Читать книгу Il Maestro - Tim Siegler - Страница 5
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ОглавлениеDer Regen prasselte auf die Dächer der Stadthäuser. Es schien als würde der Himmel Sturzbäche ob des ganzen Leides auf der Erde weinen. Die Kanäle liefen voll, längst konnten sie die Wassermassen nicht mehr bändigen. Vereinzelt kämpften Menschen auf den Boulevards mit Regenschirmen gegen den Wind und die Wassermassen. Sinnlos. Die Natur war stärker und lies alle die da draußen versuchten trockenen Fußes in eines der zahlreichen Geschäfte zu kommen, tropfnass werden.
Drinnen in einem der vielen Stadthäuser die den Place du Tertre in der Nähe der Basilika Sacre Coeur im Pariser Stadtteil Montmartre säumten, brannte der offene Kamin, gleichwohl es schon Frühling war. Aber Paris zeigte sich zu dieser Jahreszeit immer unberechenbar. Genauso wie der Charakter der Bürger dieser Stadt. Not und Elend, aber auch der Glanz vergangener Epochen spiegelten sich im Gesicht der Stadt wieder. Kulturelle Höhen versuchten sich neben einer zunehmenden Spaltung der Gesellschaft und den damit verbundenen Tiefen wie Arbeitslosigkeit und Gewalt zu behaupten.
In einem der besagten Häuser, ein Bau aus dem 19. Jahrhundert mit allerhand Stuck und altmodischen Fensterläden, stand eine Frau am geschlossenen Fenster. Sie schaute hinaus auf ein Paris im Regen, ihr Paris, das sie zu schätzen aber auch gleichermaßen zu hassen lernte. Sie wartete dort fast jeden Morgen. Pünktlich um acht stand sie auf, wusch sich und zog eines ihrer Freizeitkleider an. Ihr Anblick war feengleich und man musste sie schon durch bloße Betrachtung in die Künstlerschublade stecken. Nach einem kargen Frühstück, üblicherweise Milchkaffee und Croissant wartete sie seit letztem Sonntag Tag für Tag an diesem Fenster auf den Zeitungsboten. Mit jedem Tag nach ihrem letzten Auftritt wurde sie nervöser. Sie wartete nicht nur auf die Tageszeitung, nein, es war vielmehr das Warten auf die Kritik ihres letzten Engagements vor fünf Tagen. Wie immer ließen sich die Kritiker der französischen Hauptstadt viel Zeit mit ihren Artikeln. Das mochte gut oder schlecht sein. Jedenfalls war es immer eine Zerreißprobe. Und dieses Mal war ihr die Kritik besonders wichtig. Es war der Start in einen zweiten Teil ihrer Karriere. Sie wollte es noch einmal wissen. Die früheren Erfolge gaben ihr Recht und warum sie sich vor zehn Jahren zur Ruhe setzte war ihr heute genauso schleierhaft wie ein Dorn im Auge.
Endlich, um die Ecke am oberen Ende des Platzes kam nun der Zeitungsbote zum Vorschein. Er schien tropfnass auf seinem Fahrrad zu sein. Kein Wunder, denn der Regen hatte weiter zugenommen. Die Reifen seines alten, klapprigen Drahtesels ließen das Wasser aufspritzen und mehr schlitternd als fahrend hielt er schließlich vor Hausnummer 10, ihrer Hausnummer an. Sie konnte es kaum erwarten, zog schnell ihre Pantoffeln an und rannte die Treppe aus dem ersten Stock hinunter. So schnell wie es ihr wehendes Kleid zuließ. Als sie die Tür aufriss, wich der Zeitungsbote erschrocken zurück und brachte nur noch ein verdutztes Bonjour Madame heraus, ehe sie ihm die Zeitung aus der Hand riss. In Windeseile rannte sie die Stufen wieder hinauf, entledigte sich ihrer Pantoffeln und warf sich auf das Schlafsofa vor dem Kamin. Sie öffnete hastig die Zeitung und überflog heute im Eiltempo die übrigen Rubriken, bis sie zum Kulturteil kam. Hier muss es doch endlich irgendwo stehen, redete sie ungeduldig mit sich selbst. Bitte, bitte lass es heute irgendwo stehen! Einen weiteren Tag halte ich die Warterei nicht aus!. Und tatsächlich. Mitten auf der ersten Seite des Kulturteils prangte ihr Foto. Sie schluckte. Zögerlich lass sie die ersten Zeilen: „ ... 10 Jahre nach Ende der Karriere … rauschendes Comeback … 3000 Gäste feierten die Künstlerin mit stehenden Ovationen … Beginn einer zweiten Erfolgskarriere … Tournee fast über Nacht ausverkauft … Gala der Musik, Sternstunde der Klassik...“.
Währenddessen sie die Zeilen überflog, liefen ihr Tränen der Erleichterung über die Wange. Sie fühlte eine Wärme in sich aufsteigen und wurde von einer lang nicht mehr verspürten Welle der Euphorie gepackt. In genau diesem Moment klingelte ihr Telefon. „Hal... äh... Hallo?“, räusperte sie sich noch immer wie im Rausch in den Hörer. „Hast du diese sagenhafte Kritik gelesen, Honey? Mein Telefon ist seit dem frühen Morgen nicht mehr still gestanden. Alle wollen dich haben. Tokyo, Sydney, Mailand, New York, einfach alle! Ich weiß gar nicht wem ich als erstes zusagen soll! My Dear, wir müssen jetzt alles schleunigst planen! Du bist die Größte, jeder will Madame singen hören!“ - „Das ist ja schön“, erwiderte sie immer noch wie im Traum. „Ich glaube ich muss mich erst einmal hinsetzen, das ist sehr viel auf einmal.“ Da schrie es wieder in den Hörer: „Honey, tu das! Aber nicht so lang! It's Show Time Lisabella! Bye and Kiss!“ - „ Äh... Ja, ja, bye und äh... kiss!“ warf sie irritiert zurück. Es war ihr Manager, der selten mit Superlativen geizte. Sie legte auf und wollte erst einmal ganz für sich allein sein. Sie beschloss an ihrem ersten Tag ihrer neuen Karriere etwas ganz verrücktes zu machen. Sie lief hinaus. Ohne Schirm und ohne Schuhe. Sie tanzte durch den Regen, als gäbe es nur sie allein in ganz Paris. Die wenigen Touristen am Montmartre beäugten das Schauspiel nur mit einem schmunzelnden Kopfschütteln. Sie dachten wohl sie hätten das exklusive Glück, eines dieser verrückten Pariser Originale anzutreffen, welches im Champagner- und Austerrausch meinte, die Revolution gewonnen zu haben. Sie tanzte noch eine ganze Weile so weiter, hüpfte wie ein Kind in jede Pfütze und freute sich des Lebens.
Wie es doch so gehen kann, dachte sie ganz für sich. Die letzten Jahre noch ganz in Vergessenheit und jetzt wieder ein Stern am Opernhimmel! So verschwand sie in den aufspritzenden Fontänen, die die Lieferantenfahrzeuge der vielen Restaurants an diesem Tag in den Himmel am Montmartre peitschten.