Читать книгу Ahrenshooper Narrenspiel - Tilman Thiemig - Страница 12
7. Dummer August
ОглавлениеHakala-Holappa. Endlich! Über zwei Stunden hatte Kempowski für die gut 20 Kilometer von Ahrenshoop bis zum Treffpunkt benötigt. Zwar war der Verkehr von Altheide aus über Ribnitz-Damgarten umgeleitet worden, doch Wilhelm wünschte ja, direkt abgeholt zu werden. Am Meilenstein. Dem Obelisken an der Bundesstraße. 2 Meilen nach Rostock. Früher hatte sich Kempowski manches Mal darüber gewundert, wie lange sich doch zwei Meilen hinziehen können. Auch wenn jene Meile aus alten Postkutschentagen etwa 7,5 Kilometer heutiger Messung entsprach. Doch noch nie hatte die Fahrt so lange gedauert wie heute. Nicht einmal in der Hochsaison oder bei besonderen Veranstaltungen in Karls Erlebnis-Dorf.
Inzwischen war wenigstens die vollständige Sperrung aufgehoben worden. Sämig quälte sich die Karawane voran. Von Polizisten auf der Gegenspur an der Unfallstelle vorbeigeführt. Glasscherben. Ein Außenspiegel. Abgestreute Lachen. Öl oder Benzin. Die Rettungswagen hatten inzwischen das Feld geräumt. Den Hubschrauber hatte Kempowski vor geraumer Zeit abdrehen sehen. Es musste mächtig gekracht haben!
Vorsichtig manövrierte Kempowski den Wartburg am Schauplatz des Schreckens vorbei. Hielt hinter Warnleuchten und Leitkegeln. Stieg aus. Sah, wie der Freund sich von Warnwesten verabschiedete. Hörte sein »Dann werde ich mal. Sie wissen ja, wie Sie mich erreichen können. Rufen Sie mich bitte sofort an, wenn Sie neue Informationen haben! Wenn …« Hörte das Zittern in seiner Stimme. Dabei sah er gar nicht so schlimm aus. Lediglich der rechte Arm schien etwas abbekommen zu haben. Das Handgelenk war bandagiert und nun von einer Schlinge getragen. Doch sehr blass, das Gesicht. Leichenblass. Er ging ihm entgegen. Stützte ihn. Half ihm beim Einsteigen.
»Danke, mein Freund. Danke, dass du so schnell gekommen bist.«
»Schnell? Nun ja. Aber erzähl doch mal, was genau passiert ist! Vorhin habe ich nur die Hälfte verstanden.« Kempowski startete den Motor. Versuchte zu wenden.
»Ja, sicherlich. Aber lass mir noch einen Moment! Vielleicht können wir da vorne irgendwo spazieren gehen. Ein Stückchen. Da bei diesem Jagdschloss. Das wollte ich ja schon immer mal sehen. Perkele. Vittu Saatana Perkele. Dieser gottverdammte Gurt.« Wilhelms Lieblingsfluch. Das R gerollt. Kempowski hatte das noch nicht so oft von ihm gehört. Erfüllte daher seinen Wunsch. Schnallte ihn an. Fuhr noch ein Stück. Bog ab. Schlängelte zur einstigen Sommerresidenz Großherzogs Friedrich Franz III. zu Mecklenburg. Malerische Mixtur aus englischem Landhaus und russischem Bojarensitz. Neogotik mit einer Prise Romanow. Eine stilvolle Kulisse für dramatische Szenen.
Hakala-Holappa zog es aber weiter in den Herbstwald hinein. Laubrascheln. Leichtes Frösteln. Im Hintergrund ein letzter Hirsch. Dabei war die Brunftzeit eigentlich schon vorüber.
Sie schlenderten stumm voran. Es dauerte beinahe eine halbe Stunde und etliche Zigaretten, bis Hakala-Holappa den Pfad zum Beichtstuhl fand und zu erzählen begann. »Ich habe wirklich Riesenmist gemacht. Einen richtigen Bock geschossen. Einen kapitalen. In jeder Hinsicht. Allein schon diese Idee mit der Katharsis. Der Konfrontation. Idiotisch!« Ausführlich schilderte er nun seinen Plan, wie er Hans von Wustrows Schweigen hatte brechen wollen. Holte aus. Erzählte von den Vorbereitungen. Den erfreulich wie erstaunlich leicht einzuholenden Genehmigungen. Der Fahrt. Der Exkursion durchs Ahrenshooper Holz. Ließ auch das Lied nicht aus. »Bajuschki baju …« Ebenso wie von Wustrows Reaktion. Das Scheitern des Experimentes. Den Rückzug. »Doch, einfaches Versagen reicht einem Hakala-Holappa ja nicht aus. Daher kam mir dann noch die absurde Idee, einen Abstecher zur Büdnerei in Niehagen zu machen. Weißt du, jenem verfallenen Häuschen … Doch auch das war ein Reinfall. Kein Wort hat er gesagt. Nur plötzlich gelächelt, als ob er eine Vorahnung haben würde. Als ob er schon gewusst hat, was wenig später passieren würde. Womöglich stand er ja mit dem Hund in Verbindung, Telepathie, Animismus, Totemismus, so etwas in der Art. Was weiß ich? Auf jeden Fall war er dann da. Wie aus dem Nichts tauchte dieser Höllenhund ein paar hundert Meter hinter Altheide auf und lief dann über die Straße. Direkt in den Gegenverkehr. Direkt vor den Sprinter. Irgendein Paketdienst. Hetzen ja allerorten durch die Gegend. Immer in Hektik. Und der Fahrer hat auch wirklich blitzschnell reagiert. Das Lenkrad herumgerissen. Ist ausgeschert. Anstatt den Hund einfach mitzunehmen. Und so in unseren Bus geknallt. Was für ein Geräusch! Das werde ich mein Lebtag nicht vergessen. Habe erst dadurch mitbekommen, was passiert ist. Die Büchse hat ja keine Fenster im Fahrgastraum. Auf jeden Fall hat der Niemann, also unser Fahrer, auch noch ausweichen wollen, was ihm nur bedingt geglückt ist. So sind wir dann nach rechts in die Böschung. Dann der Überschlag. Das Herumwirbeln. Arme. Beine. Körper. Herumgeschleudert. Gegen den Holm. Zu Boden. Zur Decke. Der Schmerz im Arm. Im Handgelenk. Der Schreck. Die Schreie. Das Jammern. Wimmern. Vom Schildknecht. Und im Kopf minutenlang ein schwarzes Loch. Minutenland. Schweben durchs Minutenland. Die Finsternis. – Bis die Seitentür geöffnet wurde. Die nun das Dach bildete. Durch die Celinski hereinschaute. Mit blutiger Stirn. Einer mächtigen Brusche, ansonsten aber erstaunlich wohlauf. Energisch. Entschlossen. Hilfsbereit. Was ihm zum Verhängnis geworden ist. Uns. Mir.« Hakala-Holappa brach ab. Setzte sich auf einen Baumstamm am Wegesrand.
Kempowski malte sich aus, was sich anschließend ereignet haben musste. Er konnte sich Celinskis Dilemma vorstellen. Zwei schwer verletzte Kollegen. Ein ebensolcher Unfallgegner. Eingeklemmt. Im Sprinterwrack. Ein leicht verletzter Hakala-Holappa. Der war aber keine große Hilfe in dieser Situation. Rauchentwicklung im Motorraum. Und – Hans von Wustrow. Anscheinend unverletzt. Verständlich also, dass Celinski ihn der Handschellen entbunden hatte, damit er ihn bei der Rettung Schildknechts unterstützt. Was von Wustrow auch tatsächlich getan hatte. Wer mochte es dem Mann von der JVA verdenken, dass er sich zunächst weiter um den Schwerverletzten gekümmert hatte? Vorrangig. Und darüber schlichtweg versäumte, den Gefangenen wieder zu fixieren …
»Und das ist ja das Fatale an der ganzen Situation. Dass Celinski mit seiner Entscheidung, seinem Eingreifen wahrscheinlich Schildknecht das Leben gerettet hat. Wie in einem griechischen Drama. Schicksal.« Hakala-Holappa hatte den Gesprächsfaden wieder aufgenommen. Bestätigte Kempowskis Mutmaßungen. Bestätigte dessen Befürchtungen. »Er hat ihn ja auch noch im Auge behalten und gesehen, wie sich der Alte um Niemann gekümmert hat. Der war da gerade kollabiert. Und von Wustrow hat sogar gute Arbeit gemacht. Erste Hilfe geleistet. Stabile Seitenlage. Die Zunge. Alles richtig gut. Doch dann …«
»Wollte Celinski auch dich noch aus der Büchse holen, weil der Qualm stärker wurde. Und statt zum Feuerlöscher …«
»… hat er in die Scheiße gegriffen. Den Finnen gerettet. Die Büchse der Pandora geöffnet. Woher wusstest du …?« Kempowskis Intuition überraschte Hakala-Holappa.
»Ich kenne das Leben, die Menschen, das Schicksal.« Bedeutungsvoll zog Kempowski an seiner Zigarette, ließ den Rauch aufsteigen und folgte dessen Auflösung.
»Dann weißt du sicherlich auch, wo von Wustrow jetzt ist. Wo er hinwill. Was er vorhat. Und ob er die Waffe benutzen wird. Niemanns Dienstpistole …«
»So gut nun auch wieder nicht. Leider. Aber wir sollten zurückfahren, um mit Zimmermann und den anderen Freunden zu sprechen. Außerdem muss ich dir auch noch etwas erzählen, eher beichten. Doch nun los! Es ist spät geworden. Dunkel.«