Читать книгу Hitlers vergessene Kinder - Tim Tate - Страница 13
ОглавлениеMeine erste richtige Erinnerung ist die an eine Apfelsine.
Ich habe Fetzen anderer, möglicherweise früherer Erinnerungen – ich liege frierend unter einer Decke auf dem Fußboden eines Zuges; eine Reihe von Feldbetten in einem langgestreckten Raum und eine über meine Füße laufende Ratte –, aber die erste tatsächliche Erinnerung, von der ich weiß, dass sie wahr ist, betrifft die Apfelsine.
Ich sitze an einem langen hölzernen Esstisch in einem großen Raum. Es sind viele Leute da, Erwachsene und Kinder. Ich weiß, dass viele der Erwachsenen obdachlose Männer und Frauen sind, die an diesem Tag hierher eingeladen worden sind, wohingegen die Kinder in diesem Gebäude wohnen. Jedes von uns hat einen Teller mit Obst bekommen, darunter eine einzelne Apfelsine als besonderen Leckerbissen.
Ich weiß, woher diese Erinnerung kommt und aus welcher Zeit sie stammt. Es war das Jahr 1947, und ich war fast sechs Jahre alt. Der Raum mit dem langen Tisch befand sich in dem Kinderheim, in das Dietmar und ich abgeschoben worden waren. Es war Weihnachten.
Das Heim wurde von der protestantischen Kirche geführt und hieß Nothelfer. In ihm lebten 65 Jungen und Mädchen, alle jünger als zehn Jahre.
Bei manchen handelte es sich um Displaced Persons – Kinder, die ihre Eltern im Krieg oder im Chaos der Massenwanderung in den ersten Nachkriegsmonaten verloren hatten. Bei Dietmar und mir war es anders: Unsere Eltern lebten und wussten, wo wir waren, hatten uns jedoch aus Gründen, die nur sie kannten, hierher geschickt, um uns von anderen versorgen zu lassen.
Wir waren sowohl körperlich als auch seelisch isoliert. Das Nothelfer-Heim lag auf Langeoog, einer kleinen Nordseeinsel zehn Kilometer von der Küste des deutschen Festlandes und 200 Kilometer von Hamburg entfernt. Ich glaube nicht, dass meine Eltern beabsichtigt hatten, uns so weit fortzuschicken; bei unserer Ankunft im Juli befand sich das Heim noch in der Nähe von Hannover. Doch irgendwann im Laufe der nächsten fünf Monate wurde diese Einrichtung geschlossen, und wir wurden nach Langeoog gebracht.
Angesichts seiner Lage war es kaum verwunderlich, dass es im Nothelfer-Heim so kalt war. Ich kann noch immer den Wind spüren, der den Sand auf dem langen Strand der Insel aufpeitschte; er schien mir die Haut von Beinen und Armen zu reißen. Aber es war die emotionale Kälte, die sich noch tiefer in uns einnistete. Das Heim wurde von Schwestern eines religiösen Ordens geleitet, und ihr Regime konnte manchmal drakonisch sein: Körperliche Bestrafungen gehörten zu unserem Alltag.
Wenn wir nicht gehorchten, wenn wir ins Bett machten oder gegen die oberste Regel verstießen, die uns das kindliche Vergnügen verbot, die Dünen hinunterzurutschen, bekamen wir Schläge. Ich erinnere mich recht genau daran, wie eine Gruppe von schmutzigen, bedrückten Jungen und Mädchen vor der strengsten der Schwestern stand, die im Begriff war, unsere nackten Hintern mit einem Stock zu traktieren. Dies war unser neues Leben im Westen.
Wir sollten die nächsten vier Jahre im Nothelfer-Heim bleiben. Von Zeit zu Zeit fuhren unsere Eltern auf die Insel, um uns zu besuchen. Ihre Besuche waren jedoch selten, und sie kamen niemals zusammen, sondern immer allein. Zu diesem Zeitpunkt war mein Vater aus der amerikanischen Besatzungszone in den britischen Sektor gezogen und baute sich gerade ein Haus in dem westfälischen Kurort Bad Salzuflen. Obwohl er und meine Mutter getrennt lebten, hatten sie sich nicht scheiden lassen (und würden es auch niemals tun). Gelegentlich verbrachten sie einige Zeit zusammen – im Allgemeinen dann, wenn Dietmar und ich einen von ihnen besuchen durften –, aber meine Mutter hatte in Hamburg ein eigenes Leben begonnen.
Gleich nachdem sie uns ins Nothelfer-Heim geschickt hatte, war sie in ihr Elternhaus in der Stadt zurückgekehrt, ein großes dreistöckiges Gebäude in einem exklusiven Viertel. Die Blumenstraße Nr. 39 hatte drei Stockwerke und ein Souterrain sowie einen weitläufigen Garten, der sich bis zum Rondeelteich erstreckte – eines der Gewässer im Herzen Hamburgs, auf bzw. in denen die Leute Boot fuhren, segelten oder schwammen. Dort lebte sie mit ihrer Mutter, meiner Tante Eka und einer auch als Köchin angestellten Haushälterin.
Anfangs teilten sie sich das Haus auch mit Offizieren der britischen Armee, die am Ende des Krieges dort einquartiert worden waren. Deren Anwesenheit war angeblich der Grund dafür, dass wir ins Kinderheim geschickt worden waren. Nach Auskunft meiner Mutter gab es nicht genügend Platz für uns alle.
Ob dies nun der Wahrheit entsprach oder nicht (die Situation änderte sich nämlich nicht, als die Soldaten auszogen): Ohne einen Ehemann oder zwei Kinder im Schlepptau konnte sie ein neues Leben beginnen. Sie schrieb sich an der Fachschule ein und begann eine Ausbildung zur Physiotherapeutin. Nach ihrem Examen richtete sie in einem der Räume im Erdgeschoss ihre Praxis ein, in der sie mit immer mehr Patienten arbeitete.
Außerdem nutzte sie ihren Status als Quasi-Alleinstehende dazu, sich einen Freund zuzulegen. Weder Dietmar noch ich sollten diesem Mann jemals begegnen, doch nach zwei Jahren brachte sie einen kleinen Jungen auf die Welt, den sie Hubertus nannte. Er war, dessen bin ich mir sicher, nicht der Sohn meines Vaters, wurde aber offiziell unter dem Namen von Oelhafen registriert.
Ich kann, wenn ich ganz ehrlich bin, nicht behaupten, dass uns die Besuche meines Vaters in Langeoog viel bedeutet hätten. Ob das an seinem Alter oder an seiner Steifheit und Strenge lag, kann ich nicht sagen. Dagegen erinnere ich mich mit schmerzlicher Deutlichkeit an die Herzschmerzen, die mir die Trennung von meiner Mutter bereiteten, und die Verlustgefühle, die ich nach ihren gelegentlichen Ausflügen zu uns hatte. Ich vermisste sie schrecklich.
Unter ihren Sachen fand ich Jahre später eine Nachricht von einer der netteren Schwestern, die das Heim leiteten.
Sehr geehrte, gnädige Frau!
Dem Brief an Ingrid möchte ich einige Zeilen beifügen. Seit einigen Wochen macht mir Ingrid Sorgen. Sie hat große Sehnsucht nach ihrer Mutti. Jeden Tag erzählt sie von Mutti oder fragt: Ob ich einmal zu Mutti darf? Ich möchte so gern zu ihr fahren. Tante Emi, glaubst du, dass ich auch einmal von der Insel fahren und dann ein bißchen bei Mutti sein darf?
Ingrid ißt nicht gut und ist elend geworden. Der Grund dieses Elendseins ist nach meiner Meinung das Heimweh. Diese Sehnsucht nach der Mutti. –
In der Schule ist Ingrid eine von den Besten. Sie lernt fleißig. Auch sonst ist es ein liebes Kind. –
Ich fühlte mich verpflichtet Ihnen dieses zu berichten.
Mit freundlichen Grüßen bin ich Ihre Schwester Emi
Ob meine Mutter auf diesen Brief geantwortet hat, habe ich niemals herausfinden können. Ich erinnere mich auch nicht, ob sie auf die Briefe, die ich ihr geschrieben habe, geantwortet hat, aber sie hat zumindest einige von ihnen aufgehoben. Zusammen mit Schwester Emis Schreiben habe ich diesen undatierten Brief gefunden, den ich nach einem allzu kurzen Besuch bei ihr in meiner kindlichen Handschrift hingekritzelt hatte.
Liebe Mutti!
Schönen Dank für das Paket. Ich schreibe nicht viel aber etwas. Liebe Mutti nimm mich doch für immer nach Hause ich sehne mich nach Dir und Großmutti und Tante Eka. Ich weine jedes mal wenn von Euch geredet wird oder wenn ich an Euch denke. Auf der Reise habe ich fast nichts gegessen. Ich habe noch die Tafel Schokolade und die zwei Mark. Schreibe doch bitte schnell an die Vormundsregierung damit ich bald hier wegkomme. Christ[a] fährt auch bald weg, in diesen oder im nächs[t]en Monat. Ich möchte aber schon im diesen Monat möchte ich aber schon weg. Dietmar hat mir erzählt das er ganz viel Obst und Süßigkeiten bekommen hat, und Dietmar neckt mich jetzt nur und sagt warum bist du nicht in Hamburg geblieben. Ich möchte gerne von hier weg. Liebe Mutti sieh doch bitte zu das ich bald von hier wegkomme. Christa hat auch geweint als sie von ihren Eltern weg gehen mußte das hat sie mir erzählt. Viele Grüße und Küsse von Ingrid. Schreibe nichts an Vati das ich geschrieben habe. Liebe, liebe Mutti hol mich doch bitte bald.
Sie hat es niemals getan. Und selbst die sporadischen knappen Einträge in dem kleinen Tagebuch, das sie anscheinend für mich geführt hatte, hörten im Sommer 1949 abrupt auf.
Ich war zehn Jahre alt, als ich Langeoog im Jahr 1952 endgültig verließ. Ich hatte die Prüfung für die Mittelschule bestanden und hoffte sehr, endlich mit meiner Mutter in Hamburg leben zu dürfen. Es sollte nicht sein. Stattdessen holte mein Vater meinen Bruder und mich zu sich: Wir sollten mit ihm in seinem neuen Haus in Bad Salzuflen wohnen.
Damals war Hermann von Oelhafen 68 Jahre alt, verbittert über den Verlust seiner Frau, bei heikler Gesundheit und denkbar schlecht gerüstet für die Betreuung kleiner Kinder, die er kaum kannte. Von den zehn Jahren meines Lebens und den neun Jahren von Dietmars Leben hatte er höchstens ein paar Monate mit uns zusammen verbracht. Es war mit Sicherheit etwas zu spät, um noch Vater zu werden.
Ich glaube heute zu wissen, warum Hermann uns nach Bad Salzuflen holte. Vermutlich liebte mein Vater Gisela noch immer und hoffte, dass unsere dortige Anwesenheit sie ihm irgendwie zurückbringen könnte; dass trotz ihrer offensichtlichen Liebesaffäre mit einem anderen Mann – und trotz ihres gemeinsamen Kindes – Dietmar und ich der Kitt für ihre zerbrochene Ehe sein würden.
In diesem Punkt sollte er, wie in vielen anderen, enttäuscht werden. Gelegentlich stattete meine Mutter uns einen Besuch ab (in dem eleganten, aber keineswegs großen Haus in der Akazienstraße war nur für sie ein Gästezimmer reserviert), aber eine Versöhnung stand nie zur Debatte.
Seit unserer Ankunft war das Leben in Bad Salzuflen schrecklich. Bereits als kleines Kind war Dietmar temperamentvoll und schwierig, wenn auch nicht besonders ungezogen. Heute hätte man bei ihm vielleicht ADHS diagnostizieren können. Jedenfalls trugen er und Hermann einen Machtkampf aus. Er kam ständig zu spät aus der Schule nach Hause – obwohl er dort, wie es schien, niemals etwas lernen wollte –, und Hermann, der noch in seinen besten Momenten aufbrausend war, hatte weder Verständnis noch Geduld mit diesem anstrengenden kleinen Jungen. Sehr bald fing er an, Dietmar zu schlagen.
Es war erschreckend mitanzusehen: Einmal schleuderte er ihn quer durchs Zimmer. Und dennoch hatte Dietmar irgendwie keine Angst vor ihm. Ich dagegen war völlig verschreckt. Obwohl mein Vater mich nie schlug, lebte ich in ständiger Furcht vor seinem Jähzorn. Ich begann, mich an Dietmar zu halten, wenn ich meinen Vater auch nur wegen der geringsten Kleinigkeit um Erlaubnis bitten wollte. Einmal wollten wir schwimmen gehen, aber ich wagte nicht zu fragen. Dietmar ging statt meiner sofort zu ihm, die Erlaubnis wurde erteilt, aber für mich änderte sich dadurch nichts. Ich hatte noch immer zu viel Angst, mit meinem Vater zu sprechen.
Und dann wurde Dietmar abgeholt.
Irgendjemand – vermutlich das Jugendamt der Kommunalverwaltung – entschied, dass Dietmar nicht länger bei uns wohnen könne, da Hermann nicht mit seiner Frau zusammenlebe und es in unserem Haus daher keine Mutter gebe.
An dieser Entscheidung war vieles seltsam. Zunächst einmal betraf sie nur Dietmar. Obwohl er nicht einmal ein Jahr älter war als ich, waren die Behörden offenkundig nicht der Meinung, dass auch ich der Obhut meines Vaters entzogen werden müsse. Die offizielle Begründung für diese Diskrepanz war die Tatsache, dass das Ehepaar mittleren Alters, das bei uns lebte und für Hermann kochte, den Haushalt führte und allgemeine Dienste leistete, sich um mich kümmerte. Aber niemand konnte erklären, wieso die bezahlte Betreuung durch Emmi und Karl Harte für mich gut genug, für Dietmar jedoch unzureichend war.
Noch verwirrender war die Entdeckung, dass Dietmar eine Familie hatte – eine, die gar nichts mit uns zu tun hatte und in München lebte. Wäre ich älter gewesen, hätte ich natürlich erkannt, dass wir aufgrund der neun Monate, die zwischen meinem und seinem Geburtstag lagen, gar nicht dieselbe Mutter haben konnten. Aber selbst wenn ich alt genug gewesen wäre, um dieses elementarste Faktum des Lebens zu verstehen, hätte ich nicht begriffen, dass der kleine Junge, den ich immer als meinen Bruder bezeichnet hatte, in Wirklichkeit von meinen Eltern in Pflege genommen worden war.
Und so stellte sich heraus, dass Dietmar einen Onkel, eine Tante und eine Schwester – allesamt Blutsverwandte – hatte, die sich vermutlich früher um ihn gekümmert hatten. Ich erinnere mich nicht, dass mir irgendjemand erklärt hätte, wieso er nicht bei ihnen, sondern bei uns lebte. Eines Tages wurde er einfach aus Bad Salzuflen abgeholt. Wie sich erweisen sollte, kehrte er niemals zu seiner lang vermissten Familie zurück. Stattdessen gab sie ihn in die Obhut eines anderen Kinderheims. Jetzt war ich (abgesehen von den Hartes) ganz allein im Haus meines Vaters und, nach meinen Briefen an Gisela zu urteilen, völlig in Panik.
Liebe Mutti! den 22. 6. 52
Schicke mir bitte wieder Briefumschläge mit Briefmarken. Liebe Mutti, hole mich doch bitte diese Woche nach Hamburg bei Vati kann ich nicht mehr bleiben. Ich kann Dir sagen jetzt habe ich vor Vati noch größere Angst. Er hat mich einmal ausgeschimpft weil ich nach dir geweint habe. Jetzt weine ich jeden Tag. Liebe Mutti hole mich bitte gleich an der stelle, hier bei Vati kann ich es nicht aushalten oder wenn du hier für immer bliebes aber so wie Onkel Harte sagt hast du selbst vor Vati Angst. Liebe Mutti du kannst ja Onkel Harte die Briefmarken schicken aber schreib bitte nichts an Vati das ich an Dir geschrieben habe. Mutti wir können das ja so machen Du kommst her und holst mich für immer nach Dir hin und zu Vati sagst Du, Du hättest nach München [an das Jugendamt] geschrieben ob ich zu Dir dürfte aber den Brief hättest Du nicht mit aber ich schick ihn dir und in Hamburg schreiben wir schnell mit der Schreibmaschine und schicken ihn den Brief und tun so als ob der von München wäre. Ich möchte gerne diese Woche noch zu Dir, hole mich doch schnell. Heute habe ich wieder geheult, weil ich an Dir denken mußte hier habe ich nichts lust zu spielen nur weil du nicht dabei bist. Hole mich doch schon am 25. 6. 52. Viele Grüße und Küsse von Ingrid. Hole mich doch bitte schon am 25. 6. 52. bitte, bitte, liebe Mutti.
Diese flehentlichen Bitten blieben ungehört. Obwohl meine Mutter uns weiterhin kurze Besuche abstattete, nahm sie mich niemals mit zu sich nach Hause. Ob das so war, weil mein Vater es verboten hatte oder weil sie nicht wollte, dass ich bei ihr lebte, das Ergebnis war das gleiche: Ich war in dem Haus in Bad Salzuflen de facto gefangen, zusammen mit einem alten Mann, der immer verbitterter und knauseriger wurde.
Ingrid, elf Jahre alt, in Bad Salzuflen.
Trotz meiner erst elf Jahre war mir bewusst, dass mein Vater weniger Geld hatte als meine Mutter. Von der neuen westdeutschen Regierung bezog er eine staatliche Pension, den Lohn für die Jahre, die er sowohl dem Kaiser wie auch dem Reich als Heeresoffizier gedient hatte.
Aber das schien zum Beispiel nicht dafür auszureichen, eine Tageszeitung zu abonnieren. Daher machte er sich auf den Weg in die Stadt, wo er vor dem Zeitungsbüro stand und die Morgenausgabe las, die immer im Fenster ausgehängt war. Gelegentlich durfte ich ihn begleiten.
Hermanns Gesundheit verschlechterte sich zunehmend. Er hatte viele Jahre an Epilepsie gelitten (ein Leiden, das er Gisela offenbar verheimlicht hatte, als er ihr den Heiratsantrag machte). Jetzt wurde die Krankheit immer schlimmer.
Zwar habe ich bei ihm niemals einen voll ausgeprägten epileptischen Anfall gesehen, doch wenn er einen Anfall hatte, wurde er »abwesend« – vollkommen in sich selbst verloren. Es gab keine Möglichkeit, mit ihm zu kommunizieren, und sein Verhalten war merkwürdig und furchteinflößend. Oft griff er nach einem Messer und fuchtelte wild damit herum. Einmal war er im Krankenhaus, und während seiner Abwesenheit war Frau Harte mit der Marmelade für mein Frühstück großzügiger als er. Als Hermann wieder nach Hause kam, sah er am Glas, wie viel von der Marmelade verbraucht war, und wurde wütend. Zur Strafe für meine offensichtliche Gier wurde mir für eine Woche die Marmelade entzogen.
Die Schule wurde zu meinem Zufluchtsort. Ich hatte Freunde und Freundinnen, deren Eltern, vielleicht weil sie sahen, wie unglücklich ich zu Hause war, freundlich und liebevoll mit mir umgingen. Ich verbrachte sehr gerne Zeit mit ihnen und wünschte mir, ebenfalls Teil einer richtigen Familie zu sein. Und dann, im Alter von elf Jahren, fand ich heraus, dass ich nicht die war, die ich dachte zu sein.
Eines Morgens wachte ich auf und konnte meine Augen nicht mehr öffnen. Mein Vater brachte mich zum Arzt.
Wir saßen im Wartezimmer, bis ich an die Reihe käme. Als der Arzt den Namen »Erika Matko« aufrief, erhob sich mein Vater und führte mich in den Behandlungsraum. Er überreichte dem Arzt meine Krankenversicherungskarte, und ich sah, dass sie ebenfalls auf den Namen »Erika Matko« ausgestellt war.
Ich hatte keine Ahnung, warum ich unter einem anderen Namen aufgerufen wurde, wagte es jedoch nicht, den Arzt oder meinen Vater darauf anzusprechen. Ich hatte noch immer zu viel Angst, ihn irgendetwas zu fragen. Am Ende der Untersuchung wurde mir eine Höhensonnenkur verschrieben – eine in jenen Tagen durchaus übliche Behandlung bei Vitaminmangel (der höchstwahrscheinlich auf meine Jahre im Kinderheim auf Langeoog zurückging) –, und wir gingen wieder nach Hause. Über die merkwürdige Sache mit dem anderen Namen wurde kein Wort verloren, aber ich vergaß sie nicht.
Kurze Zeit später hatte ich ein Gespräch mit Frau Harte. Jeden Freitag pflegten wir zusammen das Haus zu putzen, und ich konnte mir ihr frei über alles sprechen, was mir am Herzen lag. Meine Beziehung zu ihr kam der einer normalen Beziehung zu einem Erwachsenen am nächsten. Während des Saubermachens fragte ich sie, ob sie wisse, warum mein schriftlicher Name Erika Matko sei.
Emmi teilte mir mit, dass Hermann und Gisela nicht meine leiblichen Eltern seien. Sie hätten mich, ebenso wie Dietmar, als Baby in Pflege genommen, und mein ursprünglicher Name sei Erika Matko. Emmi war es nicht peinlich, mir zu sagen, dass ich ein Pflegekind war. Der Krieg hatte so viele Familie auseinandergerissen und so viele Kinder elternlos zurückgelassen, dass unsere Situation durchaus nicht ungewöhnlich war.
Ich erinnere mich nicht, dass mich die Entdeckung der Wahrheit über mich bestürzt hätte. Ich stand Hermann nicht nahe und habe die Information wohl so verarbeitet, dass ich mir dadurch erklären konnte, warum er mir gegenüber so kalt war und warum ich nicht mit Gisela zusammenleben durfte.
Aber natürlich fragte ich mich, woher ich stammen könnte. Ich nahm an, dass meine richtigen Eltern Deutsche seien – etwas anderes kam mir nie in den Sinn –, und stellte Mutmaßungen darüber an, was ihnen passiert sein mochte. Vielleicht waren sie im Gefängnis gewesen, oder sie waren womöglich im Krieg gestorben. Emmi hatte sich, wie sie sagte, wegen meiner großen Nase gefragt, ob ich jüdischer Herkunft sei. Mein Vater hatte sie zwar darüber informiert, dass ich ein Pflegekind war, aber mehr wusste sie nicht. Alles andere war reine Spekulation.
Die eine Person, mit der ich gerne geredet hätte, war Dietmar. Im Kinderheim und in den wenigen Monaten, die wir in Hermanns Haus gemeinsam verbracht hatten, waren wir uns nahe gewesen. Aber dann hatte man ihn weggebracht, und ich hatte keine Möglichkeit, Kontakt mit ihm aufzunehmen. Ich hatte noch nicht einmal eine Adresse, an die ich hätte schreiben können.
An meinem Leben änderte sich nichts. Jeden Morgen ging ich zur Schule – wo ich als Ingrid von Oelhafen registriert und bekannt war – und kehrte nachmittags in das Haus in Bad Salzuflen zurück. Dort lebte ich mit dem Mann, der, wie ich jetzt wusste, nicht mein leiblicher Vater war und vor dem ich noch immer große Angst hatte.
In den nächsten zwei Jahren verschlechterte sich Hermanns Gesundheitszustand immer weiter, und er lag oft noch im Bett, wenn ich mich auf den Schulweg machte. Ich ging immer in sein Zimmer, um ihm einen guten Morgen zu wünschen, aber in Wahrheit tat ich das nur, um meinen Pflichten als gute Tochter nachzukommen.
Dann, an einem Aprilmorgen im Jahr 1954, gegen Ende des Frühlingshalbjahrs, als sich die langen Sommerferien näherten, verabschiedete ich von ihm wie gewöhnlich. Ich bemerkte zwar, dass er, als ich ging, etwas desorientiert war, aber zu Emmi und Karl Harte sagte ich nichts, weil ich annahm, es handele sich nur um ein weiteres Symptom seiner Krankheit. Doch nach meiner Rückkehr aus der Schule ging es ihm sehr schlecht: Es war klar, dass er einen Schlaganfall erlitten hatte. Mein Vater – beziehungsweise mein Pflegevater, wie ich inzwischen ja wusste – wurde ins Krankenhaus eingeliefert, wo er zwei Wochen später verstarb.
Ich empfand, wie ich zugeben muss, keine Trauer. Ich war vielmehr froh, von ihm und seiner Härte und Unerbittlichkeit befreit worden zu sein. Und ich ging davon aus, dass ich endlich mit Gisela in Hamburg würde leben dürfen. Was mich jedoch verletzte, war Emmis und Karls Reaktion: Sie kritisierten mich heftig, dass ich sie an jenem Morgen nicht über Hermanns Zustand informiert hätte.
Meine hochfliegenden Hoffnungen auf ein neues Leben mit meiner Mutter – damals dachte ich an sie noch immer als »Mutti«, obwohl ich wusste, dass ich nicht ihr ›richtiges‹ Kind war – sollten sich nicht erfüllen, zumindest nicht sofort. Gisela war zu beschäftigt mit ihrer erfolgreichen physiotherapeutischen Praxis und mit ihrem fünfjährigen Sohn, Hubertus.
Sechs lange Monate blieb ich daher in Hermanns Haus und wurde von den Hartes betreut. Erst Ende September 1954 wurde ich schließlich nach Hamburg geschickt. Und bis dahin schien die seltsame Geschichte von Erika Matko und meiner wahren Identität in Vergessenheit geraten zu sein.