Читать книгу Ego - oder das Unglück, ein Mann auf dem Mars zu sein - Till Angersbrecht - Страница 8
Gemeinschaftsgut Liebe
ОглавлениеEs war spät, sehr spät, als Ego seine Gefährtin endlich verließ – sie ließ ihn kaum ziehen. Die Vorsicht allerdings gebot seinen Aufbruch, denn hätte er bis zum Morgen gewartet, wären die Gänge vor den Waben voller Frauen gewesen, die ihren Geschäften nachgehen, und jede hätte sofort gesehen, welchen Gast sich Ella bis in den Morgen gehalten hatte. Wenn sie schließlich einwilligte, ihn ziehen zu lassen, so mochte dabei auch die Eifersucht im Spiel sein, denn sie wusste ja, eine andere Frau könnte ihm sofort auf die Schulter tupfen, wenn sie ihm draußen begegnete. Um diese Zeit aber gab es keine Frau, es herrschte Ruhe in Marsopolis.
Es fiel beiden schwer, sich voneinander zu trennen, erst als Ego schließlich allein im Halbdunkel der verlassenen Gänge war, die alle konzentrisch auf den Mittelpunkt zustrebten, wurde ihm bewusst, wie sehr er gegen sein Ethos verstoßen hatte. Die großen Philosophen sagen uns doch, flüsterte ihm eine mahnende Stimme zu, dass wir unseren Beruf aus dem Gefühl der Pflicht und nichts als der Pflicht ausüben sollen. Wer dabei Vergnügen verspürt, der liefere sich dem Egoismus aus. Ego war ernstlich verwirrt über das Geschehen dieser Nacht, denn er musste sich eingestehen, dass es ihm Spaß gemacht hatte – das erste Mal in seiner Laufbahn. Damit würde er vor den Augen der großen Philosophen bestimmt keine Gnade finden. In diese wenig tröstlichen Gedanken versunken, strebte er auf den “Nabel” zu – so nennen sie auf Marsopolis den Mittelpunkt ihrer Stadt, der im Erdgeschoss von einer Treppe gebildet wird, die alle nur scheu umrunden, weil sie in die Unterwelt führt, dorthin, wo die Köche wohnen. Über dem Portal der Treppe befindet sich eine Inschrift, die für jeden eine Mahnung ist, sich niemals etwas zuschulden kommen zu lassen, womit er den Holden einen Anlass gäbe, ihn so wie einst Major Trippschitz in diese Hölle der ewigen Finsternis zu verdammen.
Lasciate ogni speranza, voi ch”entrate!
(Nach diesem Tor hört alle Hoffnung auf!)
Steht dort zu lesen. Ego schaute gar nicht mehr hin; diesen Spruch kennt ja ohnehin jeder und jede. Die Drohung über dem Eingang zur Unterwelt erfüllt aber ihren Zweck: Sie sorgt dafür, dass sich auf Marsopolis ganz von selbst die richtige Gesinnung einstellte. Für einen Quotenmann ist es schlicht überlebenswichtig, die richtige Gesinnung zu haben!
Nachdem Ego zum ersten Mal in einem Jahrzehnt pflichtgetreuer Berufserfüllung Vergnügen im Dienst empfunden hatte, war er sich allerdings seiner richtigen Gesinnung nicht länger gewiss. So ist es zu erklären, dass er, obwohl von Müdigkeit gedrückt, sich dennoch vor den kleinen Tisch in seiner Wabe hinsetzte und zu schreiben begann. Er war ja, wir sagten es schon, ein gebildeter Mensch. Unter den Quotenmännern war die Schreibtätigkeit eine gängige Praxis. Da man als geborener Außenseiter unter besonderer Beobachtung stand, tat man gut daran, regelmäßig Zeugnis von der Makellosigkeit der eigenen Gesinnung abzulegen. Gerade jetzt, wo Ego Grund hatte, daran zu zweifeln, war es zweifach geboten, sie unter Beweis zu stellen. Er setzte sich daher so vor das Gewissen hin, (welches in seinem Fall eine doppelt große Kamera war, die er niemals zu verhängen wagte) und legte das von ihm beschriebene Blatt so sorgsam in die Blickrichtung des Geräts, dass jede Zeile von oben gut lesbar war.
Dann begann er:
Es ist ein heiliges Gesetz der Marsgemeinschaft, niemandem einen Vorrang vor anderen zu gewähren. Dieses Gesetz unterscheidet uns von der alten Gaia-Welt, wo sie Ungleichheit und Ungerechtigkeit praktizierten. Wir wissen, dass jeder Mensch gleich ist: Mit Ausnahme der von Natur aus minderwertigen Männchen betritt jedes Kind die Welt mit gleichen Rechten und Pflichten. Daher verdient jeder den gleichen Anteil an Aufmerksamkeit und Liebe, denn nichts kränkt den Menschen so sehr wie deren ungleiche Verteilung. Unsere Pilgermütter, die ersten, die auf dem roten Planeten als Siedler eintrafen, waren von dieser Einsicht so innig durchdrungen, dass sie das Grundgesetz aufstellten, wonach nicht nur Essen und Trinken, nicht nur alle materiellen Objekte, geschwisterlich zwischen ihnen geteilt werden sollen - solche Gemeinschaft haben sie zu Recht als gewöhnlich abgetan, denn sie sei schon unter den Tieren üblich – sondern vor allem und ganz besonders, das kostbarste Gut überhaupt: die Liebe.
In der neuen vollkommenen Welt, auf dem Mars, vollziehen wir auch den letzten entscheidenden Schritt: Wir verpflichten uns, die Liebe zu allen uns umgebenden Menschen auf das Strengste zu teilen, damit niemand davon zu viel oder zu wenig bekommt.
Ego wusste, dass er bis zu diesem Punkt nur Selbstverständlichkeiten vorbrachte, doch wurde es gern gesehen, wenn diese immer erneut bekräftigt wurden. Die Kunst besteht darin, das Gewohnte in immer neue Gewänder zu kleiden, so dass es immer wieder Aufsehen erregt. In dieser Kunst hatte sich Ego von früh auf geübt. Man sah es den Sätzen an, die er nun schrieb. Er wusste, dass er damit Gnade und sogar Gefallen vor den Augen der Holden findet.
Liebe ist ein öffentliches Gut wie Essen und Trinken. Liebe darf niemals Privateigentum sein. Ein Quotenmann kennt nur eine einzige Pflicht: Er muss jederzeit für jede da sein, weil jede ihm gegenüber das gleiche Recht besitzt. So sagt es das Grundgesetz.
In dieser Art schrieb Ego noch zwei weitere Seiten voll, aber wir müssen ihm dabei nicht auf die Finger schauen, zumal wir ja schon begriffen haben, dass er diese Zeilen nur aus Angst vor der Inschrift über dem Eingang zur Unterwelt schrieb. Er wusste ja, dass er in dieser Nacht gegen das Grundgesetz und die Verfassung verstoßen hatte. Ella hätte ihn am liebsten zu ihrem Privateigentum gemacht, und er selbst hatte unglaubliches Vergnügen dabei empfunden - und noch dazu in der Patriarchenstellung, die ihn in den Augen jeder ehrbaren Frau zu einem Schurken machte!
Die Sünde, so sehen wir, gibt keinem Menschen Ruhe, da kann er noch so schöne Aufsätze schreiben, um sich äußerlich reinzuwaschen. Der Leser hat außerdem Grund, Ego, den Quotenmann, aufgrund dieser nächtlichen Schreibübung für einen scheinheiligen Moralapostel zu halten.
Nun, dieses Urteil scheint mir denn doch etwas zu streng zu sein. Angesichts der Umstände sollten wir Milde walten lassen. Es ist nun einmal ein Faktum, dass selbst die Frauen der fortschrittlichsten aller bisherigen Zivilisationen den Ziel- und Endpunkt der humanen Entwicklung noch nicht erreichten. Wenn Ella bei dem Gedanken, ihren nächtlichen Gespielen mit anderen Frauen zu teilen, großen Widerwillen empfand, also in den uralten Irrtum des Privateigentums fiel, dann nicht aus innerer Böswilligkeit, sondern einfach, weil es ihr noch an letzter Vollkommenheit fehlte. Und wenn andererseits Ego, statt den Beischlaf rein pflichtgemäß zu vollziehen, dabei zum ersten Mal ungeahntes Vergnügen empfand, dann gewiss nicht aus plötzlich aufschießender Verderbtheit, sondern weil er, als er damals von den Genies mit männlichen Genen in einer Petrischale angesetzt worden war, eben doch nicht ganz perfekt programmiert worden war.
Gewiss haben beide, Ego wie Ella, gegen die Verfassung der Stadt verstoßen. Da gibt es nichts zu beschönigen. Aber sie taten es, weil die Menschen selbst hier auf dem Mars noch nicht am Ende ihrer Entwicklung angelangt sind. Das Ideal des vollkommenen Teilens und der perfekten Pflichterfüllung steht immer noch unerreicht vor den Menschen. So ist es eben leider nach wie vor unerlässlich, das Gewissen hin und wieder schamhaft mit einem Stück Tuch zu verhängen. Es sollte möglichst dunkel sein!