenen Leib erlitten, aber aus vielen eifrig studierten Quellen wusste er, dass die furchtbaren Zustände auf Gaia unverändert nach Marsopolis transplantiert worden waren. Die Stadt auf dem Mars war ein Patriarchat, eine Diktatur bärtiger, muskelprotzender, schlürfender, saufender, hurender und meistens grölender Männer. Vom Ersten bis Fünften Reif, also überall in der Stadt, diente die Frau dem Mann nicht nur als Arbeitstier, sondern natürlich auch als stets verfügbares Lustobjekt, so wie es auf Gaia schon immer gewesen war, nämlich schon seit der Zeit, als der Mensch sich aus dem Affen entwickelte.

So wäre es wohl auch geblieben, hätten die Frauen nicht großartige Verbündete an ihrer Seite gehabt. Glücklicherweise gibt es nämlich zwei Arten von Männern. Da ist einmal der “homo communis”, oder wie frau ihn hier verachtungsvoll nennt, der Koch: ein grobschlächtiges, brutales, bisweilen sehr schlaues, aber stets rücksichtslos auf den eigenen Vorteil bedachtes Wesen. Dieser Mann war der eigentliche Feind und Schrecken der Frauen. Doch neben ihm - und von homo communis zutiefst verachtet - existiert noch eine eigene höchst merkwürdige Variante des männlichen Geschlechts, nämlich die so genannten Genies, die, wie ihr Name besagt, über außerordentliche Fähigkeiten geistiger Art verfügen, den Frauen aber durchaus nicht gefährlich werden, weil sie physisch zerbrechlich und in der Regel derart behindert sind, dass sie ohne Hilfe nicht überleben können.

Die Genies verdanken ihre Existenz bekanntlich dem Watson-Effekt – einer merkwürdigen genetischen Verirrung, über die später noch zu reden sein wird. An dieser Stelle sei nur hervorgehoben, dass die zerbrechlichen, aber meist mit außerordentlichen Fähigkeiten begabten Autisten in der Geschichte unserer Stadt eine hervorragende Rolle spielten. Im alles entscheidenden Moment der Revolution haben sie sich nämlich gegen ihre Geschlechtsgenossen auf die Seite der Frauen gestellt. Deswegen bekleiden sie in Marsopolis auch einen ganz besonderen Rang.

Die Revolution aber hat sich auf folgende Weise ereignet: Auf einem der vielen unter dem Patriarchat üblichen barbarischen Feste, bei dem die Männer die Frauen zusammen trieben, um ihre Begierden in wüsten Ausschweifungen zu stillen, wurden sie von den Genies überlistet. Genauer gesagt, haben diese die Bierkrüge mit einem von ihnen ersonnenen Zusatz vergiftet und auf diese Weise “die Köche” betäubt, woraufhin diese in einen Zustand der Wehrlosigkeit fielen. Diesen einzigartigen Moment nützten die Frauen, um die Barbaren in die Unterwelt zu verschleppen, die schon zuvor als Gefängnis diente. So war der Herrschaft der Männer von einem Moment auf den anderen das lang herbeigesehnte Ende gesetzt!

Seit diesem Tage nannte man die Genies auch die Gründerväter, denn mit diesem denkwürdigen Tag beginnt die Geschichte der Frau auf dem Mars und das Geschick des Menschen nahm eine andere Wendung. Die wenigen Männer, die jetzt noch geduldet wurden, waren nicht länger gebürtig, sie krochen nicht einfach mehr ungeplant aus dem Bauch von Frauen, die sich bei der Geburt in Schmerzen winden mussten, sondern wurden nach wissenschaftlichen Grundsätzen von den Genies entworfen und in eigenen Laboratorien (oben im Vierten Reif) hergestellt. Der Leser weiß bereits, dass Ego eines dieser nach streng wissenschaftlichen Maßstäben entworfenen Männchen war.

Ego - oder das Unglück, ein Mann auf dem Mars zu sein

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