Читать книгу Ahrenshooper Narrenspiel - Tilman Thiemig - Страница 7
2. Stańczyk
ОглавлениеDer neue Tag begrüßte Robert Aaron Zimmermann auf der Meiningenbrücke. Mit Schwellenschlag. Unterm Wagen. Einem munteren »Guten Morgen, mein Freund!« des Fahrers. Und frischen Sonnenstrahlen aus dem Osten.
Richard Sonntag und er kamen auch aus jener Richtung. Genauer gesagt aus Südost. Aus Polen. Woiwodschaft Kleinpolen. Region Krakau. Oder Kraków. Je nachdem, aus welcher Richtung, welcher Zeit man kam, schaute. Für Zimmermann war es immer noch Krakau. Wie er es als Kind gekannt hatte. Gerade nachdem, was alles geschehen.
»Ist das nicht herrlich, dieses Gerumpelpumpel? Das hört sich so richtig nach Zuhause an!« Sein Chauffeur ließ die Sonne guter Laune auch im Westen aufgehen. Seit beinahe einem halben Jahr stand Sonntag nun schon in Zimmermanns Diensten. Kutschierte ihn durch die Lande. Zunächst rund um Ahrenshoop. Dann durch Berlin. Die Straßen der Kindheit. Erinnerungen. Zu vergangenen Adressen. Untergegangener Heimat. Zuhause? Das stand für Zimmermann seit über achtzig Jahren jenseits des großen Teiches. In Kanada.
»Ach, mein treuer Gefährte, ob du es wahrhaben willst oder nicht. Nächste Woche geht es für mich wieder retour. Nach Halifax. Nur noch das Richtfest vom Partikel-Hof erleben. Feiern. Durchaus. Doch dann ist Schabbes, mein werter Sonntag!«
»Na komm, aber einmal zu den Kranichen sollten wir es wenigstens noch schaffen. Nach Groß Mohrdorf oder Pramort. Da kann man die Biester bestens sehen. Schau einmal, da sind sie schon! Die haben ja gerade ihre große Zeit hier oben.« Sonntag wies durchs geöffnete Sonnendach.
Zimmermann folgte dem Wink. Dem Flug der schönen Vögel. Die ihn jedoch kurz hinter Zingst in leichten Schlummer entführten. Halbschlaf. Dösen. Zwischen den Zeiten. In den zurückliegenden Wochen hatten sie sich auf den Spuren von Großmama Ruth befunden. Sie war das Ziel seiner Reise gewesen. Ihre letzten Jahre. Ihr Ende.
Sonntag hatte die beiden auch gewohnt sicher dorthin geführt. Zu jenem Ort, der heute Oświęcim heißt. Bekannter jedoch als Auschwitz. Auf dem großen Parkplatz hatte Zimmermann allerdings etwas verlassen. Der Mut? Die Entschlossenheit? Oder die Notwendigkeit, alles wissen zu müssen? Er hatte es nicht sagen können. Nicht in Worte fassen. Womöglich waren es die vielen anderen Besucher gewesen. Die wie Touristen wirkten, die auf dem Weg zu einer ganz besonderen Sehenswürdigkeit sind. Bei ihrem Anblick wollte der alte Mann auf einmal nichts mehr sehen. Schon gar nicht Großmama Ruth im Streifengewand. Ihre letzten Habseligkeiten in einer Vitrine. Oder ihren Namen auf einem Dokument. Ihr Leben zur Nummer reduziert. Einer Tätowierung.
Sonntag hatte ihn verstanden. Ohne große Erklärungen war er weitergefahren.
Später hatte Zimmermann dann bei einem Trödler Christbaumschmuck gekauft. Im Antiquarium in Krakau. Strohsterne, kugelbunt. Rauschgoldengel, feinstes Haar. Ein Schneemann, gedrechselt, Erzgebirge, Winterhilfswerk … Dort hatte er auch das Bildnis entdeckt: Stańczyk. Einst Hofnarr polnischer Könige. Jetzt Reisender in Zimmermanns Hofstaat. Er hatte das Gemälde ohne große Feilscherei gekauft. Zumal es von Katarzyna Gawłowa signiert war. Jener Volkskünstlerin, die ihm die Kunstdamen aus Ahrenshoop ans Herz gelegt hatten. Wobei ihn der Stil an einen anderen polnischen Künstler erinnerte: Er glich dem der Bilder Antoni Libudas. Der ebenso wie sie aus Zielonki stammte. Antoni Libuda. Der Vater Hans von Wustrows und der …
»Verdammter Köter!«
Sonntags Fluch schreckte ihn aus Gedankendämmer. Der Gefährte bremste. Riss das Lenkrad herum. Gefährlich. Bremste abermals. Der Wagen schlingerte für Augenblicke. Blockierte. Kam zum Stehen. Rechtzeitig. Gefahr gebannt. Auf der anderen Straßenseite glaubte Zimmermann einen Hund zu erkennen. Obgleich. Der Gang? Die Läufe? Die Flanken? »War das ein Wolf?« Zimmermann war nun endgültig im Tag angekommen.
»Glaub ich nicht. Auch wenn die Viecher immer näher rücken. Finde ich ja gar nicht so schlecht, eigentlich … Die schrecken wenigstens die Jogger ab. Und die Radler. Hat man im Wald wieder seine Ruhe. Aber das hier sah eher wie ein Hund aus. Oder ein Fuchs, so vom Fell und vom Kopf her. Aber mit mächtig langen Beinen. Wie so ein Model. Ein etwas räudiges Model mit Kohldampf. Schau mal, der will zu den Wasserbüffeln.«
Das wilde Wesen zockelte den Weg entlang Richtung Bodden und bog dann auf die Koppeln des Gutes am Wiecker Eichberg ab.
»Recht hat er. Ist Zeit fürs Frühstück. Lass uns Brötchen holen! Dann freut sich Lore noch mehr über das Wiedersehen.«
Sonntag startete den Wagen. Blinkte ein paar hundert Meter weiter. Bog ab. Und parkte keine fünf Minuten später vor der Wiecker Backstube. Schlenderte hinein. »Moin Tanja!«
Zimmermann wartete derweilen im Auto. In Grübeleien. Darüber, wie er Lore Bradhering beichten sollte, dass er in wenigen Tagen seine Zelte in ihrer Pension abbrechen würde. Ein Radler riss ihn aus jenem Gespinst. Ein großer Mann. Sehr schlank. Sehr schwarz gewandet. Hemd, Hose, Jackett, selbst die Krawatte. Die Stiefel ebenso. Anthrazite Symphonie. Eine Erscheinung. Wie Henry Fonda. »Spiel mir das Lied vom Tod«. Nur der schrillgrüne Fahrradhelm passte nicht ganz ins Bild. So wie die Weste mit ihren Reflektorstreifen und dem Klettverschluss. Ein Mann mit der Anmutung eines Auftragskillers sowie ausgeprägtem Sicherheitsbewusstsein. Eine interessante Kombination. Zimmermann musste an seine erste Begegnung mit einer ebenfalls ungewöhnlichen Gestalt denken, die in Ahrenshoop Körbchen genannt wurde. Auch er außergewöhnlich, auffällig. Nur anders.
»Schau mal, die Finnen, die mag Lore besonders gern. Und hier, die Wiecker Wickel, die sind auch klasse. Mit Walnuss und Sanddornklecks. Schmecken sensationell!«
Hungrige Blicke in geöffnete Tüten. Der Geruch frischer Backwaren. Und weiter ging die Fahrt nach Born, Nordstraße, Pension Kuhfuß.
Lore Bradherings schmuckes Kapitänshaus empfing die Reisenden im goldenen Oktoberglanz. Schon links und rechts der Pforte Kürbisse in allen Größen. Von Kinderfaust bis King-Kong-Format. Ebenso bewacht: die Haustür. Flankiert von Strohgarben, gebunden in blau-weiße Bänder. Der Wein am Mauerspalier schenkte dem Farbenspiel schillerndes Rot.
Nur eine Nuance blasser jenes auf den Wangen der heraneilenden Herrscherin dieses Reiches. »Robert! Wie schön, wie wunderfeinschön, dass du wieder daheim bist. Endlich!« Ein wenig zu stürmisch die Umarmung. Ein wenig zu lau ihr knappes »Hallo Richard«, mit dem sie ihren Schwager begrüßte.
Zimmermann ahnte, dass er sich mit der Ankündigung seiner Abreise noch etwas Zeit lassen würde. Er war noch nie ein guter Hiobsbotschafter gewesen. Obwohl das in seinem langen Berufsleben als Anwalt und Notar ungezählte Male zum Job dazugehört hatte. Allerdings musste er sich um die aktuelle Gesprächsführung keine Sorgen machen. Die hatte Lore Bradhering sofort an sich gerissen. Vollumfänglich. Und sie sollte sie im weiteren Verlauf des Frühstücks nicht wieder aus der Hand geben. Es fing schon mit seinem Geschenk an. Den Rauschgoldengel aus Krakau hatte er für sie ausgewählt. Zur Erinnerung gedacht an ihr Abenteuer im Eiskeller. Ihre Nacht in kalter Angst. Vor gut einem halben Jahr. Als die Polizei die Entführte auf dem Nachbargrundstück aus ihrem Verlies befreit hatte. In güldene Rettungsdecke gehüllt, war sie ihm wahrlich wie ein Himmelswesen erschienen. Engelsgleich. Weihnachtlich.
Lore fing den zugeworfenen Ball des Rückblicks dankbar auf. Öffnete das Tagebuch dieses Frühjahrs. Jener Wochen im März, April, Mai – ein ereignisreicher Lenz! Ausführlich schilderte sie die Geschehnisse, die allen bekannt waren. Ließ Namen fallen, einen nach dem anderen. Manch einer dieser Namen fand sich nun auf einem Grabstein oder auf kleinem Schild an einem Friedwaldbaum. Kurzes Gedenken. Stummer Blick. Um dann umso plaudriger fortzufahren. »Wisst ihr noch?« – »Kennt ihr noch?« – »Könnt ihr euch noch erinnern?« Auf Antworten konnte Lore gut verzichten. Auch die hatte sie parat. Leitete schließlich so geschickt aus der Vergangenheit in die Gegenwart über. Die Zukunft. Warf den Blick auf Ahrenshoop. Den Partikel-Hof. Das neue Museum. Das Haus des Verschwindens. Berichtete vom Stand der Bauarbeiten, die gut vorankamen. »Wir sind hier ja schließlich nicht Berlin!« Sie führte aus, wie schön das alles werden würde, schon jetzt aussehe. Mit dem Zaun, den Tafeln und Bildern daran, den Kunstwerken, der Aussichtsplattform und den Gucklöchern.
Zimmermann wusste um den Stand der Dinge. Hatte erst vor wenigen Tagen mit Andreas Kempowski, seinem Adjutanten, telefoniert, der ihm bei seiner Mission im Frühling treu zur Seite gestanden hatte. Trotzdem freute es ihn, nun von Lore so viel Gutes zu hören. Überdies beruhigte es, zu erfahren, dass auch die zwischenmenschliche Chemie bei der Ahrenshooper »Bande« stimmen würde und sich die Damen Müller-Paul, Riese, Seegers und Wahnschaffe prächtig vertragen würden. Auch mit dem Herren Schiffers von der Bunten Stube. Obwohl der ja zwischenzeitlich was mit der Seegers gehabt hätte. Und mit dem Kempowski würde das ebenfalls prima klappen, der ja nun der Syndikus von dieser Stiftung wäre. Sie sprach das Y als Ü. Und wählte zwei S fürs Ende.
Zufrieden griff Zimmermann zum zweiten Wiecker Wickel. Fast glücklich. Wie anders war doch die Atmosphäre im Frühjahr gewesen. Allein die Turbulenzen bei der Testamentseröffnung! Kabale und Ranküne. Eifersucht, Leidenschaften, Neid. Ahrenshoop hatte sich ihm als Jahrmarkt der Eitelkeiten präsentiert. Und nun: Friede, Freude, Eierkuchen. Nicht ganz. Denn Lore war am Kempowski hängen geblieben. An seinem Auszug. Umzug. Einzug bei Elisabeth Müller-Paul in Ahrenshoop. Was sie ja nun sehr, sehr bedauern würde. Doch zugleich betonte sie, wie schön es wäre, dass ja ihr lieber, lieber Robert, ihr Bobby, noch sein Zimmer bei ihr hätte. Sein Zuhause, das sie ihm auch immer recht behaglich machen würde, damit er sich bei ihr wohlfühle. Jetzt hatte sie ihn am Wickel. Am Borner.
Er legte sich gerade die passenden Worte zurecht, als Lore den letzten Knust ihres Finnbrötchens als Stichwortgeber nutzte. »Habt ihr eigentlich mitbekommen, dass Hakala-Holappas Schwiegervater gestorben ist? Erst vor ein paar Tagen. Wilhelm und sein Mann sind gerade zur Beerdigung in Helsinki. Dabei haben sie eigentlich gar keine Zeit für so etwas. Wo sie doch so viel zu tun haben mit dem Haus. Sie wollen doch demnächst schon einziehen. Im November. Matti hat extra Urlaub genommen von der Uni. Ein so lieber Mann, sehr höflich und männlich und immer korrekt gekleidet. Nicht so bunt wie der Wilhelm. Keine albernen Brillen. Keine närrischen Anzüge. Keine rosa Zigaretten. Merkt man gar nicht, dass der … na ja, ihr wisst schon. Ich musste mich erst daran gewöhnen. Als die beiden eine Zeit lang bei mir unter einem Dach gewohnt haben während des Umbaus. Aber es sind ja beide so liebe Menschen.«
Vom Tod des alten Holappa hatte Zimmermann noch nicht gehört. Und auch Matti kannte er nicht. Wusste nur, dass Wilhelms Partner einen Lehrstuhl für Finno-Ugristik an der Georgia Augusta in Göttingen innehatte. Und dass der Professor und der Profiler das Haus von Lores Patentante in Born gekauft hatten. Ihrer »Tante Wilhelm«. Wilhelmine von Wustrow. Künstlerin. Keramikerin. Und die Mutter Hans von Wustrows.