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Meine Mutter führte Tagebuch.

Ohne mein Wissen – sie erzählte mir nie davon, nicht einmal, als ich erwachsen war – notierte sie nur ganz dürre Daten meiner frühen Jahre auf einer spärlichen Handvoll von Seiten. Dieses dünne, in schwarzes Leder gebundene Notizbuch enthält alles, was ich über meine ersten acht Lebensjahre weiß.

Es beginnt mit einem kleinen Schwarz-Weiß-Foto von mir, barfuß und in kurzen Hosen. Darunter steht: »Bandekow – Ingrid, Sommer 1944«. Zwischen den Seiten steckt ein Briefumschlag, datiert auf den 4. Juni 1944, in dem sich – wie von meiner Mutter notiert – einige Haarsträhnen von mir befinden. Dies wirkt zwar wie der Anfang eines konventionellen Tagebuches, so wie es eine liebende Mutter als Bericht über die Kindheit ihrer Tochter führen könnte, doch dieser Eindruck wird durch die restlichen Aufzeichnungen rasch widerlegt. Zum einen gibt nur sehr wenige Einträge – nicht mehr als vier oder fünf für jedes der fünf Jahre, in denen meine Mutter sich die Mühe machte, etwas aufzuschreiben. Zum anderen ist es der merkwürdige Stil der knappen Einträge selbst. Sie sind alle in der dritten Person verfasst. Gisela bezeichnet sich selbst durchgängig als »Mami« und schreibt niemals »ich«.

Vielleicht hat sie das ja getan, um mir das Lesen zu erleichtern. In den späteren Kriegsjahren war, wie ich jetzt weiß, ein solches in der dritten Person abgefasstes Tagebuch in Deutschland nicht ungewöhnlich. Aber da sie es mir nie zeigte – und mir noch nicht einmal davon erzählte –, ergibt diese wohlwollende Erklärung wohl wenig Sinn. Stattdessen scheint der merkwürdig reservierte Schreibstil in gewisser Weise auf die Schwierigkeit meiner Mutter hinzuweisen, einem bestimmten mütterlichen Stereotyp gerecht zu werden, und ist ein Anzeichen für die Distanz, die ich immer zwischen uns wahrgenommen habe.

Dennoch vermittelt mir das Tagebuch eine gewisse Vorstellung davon, was für ein Kind ich gewesen bin. Der Eintrag für meinen Geburtstag am 11. November 1944 lautet:

Ingrid wird heut drei Jahre alt. Sie ist nicht gross für ihr Alter, gedeiht sonst aber prächtig und hat eine gesunde Natur. Ein starker eigener Wille zeigt sich bei Anlage zum Jähzorn. Von ruhigem, ausdauerndem Wesen, Fremden gegenüber oft sehr verschlossen, steht ihr kleines Ich augenblicklich etwas sehr im Mittelpunkt ihrer kleinen Welt.

Der nächste Eintrag aus dem folgenden Monat scheint auf meinen Wunsch hinzudeuten, die Zuneigung meiner Mutter zu gewinnen. Aus nicht genannten Gründen war ich mittags mit Dietmar allein. Bei ihrer Rückkehr stellte meine Mutter fest: »Ingrid mit ernstem Gesicht eifrig damit beschäftigt dem Brüderchen das Essen einzugeben, genau wie Mami das sonst tut.«

Falls man nach dem Tagebuch gehen kann, habe ich wohl keinen Erfolg gehabt. In den zwölf Monaten des Jahres 1945 schaffte es meine Mutter nur fünfmal, die Feder zu Papier zu bringen: Zweimal berichtet sie, dass ich die Masern hatte, einmal notiert sie die erfreuliche Nachricht, dass ich mich vor dem Hund der Familie nicht mehr fürchtete, und in zwei weiteren Einträgen ist meine verzögerte Sprachentwicklung festgehalten: »ganze Sätze behagen ihr nicht, höchstens drei bis vier Worte«. Es gab einen sehr guten Grund, warum sich meine kindliche Zunge mit den deutschen Wörtern so schwer tat; einen Grund, den meine Mutter, wenn sie darüber nachgedacht hätte, bestens gekannt hätte. Er wird aber auf diesen Seiten des Notizbuchs nicht erwähnt.

Sie geht auch nicht weiter auf das ein, was im Jahr darauf eine für mich traumatische Periode meines Lebens gewesen sein muss. Im Sommer berichtet meine Mutter lakonisch, dass ich (vermutlich zusammen mit Dietmar) in ein Kinderheim in das mehr als 250 Kilometer entfernte Lobetal bei Berlin geschickt worden sei. Wie kamen wir dorthin? Ich weiß es nicht, da ihr Tagebuch darüber, wie auch über so vieles andere, schweigt. Sie schreibt nur das Folgende: »Da Mami krank ist ist Ingrid vom 5. August bis 1. November im Kinderheim Lobetal. Sie hat dort leicht Mumps.«

Bei der Krankheit meiner Mutter handelte es sich, wie ich Jahrzehnte später erfuhr, de facto um einen Nervenzusammenbruch, verursacht vielleicht durch das Scheitern ihrer Ehe und die Belastung durch zwei kleine Kinder, um die sie sich kümmern musste. Eine Ursache mag auch das nervenaufreibende Leben unter der sowjetischen Besatzung, die ständige Angst vor einer Festnahme oder – noch schlimmer – vor einer Vergewaltigung durch die Soldaten der Roten Armee gewesen sein. Möglicherweise befürchtete sie zudem, dass es Ärger geben könnte, falls die sowjetische Verwaltung entdeckte, dass ich keine Geburtsurkunde hatte und die einzigen mich betreffenden Dokumente von einer NS-Organisation ausgestellt worden waren. Der erste Tagebucheintrag im Jahr 1947 zeigt jedenfalls, dass sie sich zur Flucht entschlossen und meinen Vater, obwohl sie noch immer entzweit waren, in ihre hochgefährlichen Pläne eingeweiht hatte. »Am 1. Mai 1947 bringt Papi beide Kinder ins Kinderheim nach Lobetal, da Mami schwarz über die Grenze gehen will.«

Ich kann weder so tun, als wäre ich meiner Mutter jemals nahe gewesen, noch kann ich behaupten, dass ich mich von meiner Mutter tatsächlich jemals so geliebt fühlte, wie es für ein Kind selbstverständlich sein sollte. Auch Gisela war sich völlig darüber im Klaren. In einem anderen kurzen handschriftlichen Tagebucheintrag hielt meine Mutter fest, dass ich meine Großmutter immer viel lieber gehabt hätte als sie. »Über alles geliebt ist Großmutti, oft viel mehr als Mami, sie versteht es auch so gut mit den Kleinen.« Trotzdem muss ich zugeben, dass ihr Entschluss, auf die Freiheit zu setzen, ungeheuer mutig war.

Die Grenze zwischen dem Gebiet, das knapp zwei Jahre später zur »Deutschen Demokratischen Republik« werden sollte, und der britischen Zone des besetzten Deutschlands war sowohl politischer wie auch ganz konkreter Natur. Natürlich war es verboten, die sowjetische Zone ohne Sondergenehmigung zu verlassen, und eine solche Genehmigung war – wie der Plan meiner Mutter, die Grenze illegal zu überschreiten, implizierte – nur sehr schwer zu erhalten. Allein die Tatsache, dass sie diesen Gedanken in ihrem Tagebuch notierte, hätte – wenn man es gefunden hätte – zu Verhören, zur Inhaftierung in einem Schweigelager oder zu noch Schlimmerem führen können.

Abgesehen davon war die Reise zur Grenze ebenso mühsam und kompliziert wie gefährlich. Bandekow war zwar keine 15 Kilometer Luftlinie von der Elbe entfernt, die einen Großteil der Grenze zur britischen Zone bildete, aber es gab keine Möglichkeit, sie zu überqueren, selbst wenn wir die Mittel zu einer solchen Reise gehabt hätten. Meine Mutter hatte bereits eine geheime Erkundungsfahrt unternommen und muss herausgefunden haben, dass die nächstgelegenen Brücken in Lauenburg und Dömitz von der sich zurückziehenden deutschen Armee 1945 gesprengt worden waren. Die nächste noch intakte Brücke befand sich 150 Kilometer weiter südlich in Magdeburg.

Da bei der Eisenbahn noch immer chaotische Zustände herrschten und Privatautos (erst recht das für sie notwendige Benzin) rar waren, wäre eine Reise nach Magdeburg schon für eine gesunde, allein reisende Erwachsene eine Herausforderung gewesen. Meiner Mutter ging es offenkundig nicht gut – und sie würde zwei sehr kleine Kinder auf jedem Schritt ihres Weges mitschleppen müssen: Das muss eine beängstigende Vorstellung gewesen sein.

Mit Dietmar und mir im Schlepptau konnte sie überhaupt nichts mitnehmen: Wir drei würden uns in der Kleidung, die wir hatten, auf den Marsch begeben. Falls wir erfolgreich wären, würden wir im sicheren britischen Territorium mit nicht mehr als dem ankommen, was wir am Leibe trugen.

Dass es im Jahr 1947 fast unmöglich war, ohne Weiteres von einem Ort zum anderen zu gelangen, zeigt sich deutlich anhand der verschlungenen Fluchtroute, die meine Mutter in ihrem Tagebuch genau beschrieben hat. Wenn man sie jetzt auf einer Landkarte nachverfolgt, sieht man, dass der erste Teil der Reise uns nicht in den Westen, sondern nach Osten führte, noch tiefer hinein in die sowjetische Zone und weg von dem Gebiet, in das wir uns flüchten wollten.

Am 30. Juni ging es los; wir fuhren, glaube ich, mit Pferd und Wagen 25 Kilometer bis zu der kleinen Stadt Lübtheen. Dort fand meine Mutter ein Hotel, in dem sie uns für die Nacht unterbrachte und in dem wir auf die Ankunft ihres Mitverschwörers am nächsten Morgen warten konnten.

Ich habe keine Ahnung, wie es mein Vater geschafft hat, sich Papiere zu besorgen, die ihm den Übergang von der amerikanischen Zone in sowjetisch kontrolliertes Territorium ermöglichten. Ebenso wenig kann ich mir vorstellen, wo er das Auto bekommen hat, in das wir vier uns an jenem Morgen gezwängt haben. Ich weiß nur, dass die 30 Kilometer lange Fahrt bis zu der östlich gelegenen Stadt Ludwigslust die letzten Stunden sein sollten, die wir als Familie gemeinsam verbrachten.

Der Grund für diese so weit in den Osten führende Reise erwartete uns am Bahnhof von Ludwigslust. Sowohl der Bahnsteig als auch der Zug, der uns – jetzt endlich gen Westen – nach Magdeburg bringen sollte, müssen völlig überfüllt gewesen sein. In jenem Sommer waren mehr als zehn Millionen Flüchtlinge und freigelassene Kriegsgefangene unterwegs. So wie wir suchten viele verzweifelt nach einer Möglichkeit, die sowjetische Zone zu verlassen. Wieder weiß ich nicht, wie wir an die begehrten Fahrkarten gekommen sind. In ihrem Tagebuch berichtete meine Mutter nur, dass mein Vater Dietmar und mich durch das Zugfenster in ihre Arme drücken musste. Sie erwähnt ebenso wenig, dass er nicht mit uns reiste. Er blieb auf dem Bahnsteig zurück und winkte (wie ich mir gerne vorstelle) einsam und ängstlich seiner Frau wie auch seinen Kindern zum Abschied zu.

Magdeburg liegt mehr als 150 Kilometer weiter südlich, und die Zugreise dauerte den ganzen Tag. Als wir schließlich ankamen, war es Abend, und wir müssen müde und hungrig gewesen sein. Es dürfte keine leichte Aufgabe gewesen sein, etwas Essbares aufzutreiben. Magdeburg war 1945 heftig bombardiert worden, und als wir dort eintrafen, war die Stadt noch immer von Ruinen und Zerstörung gezeichnet. Und obwohl sie in der sowjetischen Zone lag, waren unsere von den Sowjets ausgegebenen Lebensmittelkarten dort nicht gültig. Allein mit zwei kleinen Kindern in einer fremden, verwüsteten Stadt tat meine Mutter das einzig Mögliche: Sie machte einen Schwarzmarkthändler ausfindig und gab ihm 60 Mark für ein paar Scheiben Brot.

Das Tagebuch meiner Mutter gibt keine Auskunft darüber, wo wir in jener Nacht unterkamen. Angesichts des Chaos, das in Magdeburg herrschte, ist es eher unwahrscheinlich, dass wir ein Hotel gefunden haben. Im Tagebuch heißt es nur, dass wir den ganzen nächsten Tag in der Stadt geblieben seien und am Abend die Unterkunft gewechselt hätten, um der nächsten Etappe auf unserem Weg in die Freiheit näher zu sein.

Wir mussten zunächst einen Zug nehmen, der uns von Magdeburg in das nördlich gelegene Dorf Gehrendorf brachte. Dort bildete der kleine Fluss Aller die Grenze zwischen Ost und West. Auf der anderen Seite, in der sicheren britischen Zone, lag die kleine Gemeinde Bahrdorf. Alles, was uns von unserem Ziel trennte, war das langsam dahinfließende Wasser der Aller.

Allerdings gab es weder Boote noch Brücken: Die einzige Möglichkeit, über den Fluss zu kommen, bestand darin, ihn zu durchwaten. Und das taten wir.

Wie lange hat es gedauert? Gewiss nicht allzu lange, da die Aller normalerweise schmal und im Hochsommer wohl ziemlich flach gewesen ist. Aber das, was einer gesunden, nur auf sich gestellten Erwachsenen nicht viel Mühe gemacht hätte, muss für eine nervöse junge Frau, die an einem heißen Mittsommertag mit zwei kleinen Kindern unterwegs war, eine sehr viel größere Herausforderung dargestellt haben. Hat sie, in der Hoffnung, dass wir von den Grenzposten der Roten Armee nicht gesehen würden, ständig über die Schulter geschaut und gebetet, dass weder Dietmar noch ich weinen und unsere gefährliche Position verraten würden?

Alles, was ich sicher weiß, ist das, was meine Mutter später in ihrem Notizbuch festgehalten hat: »Es ist sehr heiss u. Ingrid ist sehr tapfer u. überwindet den anstrengenden Marsch ohne zu klagen.«

Schließlich erreichten wir den sicheren Hafen auf der anderen Seite. Wir krochen die Böschung hinauf, und nach einem langen Marsch durch Niemandsland erreichten wir die britische Besatzungszone. Wir waren entkommen. Wir waren frei.

Zwar verrät der knappe Bericht über die Flucht von Ost nach West so viel Dringlichkeit und Entschlossenheit, dass meine Mutter geahnt haben muss, wie bald der Eiserne Vorhang sich senken würde. Gleichwohl kann sie nicht gewusst haben, dass wir gerade noch rechtzeitig geflohen waren. Im September 1947 wurden die Grenzen zwischen der Sowjetzone und den Sektoren der früheren westlichen Verbündeten durch neu eingetroffene NKWD-Soldaten streng bewacht. Und es sollte nicht mehr lange dauern, bis der Befehl erging, potentielle Flüchtlinge sofort zu erschießen.

Wie sah an jenem Sommerabend für Gisela von Oelhafen die Freiheit aus? Was bedeutete es für sie, nach zwei Jahren unter sowjetischer Besatzung in Sicherheit zu sein und ihre Kinder vor der drohenden eisernen Herrschaft Moskaus gerettet zu haben? Ich wünschte, ich könnte sie heute danach fragen.

Eine anstrengende Tagesreise später kamen wir sicher in Wunstorf an. Die Kleinstadt westlich von Hannover war die vorletzte Etappe auf der Reise meiner Mutter zu ihrem Elternhaus in Hamburg. Ich spreche ganz bewusst von der Reise meiner Mutter, da sie den letzten Teil ihres Trecks allein machen würde. Ihr Tagebucheintrag – knapp und frostig wie immer – vermerkte, welches sehr andere Schicksal Dietmar und mir zugedacht war: »4. Juli: Nach Loccum, Kinderheim.«

Sie hatte Dietmar und mich aus der sowjetischen Zone in das weniger gefährliche Gebiet des britischen Sektors mitgenommen. Aber weiter reichte ihre mütterliche Fürsorge nicht. Sobald sie uns in Sicherheit gebracht hatte, schickte sie uns fort, um unsere Betreuung anderen zu überlassen.

Und so endete meine zweite Nacht in Freiheit in einem Heim für unerwünschte Kinder. Die nächsten sechs Jahre sollte ich, einsam und isoliert, unter der Obhut der Kirche verbringen. Tatsächlich begann mein neues Leben genau so, wie das alte Leben geendet hatte: in Kälte und Furcht.

Hitlers vergessene Kinder

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