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9. Rigoletto

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Der Bote nimmt behutsam das Glöckchen. Es ist aus Glas. Zerbrechlich. Ziseliert. Ein Namenszug: Claudia. Ihr Taufgeschenk. Mit dem ihre Sammelleidenschaft begonnen hatte. Wie sie ihm vorhin erzählt, kurz nach der Begrüßung in ihrer Glockenwelt. »Fast 500 Stück. Aus aller Welt. Allen Epochen.« Eine einladende Geste. »Sogar aus der Römerzeit.« Stolzer Ton. »Große und kleine. Ganz kleine.« Ein anzüglicher Blick, den sie wahrscheinlich für neckisch hielt. Kokett. Ebenso wie die Bewegung, das Schaukeln des Oberkörpers. Das Spiel mit den Glöckchen, denen an den Ringen in ihren Ohren und jenen zum Schmuck der Brüste.

Schon beim Empfang an der Tür hatte sie nur wenig mehr getragen, war in Sinnlichkeit gewandet. Vermeintliche. Doch ihr Treffen wies auch eine gewisse Eindeutigkeit auf. Für sie.

Der Bote hat ein anderes Ansinnen. Doch die Möglichkeiten der neuen Zeit haben es ihm leicht gemacht. Den Weg geebnet. Entsprechende Seiten im Internet, ein bisschen Recherche, ein bisschen Spiel. Und sie bot schon einen schönen Anblick. Auch wenn es dem Boten nicht um Lust geht. Um Eros. Gier. Den Austausch von Körperflüssigkeiten. Ihre Nacktheit erleichtert ihm vor allen seine Arbeit, nimmt ihm das Auskleiden ab. Nackt musste sie ja sein. Und es gibt noch mehr zu tun. Viel mehr. Darum zögert er nicht lange. Zupacken. Noch im Wohnzimmer. Auf dem Teppich. Sie hat ihm gerade ihr erstes Glöckchen zeigen können. War für einen kleinen Wimpernschlag wieder Kind gewesen, beinahe zart, anrührend gar. Bevor ihr Kehlkopf eingedrückt wird. Das Genick gebrochen. Dens axis, der Zahn des zweiten Halswirbels, frakturiert.

Nun in den Flur. Den Rucksack geholt. Sie hatte ihn ganz neugierig betrachtet und gefragt, was denn da drin sei. Wahrscheinlich hat sie an ausgefallene Accessoires gedacht, etwas in Lack und Leder, mit Nieten, Reißverschluss. Masken womöglich. »Spielzeug«, hatte er geantwortet. Gelächelt. Es versucht.

Spielzeug, mit dem er nun zu spielen anfängt. Die Schwarte hat er bereits daheim vorbereitet. In Streifen geschnitten. Lange Streifen, etwa handbreit. Ein ganzes Tier hatte er dafür geopfert. Auch die Löcher waren schon gestanzt. Die Nadeln ausgewählt. Sie mussten ja eine bestimmte Stärke haben. Er hatte sich zu erinnern versucht, wie es seine Großmutter damals in der kleinen Küche gemacht hatte. Den Sonntagsbraten. Selten zwar, dafür unvergessen. Der Hirsch mit den weißen Punkten. Der Bote hatte als Kind »Fliegenhirsch« dazu gesagt. Gesungen: »Opa machte große Pirsch. Und Oma daraus Fliegenhirsch.« Schöne Zeiten, lange vergangen, doch unvergessen. Diese Zubereitungsart erwies sich für sein Vorhaben allerdings als ungeeignet. Er will ja kein Blut hinterlassen. Hier nicht. Keine Blutspuren legen, auch wenn es hübsch aussehen würde. Ihre gebräunte Haut. Und dann die weißen Flecken des Tieres. Dazwischen. »Fliegenclaudia.« »Fliegenippich.« Darum hat er sich für ein anderes Verfahren entschieden. Ein ähnliches mit vornehmeren Namen. Französisch. Er hofft, dass sie seine Botschaft auch so lesen und verstehen würden. »Lies, wenn du es verstehst! Prüfe, wenn es gefällig ist!«, wie Oma immer geraunt hatte.

Sorgfältig verteilt er nun die Schwartenstreifen und wickelt sie um die tote Frau. Nicht zu dicht. Nein, sie soll nicht zur Mumie werden, nicht zur Puppe im Kokon. Nur gezeichnet. Markiert. Zu etwas Besonderem gewandelt. Seiner Handschrift, seinem Werk. Anschließend fixiert er sie mit den Nadeln, verbindet Haut und Haut. Verändert dann ein wenig ihre Position. Wechselt sie erneut. Soll sie liegend gefunden werden? Sitzend? Oder gar hängend? Gleich einer ihrer Glocken? Eine schöne Idee, die der Bote aber schnell verwirft. Dafür ist er nicht vorbereitet. Und er hat auch noch anderes vor. Der zweite Teil wartet noch. Der zweite Teil seines Bilderrätsels.

So lehnt er den noch warmen Körper schließlich an eines der Regale, ihren gebrochenen Blick auf das große Fenster gerichtet. Den Garten. Knapp dahinter dann die Dünen. Das Meer. Eine gute Reise. Kleine Wolke. Leise lässt er das niedliche Glöckchen anschlagen, den kleinen Kordelklöppel mit der Perle daran. Armesünderglockenklang.

Leise verlässt er das Haus. Ein ansehnliches Anwesen, friedvolles Idyll auf dem »Millionenhügel«. Malerisch, im wahrsten Sinne des Wortes. Der Bote hatte schmunzeln müssen, als er ihre Adresse las. Die kleine Straße ist nach eben jenem Maler benannt: Alfred-Partikel-Weg. Welche Fügung!

Der Bote besteigt sein Rad. Fährt ins Dorf hinab zur menschenleeren Dorfstraße. Nachsaison. Nach Mitternacht. Dennoch geht er achtsam vor. Schaut, hält die Augen offen, bevor er die Tür ihres Ladens öffnet und die Alarmanlage ausstellt. Vor einigen Wochen hatte er das La Plateau schon einmal besucht, als Claudia in ihrem anderen Schuhgeschäft gleichen Namens in Stralsund war. Die Mitarbeiterin hatte ihn freundlich und zuvorkommend beraten. Ihn sogar für einige Minuten, die er zu nutzen wusste, allein gelassen. Daher braucht er jetzt kein Licht, orientiert sich schnell, atmet den Geruch des Leders ein und betrachtet das erste Fenster. Über die Sprossen hatte er sich zunächst geärgert, nahmen sie seiner Tat doch die Wucht. Die Wildheit der Zerstörung. Erforderten ein Umdenken. Die Besinnung darauf, dass weniger mehr ist. Denn nicht die Zahl der Scherben ist wichtig oder gar die Lautstärke des Zerberstens. Nein, die Stelle, wo sie niederfallen. Wo sie gefunden werden.

Der Bote holt seine Werkzeuge aus dem Rucksack: Glasschneider und Freund Plümper. Zieht seine Kreise über die Scheibe gleich einem Schlittschuhlauf. Wahrt Vorsicht. Holt den ersten Mond. Vollmond. Lässt ihn zu Boden fallen. Innen. Zerbrechen. In Scherbenfein.

Dann verlässt er das La Plateau, schließt ab und tritt an die zweite Scheibe. Sichert. Schaut die Dorfstraße entlang. Versichert sich, dass er allein ist und wiederholt die Operation. Die Prozedur. Nur dass nun der Mond aus Glas außen häufelt. Vor dem Geschäft.

Der Bote packt ein. Wirft einen Blick aufs Bühnenbild, öffnet dann wieder die Ladentür, dreht sogar das Schild um: Geöffnet. Eröffnet. Die Partie. Das Schachspiel. Das Spiel der Könige, das er vom Opa erlernt. Mit ihm gespielt. Bis jener närrisch wurde.

Ein vages Knurren unterbricht seine Betrachtung. Er dreht sich um und sieht einen Hund auf der anderen Straßenseite. Ähnlich dem vom Reitergut. Ähnlich? Oder aber? Auf jeden Fall auch ein großer schwarzer Hund, ein Dobermann, in der Finsternis der Nacht. Wie aus einer der Geschichten, die ihm Oma erzählt. Kreuzwege. Glühende Augen. Und ein sonderbarer Name, auf den der Hund hört. Der dem Boten entfallen ist. Er wird nachschauen. Ob er das Buch in Omas kleiner Wohnung noch finden wird?

Dann radelt er davon. Fährt ein kurzes Stück bis zur Strandhalle. Verstaut das Rad auf der Ladefläche seines Wagens, verlässt Ahrenshoop. Ohne Licht. Richtung Norden. Der Ruhe entgegen. Seiner Ruhe.

Ahrenshooper Narrenspiel

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