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Montag, 7. Mai 1945, 2.40 Uhr: In der französischen Stadt Reims unterzeichnete der Generaloberst Alfred Jodl, Chef des Führungsstabes im Oberkommando der deutschen Wehrmacht, in einem kleinem Schulhaus aus rotem Backstein die bedingungslose Kapitulation des »Tausendjährigen Reiches«. Die fünf kurzen Paragraphen dieser Kapitulationsurkunde lieferten Deutschland samt seiner Bevölkerung der Gnade der vier siegreichen alliierten Mächte – Großbritannien, Amerika, Frankreich, Russland – aus und traten um 23.01 Uhr der darauffolgenden Nacht in Kraft.

Eine Woche zuvor hatten Hitler und die meisten Angehörigen seines inneren Kreises in den Eingeweiden des Berliner Führerbunkers Selbstmord begangen. Der Reichsführer SS Heinrich Himmler – Hitlers wichtigster Scherge und Chef des gesamten nationalsozialistischen Terrorapparates – war auf der Flucht. Er hatte sich mit einer grauen Uniform aus grobem Sergestoff als gemeiner Soldat getarnt und war mit gefälschten Papieren ausgerüstet, die ihn als einfachen Feldwebel auswiesen.

Es war vorbei. Die sechs Jahre des »totalen Krieges«, in denen mein Land mordend und plündernd durch Europa gezogen war, waren Vergangenheit. Nun mussten wir mit dem Frieden leben.

Wer waren wir an jenem Morgen im Mai? Was war Deutschland, das Land, das einst einen Bach und Beethoven, einen Goethe und einen Schiller hervorgebracht hatte, nach der Brutalität des Blitzkrieges – von der Abscheulichkeit und dem Genozid der »Endlösung« ganz zu schweigen? Wie würde der Frieden für die Sieger und die Besiegten aussehen? Es sollte sich zeigen, dass dies zwei ganz verschiedenen Fragen waren, wenn auch durch eine gemeinsame Antwort verbunden.

Ein neuer Begriff wurde geprägt, um unsere Situation im Jahr 1945 zu beschreiben: die »Stunde Null«. Doch für die noch schwelenden Überreste Deutschlands – nunmehr geprägt von Ruinen, Scham und Hunger – war es genauer gesagt das »Jahr Null«: sowohl ein Ende als auch ein Anfang.

Was bedeutete es ab Dienstag, den 8. Mai 1945, 23.01 Uhr, Deutscher zu sein? Für die Alliierten – die neuen Herren über jeden Quadratmeter Boden und über jedes individuelle Leben von der Maas im Westen bis an die Memel im Osten – bedeutete es Unterwerfung, Misstrauen und Unterdrückung. Nie wieder, erklärten die vier Besatzungsmächte, würde es den beiden vergifteten Strömen des deutschen Nationalismus und Militarismus erlaubt sein, über die Ufer zu treten und den Kontinent zu überfluten. Innerhalb weniger Stunden würden im Dienste dieses edlen Ideals Mechanismen und Verfahrensweisen entstehen, Systeme, die den Lauf meines Lebens bestimmen sollten – auch wenn ich damals noch zu jung war, um dies zu erkennen.

Für die Deutschen hatte diese existenzielle Frage nach der Identität wiederum eine andere Bedeutung. Es ging sehr viel weniger um Philosophisches als um die drei Ps, nämlich das Physische, das Politische und das Psychologische. Und von diesen drei Kategorien war die physische zweifellos die wichtigste – und die vordringlichste.

Im Mai 1945 war Deutschland eine Trümmerlandschaft, eine von gesprengten Brücken, aufgerissenen Straßen und ausgebrannten Panzern schwer gezeichnete Steppe. In den letzten Wochen und Monaten seines Reiches hatte Hitler, von Wahnsinn und ohnmächtiger Wut getrieben, den Befehl gegeben, »Festungsstädte« anzulegen. Das Vaterland müsse, wie er erklärte, bis zum letzten Tropfen reinen deutschen Blutes und bis zum letzten Stein eines deutschen Gebäudes verteidigt werden. Es dürfe keine Kapitulation geben, sondern stattdessen eine »Götterdämmerung« des Feuers und der Aufopferung, die die letzten Tage der selbsternannten Herrenrasse kennzeichnen sollte.

Das Ergebnis war weniger ein nobler Scheiterhaufen als ein sich über Tausende Meilen ausbreitendes Fegefeuer seiner Eitelkeit. Gezwungen, um jeden Zentimeter des Landes zu kämpfen – und von den Bombardements der Alliierten überzogen –, blieb von Deutschland nur noch eine post-apokalyptische Wüste. Die einst mächtigen Bauwerke des Reiches waren zu Schutthaufen zerfallen. Allein in Berlin gab es 75 Millionen Tonnen Schutt, der sich an und auf fast jeder Straße türmte. Und wie in Berlin sah es auch in den übrigen deutschen Städten aus. Sie waren zerstört und ausradiert; Bomben und Häuserkämpfe hatten 70 Prozent aller Gebäude beschädigt oder als Ruinen hinterlassen. Und überall die jetzt hohläugigen und abgemagerten Menschen, die in ihrer früheren Arroganz diejenigen dem eisernen Schicksal von Deutschlands Zukunft unterworfen hatten, die sie für rassisch minderwertig hielten.

Wochenschauen und Fotos – sie stammten von den Alliierten, da die deutsche Presse nach der Kapitulation sofort aufgelöst worden war – fingen Szenen ein, die früher unvorstellbar gewesen wären. Gespenstergleiche Frauen und Kinder scharten sich um halbzerstörte Häuser, die so aufgerissen waren, dass ohne die schützenden Wände die Überreste eines einst normalen Lebens – ein Kamin, Tapetenfetzen, Überbleibsel einer Toilette – auf obszöne Weise entblößt schienen. Waisen, Flüchtlinge, Alte und Verwundete; überall bot sich ein dystopisches Bild von auf der Straße liegenden namenlosen Leichen, betrachtet – oder häufiger noch gemieden – von ausgemergelten Gestalten, die ihnen möglicherweise bald in den Tod folgen würden.

Was taten sie – was taten wir damals? Ganz Deutschland durchwühlte, zumindest in den Städten, die Trümmer, baute sich provisorische Unterkünfte, suchte nach Nahrungsmitteln, versteckte sich oder verbrüderte sich ängstlich mit den siegreichen Besatzungsheeren. Nicht freiwillig, sondern notgedrungen. Denn es fehlte etwas, das sogar noch lebenswichtiger war als ein Obdach: Nahrung.

In den letzten Kriegswochen war die Wirtschaft des Landes – die bisher von der NSDAP ihren Interessen untergeordnet worden war – genauso komplett zusammengebrochen wie dessen Gebäude. Ironischerweise war sehr viel Geld im Umlauf, doch die Bündel von Banknoten und Berge von Münzen waren zu nichts nütze: Da alle verfügbaren Ressourcen dem Volk vorenthalten und der Armee zur Verfügung gestellt wurden, um deren Bedürfnisse zu decken, und da die Explosionen das Eisenbahnnetz zerstört hatten, sodass die Ernteerträge nicht mehr verteilt werden konnten, gab es für die jetzt nutzlose Mark nur wenig oder gar nichts mehr zu kaufen.

Auch hatten unsere neuen Herren anscheinend keine klare Vorstellung davon, was sie mit uns anfangen sollten. Zwischen Juli und August 1945 trafen sich die Führer der Alliierten – Winston Churchill, Harry S. Truman und Josef Stalin – in Potsdam, um die Zukunft zu planen. Anders als nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, als das besiegte Deutschland strengen Strafen unterworfen und zu Reparationen verpflichtet, nicht aber von der geographischen und politischen Landkarte gelöscht worden war, kam man in Potsdam zu der Entscheidung, dass das Land nicht mehr existieren solle, sobald der Krieg gegen Hitler beendet sei. Stattdessen sollte es vier getrennte »Besatzungszonen« geben, die jeweils von einem der Sieger des Krieges nach dessen eigenen Prinzipien und Plänen verwaltet werden würden.

Doch darüber hinaus gab es kaum Einigkeit hinsichtlich dessen, was nach der Niederlage Hitlers und seiner Schergen mit dem früheren deutschen Staat in der Praxis geschehen solle. Frankreich hatte sich dafür ausgesprochen, das Reich in eine Reihe kleiner unabhängiger Staaten aufzuteilen, während Amerika erwogen hatte, Deutschland wieder zu einem vorindustriellen Land zu machen; es sollte sich auf die Landwirtschaft konzentrieren und allein von ihr abhängig sein. Schließlich lenkte Washington ein und akzeptierte, dass es weder durchführbar noch wünschenswert sei, mehrere zehn Millionen Deutsche dazu zu nötigen, wie mittelalterliche Bauern zu leben. Die Alliierten versäumten es allerdings, darüber nachzudenken, wie ihre separaten Besatzungszonen funktionieren sollten. Keiner ihre Pläne berücksichtigte zudem das gewaltige Problem, wie sowohl ein erobertes Volk – dessen Bevölkerung durch mehr als zehn Millionen Flüchtlinge aus dem Osten gewachsen war – als auch die riesigen dort stationierten Armeen, die für den Frieden sorgten, ernährt werden könnten.

Nahrungsmittel gab es schlichtweg nicht genügend – und ohne ein funktionierendes Transportsystem konnte das wenige, das es gab, nicht dahin befördert werden, wo es am dringendsten benötigt wurde. Schlimmer noch: Bei den Besatzungsarmeen war die Ansicht weit verbreitet, dass die Deutschen es seit langem verdient hätten, von ihrer eigenen Arznei zu kosten: Hatten die Nazis, als sie Europa heimsuchten, nicht absichtlich Dörfer, Gemeinden, Städte und ganze Völker verhungern lassen? War es nicht an der Zeit, dass Deutschland erntete, was es gesät hatte?

Dies war also Hitlers wahres Vermächtnis: eine verhungernde – und ausgehungerte – Nation; eine Bevölkerung, die nur noch verzweifelt ums Überleben kämpfte und in der Männer, Frauen und Kinder sich von der Hälfte der Kalorien ernährte, die sie zum Überleben gebraucht hätten. Bestenfalls. Ein Land, das nicht nur geschlagen und halb zerstört, sondern dessen Existenz vollständig ausgelöscht war.

Als der Frieden kam, war ich dreieinhalb Jahre alt. Ich war ein kleines, stilles und archetypisch blondes deutsches Kind und lebte in Bandekow, einem winzigen Weiler im ländlichen Herzen Mecklenburgs, zusammen mit meiner Mutter, meiner Großmutter und meinem etwas älteren Bruder Dietmar. Wir wohnten in einem großen, dem Stil der Gegend entsprechenden Fachwerkbauernhaus, umgeben von einigen Hektar Wald. Wir waren, glaube ich, repräsentativ sowohl für eine bestimmte Klasse von Vorkriegsdeutschen als auch, im Gegensatz dazu, für das Nachkriegsland im Allgemeinen. Unsere Familie war alteingesessen, sowohl väterlicher- wie mütterlicherseits, sie war gut etabliert und trotz der am Boden liegenden Wirtschaft wohlhabend.


Ingrid, fast dreijährig, mit Dietmar, dem Jungen, den sie für ihren Bruder hielt.

Meine Mutter, Gisela, war die Tochter eines Großreeders aus Hamburg. Die Andersens gehörten zur traditionellen hanseatischen Gesellschaft – der renommierten patrizischen Führungselite, die als Kaufleute ihr Geld verdient und sich einen Namen gemacht hatte, seit Hamburg auf dem Wiener Kongress 1815 zu einer freien Stadt erklärt worden war.

Unser Haus in Bandekow war seit Generationen im Besitz der Familie meiner Mutter gewesen. Es gehörte dem Bruder meiner Großmutter, war aber in den Jahren vor 1945 höchstwahrscheinlich als ländliches Refugium genutzt worden. Die Andersens hatten ihren Hauptwohnsitz natürlich weiterhin in Hamburg, und mein Großvater blieb auch dort, während meine Großmutter ihre Zeit zwischen den beiden Häusern aufteilte.

Gisela war eines von vier Kinder der Andersens. Ihr Bruder war als Wehrmachtssoldat in den letzten Kriegstagen gefallen. Ihre älteste Schwester war mit der Familie zerstritten – infolge eines nie ausgesprochenen Fehlverhaltens, das den ansonsten guten Namen der Familie befleckte –, doch ihre andere Schwester, meine Tante Ingrid (die von allen Erika oder »Eka« genannt wurde), war eine ständige Begleiterin meiner Kindheit.

Bei Kriegsende war Gisela 31 Jahre alt. Sie war jung, auf die spröde und privilegierte Art ihres Standes intelligent und schön. Außerdem war sie verheiratet – allerdings, wie sich herausstellte, nicht glücklich.

Hermann von Oelhafen war Berufssoldat. Im Ersten Weltkrieg hatte er gedient und sich ausgezeichnet. 1914 wurde er schwer verwundet, 1915 noch einmal, und nach einer letzten Verwundung im Jahr 1917 erhielt er für seine Verdienste das Eiserne Kreuz. Wie Gisela war er von aristokratischer Herkunft: Sowohl sein Vater als auch seine Mutter konnten das vielsagende »von« in ihren Familiennamen vorweisen.

Doch während Gisela jung und lebhaft war, war Hermann das vollkommene Gegenteil. Er war 30 Jahre älter als seine Frau und litt an schweren epileptischen Anfällen. Ob sie der Grund für sein gereiztes und kleinliches Wesen waren, weiß ich nicht. Was ich aber weiß, ist, dass ihre Ehe – die 1935 während der ersten hoffnungsvollen Jahre von Hitlers Herrschaft geschlossen wurde – 1945 endgültig vorbei war. Als ich von einem Baby zu einem Kleinkind heranwuchs, sah ich meinen Vater nur selten: Wir lebten in dem Bauernhaus in Bandekow, Hermann in der 1000 Kilometer entfernten bayerischen Stadt Ansbach.


Hermann und Gisela von Oelhafen mit Ingrid und Dietmar, Bandekow, Sommer 1944.

Von außen betrachtet war es vielleicht gar nicht so merkwürdig, dass Gisela, eine verheiratete Frau, nur mit ihren Kindern und ihrer Mutter zusammenlebte. In dieser Hinsicht war unsere kleine Familie nur allzu typisch für die mittlerweile aufgelöste deutsche Nation in den ersten Nachkriegsmonaten: Die meisten erwachsenen Männer, selbst die sehr jungen und die älteren, waren zum Militärdienst eingezogen worden und nun entweder tot, vermisst oder in Kriegsgefangenenlagern überall in Europa interniert. Deutschland war ein Land – genauer gesagt, ein zerfallenes Land – von Frauen und Kindern.

Obwohl der Krieg, wie wir sehen werden, durchaus eine Rolle spielte, war er nicht der Hauptgrund für die Trennung meiner Eltern. Zwischen ihnen gab es schlichtweg eine unüberbrückbare Kluft, einen emotionalen Bruch, der sich noch weniger heilen ließ als die dem Land auferlegten Teilungen. Damals war ich zu jung, um das zu erkennen, aber ihre Entfremdung sollte meine Kindheit mit der Zeit genauso verdüstern wie die sich verschlechternde politische Situation, in der wir uns befanden. Wahrscheinlich noch mehr.

Politik: Das zweite P, das das Leben nach Kriegsende definierte. Nicht die Form der Politik, die moderne Generationen kennen und missachten; nicht das Rangeln rivalisierender Parteien um Positionen und Macht in einer stabilen Demokratie – nein, im Jahr 1945 war die Politik ein Wesen mit blutigen Klauen und Krallen.

In den letzten Kriegstagen waren die Streitkräfte der Alliierten aus allen Himmelsrichtungen in Deutschland eingedrungen. Amerikanische Panzer und Truppen bewegten sich aus Frankreich, Belgien und Holland gen Osten. Von Italien und Österreich aus kämpften sich die Briten durch das Land nach Norden, und die riesigen Heere der Sowjetunion rückten in aller Eile aus dem Gebiet, das vor dem Krieg Polen gewesen war, in Richtung Westen vor. Für sie alle galt als oberstes Gebot, möglichst viel deutsches Territorium zu erobern und zu kontrollieren. Was immer sie nach dem endgültigen Kriegende besetzt hielten, sollte ja nach dem Potsdamer Abkommen ihr Eigentum werden, wobei mit einer nachträglichen Umverteilung kaum zu rechnen war. In jenen letzten Wochen des Frühjahrs 1945 wurden die Grenzen Nachkriegseuropas neu gezogen, während gleichzeitig die Saat für das gelegt wurde, was bald darauf als Kalter Krieg bekannt sein würde.

Nach dem Ende der Kämpfe ergab es sich, dass das Haus meines Vaters in der amerikanischen Zone lag. Von nun an würde sein Schicksal davon abhängen, wie Washington seine Pflichten und Rechte über das nun ihm gehörende Gebiet wahrnahm. Bandekow jedoch, wo ich mit meiner Mutter, meiner Großmutter und Dietmar, meinem etwas älteren Bruder, lebte, lag in der sowjetischen Besatzungszone, und Moskau hatte ganz andere Vorstellungen davon, wie die Infrastruktur Nazi-Deutschlands zu zerschlagen wäre, und ebenso davon, was es mit seinem Anteil am ehemaligen Reich anfangen wollte.

Anfangs zumindest waren sich die Alliierten darüber einig, dass die überlebenden Schergen Hitlers vor Gericht gestellt werden müssten. Ein Vier-Mächte-Tribunal zur Untersuchung der Kriegsverbrechen wurde eingesetzt, um den nationalsozialistischen Apparatschiks den Prozess zu machen. Hermann Göring, Alfred Jodl, Rudolf Heß, Joachim von Ribbentrop und 20 weitere führende Männer des nationalsozialistischen Staates wurden in Zellen unter dem Justizpalast in Nürnberg gesperrt und warteten dort auf ihren Prozess wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Abgesehen von Hitler und Goebbels war der bekannteste Mann, der auf dieser Liste der Schande fehlte, Himmler, der Führer der SS und Kopf des gesamten Terrorapparats der Nazis. Er hatte, bevor er nach Nürnberg gebracht werden konnte, Selbstmord begangen.

Der schließlich stattfindende Prozess und die Verurteilung dieser brutalen Kriegsverbrecher waren zweifellos ein Triumph der Justiz, markierten aber auch bereits den Höhepunkt der Zusammenarbeit zwischen den Besatzungsmächten. Nach Nürnberg sollten Amerika, Großbritannien, Frankreich und die Sowjetunion jeweils ein völlig unterschiedliches Konzept für die von ihnen kontrollierten Gebiete und Bevölkerungen verfolgen. Das individuelle Schicksal von mehreren zehn Millionen früherer Deutscher hing davon ab, in welcher Zone sie sich nach Kriegsende zufällig aufhielten. Sehr bald sollten diese großen politischen Unterschiede das Leben unserer kleinen Familie für immer verändern.

Die Gegensätze zwischen den vier Besatzungsmächten zeigten sich zunächst im Umgang mit ehemaligen NSDAP-Mitgliedern. ›Entnazifizierung‹ war ein Begriff, der in den letzten Kriegsjahren in Washington geprägt worden war: Präsident Franklin D. Roosevelt und sein Nachfolger Harry S. Truman erkannten, dass die Verästelungen der Partei jeden Bereich des deutschen Lebens durchdrungen hatten, vom politischen bis zum juristischen und vom öffentlichen bis zum privaten. Im Mai 1945 hatte die NSDAP mehr als acht Millionen Mitglieder, das waren etwa 10 Prozent der Gesamtbevölkerung. Wie sollte man diese Verflechtung des Faschismus mit dem Alltagsleben überwinden?

Die Suche nach einer Antwort beschränkte sich natürlich nicht auf Amerika. Jede der alliierten Mächte kontrollierte mittlerweile ihren eigenen Teil von Deutschland, jede sah sich mit der Herausforderung konfrontiert, die Wurzeln des Nationalsozialismus auszureißen und doch zugleich auf irgendeine Weise ein geordnetes Leben in der Besatzungszone zu gewährleisten.

Der erste Schritt war ein Verbot der Partei. Am 20. September 1945 verkündete das Kontrollratsgesetz Nr. 2 für das gesamte frühere Reich: »Die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei […] [ist] abgeschafft und für ungesetzlich erklärt.«

Doch die Partei selbst war nur der sichtbarste Teil eines byzantinischen Geflechts von Nazi-Organisationen. Ihr unterstanden mehr als 60 andere offizielle Vereinigungen, angefangen von international bekannten Körperschaften wie der SS, der Gestapo und der Hitlerjugend bis hin zu (selbst in Deutschland) sehr viel obskureren Organisationen wie dem Reichsausschuss zum Schutze des Deutschen Blutes und der Deutschen Frauenschaft, also der nationalsozialistischen Frauenbewegung. Alle wurden offiziell für illegal erklärt. Was noch wichtiger war: Eine frühere Verbindung mit einer dieser Organisationen reichte aus, um ein Mitglied als Nazi-Sympathisanten zu verdächtigen.

Soweit ich weiß, waren weder Hermann noch Gisela Parteimitglieder. Auch habe ich niemals gehört, dass sie faschistische Ansichten vertraten oder sich für Hitler einsetzten. Doch ihre Lebensgeschichten – mein Vater war Berufssoldat, der im Krieg lange als Sachbearbeiter in der Wehrmacht gedient hatte; meine Mutter hatte der Deutschen Frauenschaft angehört – müssen zu einigen Ermittlungen durch die Entnazifizierungsbeauftragten ihrer jeweiligen Besatzungszone geführt haben.

An diesem Punkt sollten die verschiedenen Vorgehensweisen der Amerikaner, die das Territorium meines Vaters beherrschten, und der Sowjets, die jetzt das Gebiet kontrollierten, in dem meine Mutter, Dietmar und ich lebten, über unsere unterschiedlichen Lebenswege entscheiden.

Anfangs nahmen die Amerikaner die Entnazifizierung sehr ernst, wurden aber dann zur pragmatischsten der Besatzungsmächte. Wie Washingtons Militärregierung rasch erkannte, würde eine umfassende Verfolgung mutmaßlicher Nazis, so wünschenswert sie auch war, bedeuten, dass die gesamte Verantwortung für die Organisation des Alltagsleben ausschließlich auf amerikanischen Schultern läge – eine Last, die für eine kriegsmüde Nation, die ihre Soldaten nach Hause holen wollte, schlichtweg zu schwer war.

Mein Vater wurde daher zwar wie jeder Erwachsene, der in der amerikanischen Zone lebte, aufgefordert, einen Frage- oder Meldebogen (es gab beide Bezeichnungen) auszufüllen, in dem er versicherte, kein Mitglied irgendeiner NS-Organisation zu sein und es auch niemals gewesen zu sein. Doch diese Selbstauskünfte hatten kaum Konsequenzen und wurden auch nicht detailliert überprüft. Den meisten Antragstellern wurde – ihre Angaben wurden kaum oder gar nicht kontrolliert – ein offizielles Dokument ausgestellt, das sie zu »guten Deutschen« erklärte, frei vom Makel des Faschismus. Ein solches Dokument wurde rasch als »Persilschein« bekannt – ein Stück Papier, das die Vergangenheit so reinwaschen konnte wie ein Seifenpulver.

Die sowjetischen Behörden waren jedoch deutlich weniger entspannt. Vielleicht weil man größere Verluste und Zerstörungen erlitten hatte als jede der vier alliierten Mächte – oder, was wahrscheinlicher ist, weil Stalin eine sehr klare Vorstellung von der Zukunft der Sowjetzone hatte –, Moskau ging jedenfalls sehr viel strenger vor.

Die Sowjetische Militäradministration in Deutschland, bekannt unter ihrem Akronym SMAD, kontrollierte ein sehr großes Gebiet von der Oder im Osten bis zur Elbe im Westen. Am 18. April 1945 erließ Lawrenti Beria, Stalins vielgefürchteter Chef der Geheimpolizei, den Befehl Nr. 00315: Er veranlasste die sofortige Internierung aktiver Nazis und ranghoher Mitglieder von Organisationen der Partei. Vor diesen Festnahmen waren keine Ermittlungen erforderlich. Anfang Mai wurden die ersten von insgesamt 123 000 Deutschen festgenommen und in zehn überall in der Sowjetzone errichteten Speziallagern eingekerkert.

Schon die Existenz dieser Gefängnisse – betrieben vom NKWD, Stalins Gegenstück zur Gestapo, und häufig in früheren Konzentrationslagern der Nazis errichtet – war geheim. Zwischen den Insassen und der Außenwelt waren keine Kontakte erlaubt, aber zwangsläufig sickerte einiges durch. Die häufig willkürlichen Festnahmen und Internierungen – im Februar 1946 machten tatsächliche Mitglieder der NSDAP weniger als die Hälfte aller Gefangenen aus – sowie die Angst, in ein »Schweigelager« verschleppt zu werden, lasteten schwer auf der unter der sowjetischen Militärherrschaft bereits verängstigten deutschen Bevölkerung.

Fast alles – eine anonyme Denunzierung, eine frühere Mitgliedschaft in einer obskuren Nazi-Organisation oder der Kontakt zu Personen in den anderen drei Besatzungszonen – konnte ein Klopfen an der Tür und den Abtransport in ein Schweigelager nach sich ziehen. Dieser Abtransport erwies sich allzu oft als Einbahnstraße: Fast 43 000 Männer und Frauen sollten hinter dem Stacheldraht dieser Nachkriegskonzentrationslager sterben.

War meine Mutter in ständiger Sorge, dass ihr Engagement in der Deutsche Frauenschaft für sie und unseren kleinen Haushalt in Bandekow eine Gefahr darstellen könnte? Ich weiß es nicht. Die von Oelhafens waren eine verschlossene Familie, die über Gefühle niemals offen redete, schon gar nicht über die Vergangenheit. Aber heute weiß ich etwas, das ich damals nicht wusste – und auch nicht wissen konnte: In meiner Kindheit verbarg sich ein Geheimnis, das Gisela, Hermann und mich mit einer der düstersten aller Nazi-Organisationen verband und das uns sicherlich Probleme bereitet hätte, wenn die SMAD davon erfahren hätte.

War dies eine zusätzliche Sorge, die meiner Mutter aufs Gemüt schlug? Auch das weiß ich nicht. Was ich jedoch weiß, ist, dass Gisela, als es im jenem ereignisreichen Jahr 1945 Winter wurde, in Panik war. Und ihre Angst hatte einen Namen: Vergewaltigung.

1945, als die sowjetische Armee in Deutschland eindrang, beherrschten ihre Truppen vor allem einen deutschen Satz: »Komm, Frau«. Dies war ein Befehl, der keinen Ungehorsam duldete und diese unvermeidliche Folge nach sich zog.

Zehntausende deutscher Frauen – und vielleicht noch zehnmal so viele – bezahlten mit ihrem Körper den Preis für Hitlers entsetzlich brutale Behandlung der russischen Städte und ihrer Bewohner. Im sowjetischen Sektor war die Vergewaltigung so allgemein üblich, dass sie keiner Nachricht mehr wert war. Für Frauen und Mädchen von der Pubertät und bis ins hohe Alter stellte sich nicht die Frage, ob, sondern wie oft sie vergewaltigt worden waren.

Außerdem waren Vergewaltigungen gewissermaßen offiziell gestattet. Zwar taten die Kommandanten der SMAD in manchen Teilen der Besatzungszone so, als wollten sie der Vergewaltigung deutscher Frauen ein Ende setzen, doch in der Realität bezahlten andere einen hohen Preis dafür, wenn sie dies tatsächlich taten. Ein junger Major der Roten Armee, Lew Kopelew, der versuchte, die Massenvergewaltigung einer Gruppe junger Mädchen zu verhindern, wurde für sein Eingreifen zu zehn Jahren Haft in einem Arbeitslager verurteilt. Ein Gericht sprach ihn des Verbrechens »der Propagierung bürgerlichen Humanismus« schuldig.

Natürlich waren weder Internierungslager noch Vergewaltigungen auf den sowjetischen Sektor beschränkt. Die Amerikaner sperrten Tausende von mutmaßlichen Nazis ins Gefängnis, oft unter entsetzlichen Bedingungen und über Jahre, während französische Soldaten in den von ihnen kontrollierten Städten häufig deutsche Frauen vergewaltigten. Während der letzten Kriegsmonate hatten Hitler und Goebbels allerdings mit einem Propagandafeldzug die nationale Angst geschürt, indem sie ständig die Brutalität der Roten Armee anprangerten – und sobald Letztere sich auf deutschen Boden vorgekämpft hatte, erfüllten die sowjetischen Besatzer die schlimmsten dieser Vorhersagen.

Unsere kleine Familie war so verletzlich wie jede andere, und möglicherweise sogar noch verletzlicher. Meine Mutter sowie meine Tante Eka waren jung und schön, und unsere Familie gehörte zur verhassten Bourgeoisie: Unser Haus war groß, komfortabel und dank den Produkten des Bauernhofs voller Vorräte, aber es war auch abgelegen, und in unserem Haushalt gab es keine Männer. Während der Winter voranschritt, schwebte die Angst – das Grauen – vor einer Vergewaltigung über unserer Familie. Meine Mutter erinnerte sich später – eines der sehr wenigen persönlichen Gefühle, die sie mir je mitteilte –, dass sie sich immer unterm Bett versteckte, wenn ihr das Gerücht zu Ohren kam, dass sich Soldaten der Roten Armee in unserer Gegend aufhielten.

So lähmend diese Angst auch war, uns ging es in Wahrheit viel besser als den meisten Menschen in der Sowjetzone. Zunächst einmal hatten wir, anders als die überwiegende Mehrheit in den zerbombten Städten, dank unseres ländlichen Refugiums ein Dach über dem Kopf. Der Winter 1946/1947 war einer der härtesten seit Menschengedenken: Die Temperaturen sanken bis auf minus 30 Grad, und die Millionen, die in den ausgebombten Kellern ihrer einstigen Häuser ausharrten, hatten keinen Schutz vor der beißenden Kälte. Und da das, was nach den letzten verheerenden Kampfmonaten vom Eisenbahnnetz noch übriggeblieben war, von der Sowjetarmee rasch abgebaut und als Kriegsentschädigung in den Osten geschafft wurde, gab es nur wenig Kohle: Tausende von Menschen sind schlichtweg erfroren.

Doch es waren die Lebensmittel – oder vielmehr ihr Mangel –, die fast über Nacht zu dem alles beherrschenden Problem wurden. Die deutschen Lebensmittelkarten, die vom nun zerschlagenen Nazi-Staat ausgegeben worden waren, hatten ihre Gültigkeit verloren. Die Vorräte, die bislang verfügbar gewesen waren, was bei Kriegsende schon wenig genug war, wurden nun von der SMAD eingefordert, um die Rote Armee zu ernähren. In den Städten überall im Land war das Leben jetzt nicht nur von Angst, sondern auch von Hunger geprägt.

In den von Moskau kontrollierten Gebieten wurden neue Rationierungsmaßnahmen eingeführt. Die Russen erfanden ein neues fünfstufiges System: Die höchste Stufe war – sonderbarerweise – für Intellektuelle und Künstler reserviert. Die Stufe darunter war den sogenannten Trümmerfrauen vorbehalten – Frauen, die in Gruppen unterwegs waren, um halbverlassene Gebäude abzureißen und auszuräumen, oft nur mit ihren bloßen Händen arbeitend. Diese Einstufung war sehr viel wertvoller als ihre offizielle Vergütung von 12 Reichsmark, die sie für das Wegräumen von jeweils 1000 Ziegelsteinen erhielten. Harte körperliche Arbeit war der einzige Weg, um zu überleben, und in den Ruinen des Landes gruben Deutschlands Frauen für das Überleben ihrer Familien.

In den Kategorien III und IV wurden die Lebensmittelrationen im Vergleich dazu drastisch gekürzt. Die niedrigste Karte mit dem Spitznamen »Friedhofskarte« bekamen diejenigen, die in den Augen unserer sowjetischen Herren keine nützliche Funktion ausübten: Hausfrauen, die nicht arbeiteten, und die Alten.

In jenem Winter fanden zwei neue Wörter Eingang in das wachsende Vokabular des Nachkriegslebens. Das erste war ›fringsen‹. Es kam auf, nachdem der katholischen Kardinal von Köln, Josef Frings, seinen offiziellen Segen zu dem gegeben hatte, was viele aus seiner Gemeinde bereits taten: stehlen, um zu überleben. Die Kriminalität nahm dramatisch zu. Es gab nicht nur unzählige (und im Allgemeinen nicht geahndete) Diebstähle und Vergewaltigungen vonseiten der Soldaten der Roten Armee, sondern unter der sowjetischen Besatzung begannen die Deutschen auch, einander zu attackieren. Allein in Berlin kam es pro Tag zu durchschnittlich 240 Raubüberfällen und fünf Morden.

Die städtische Kriminalität mag für die von Oelhafens eine weitere Quelle der Scham und andauernden Furcht gewesen sein, doch für diejenigen, die im ländlichen Mecklenburg in relativer Sicherheit lebten, hatte das zweite neue Wort ›hamstern‹ eine größere Bedeutung. Dieses Wort bezog sich, abgesehen von seiner wortwörtlichen Bedeutung, auf die Stadtbewohner, die zwischen dem Land und der Stadt ständig hin und her pendelten und verzweifelt ihre wenigen verbliebenen Besitztümer gegen die Lebensmittel, die bei uns relativ reichlich vorhanden waren, tauschen wollten.

Dies also war die Wirklichkeit der Stunde Null, eine durch drei ständige Begleiter definierte Existenz: Angst – insbesondere vor der Roten Armee und ihrer Entschlossenheit, sich an den deutschen Zivilisten für den Krieg Hitlers zu rächen –, Hunger und Kälte. Dies also war Deutschland, mein Land und mein Leben an meinem vierten Geburtstag. Dies war unser Lohn für die Triumphe des gloriosen Reiches.

Doch es sollte schlimmer – noch viel schlimmer – kommen. Als sich im Laufe des Jahres 1946 die Beziehungen zwischen den Besatzungsmächten verschlechterten, verfolgte Moskau gegenüber denen, die in der SMAD seiner Herrschaft unterstanden, immer drastischere Pläne. Nicht nur beraubten die Russen die Zone ihres Reichtums und ihrer Lebensmittel, sie begannen auch damit, die eine aufflackernden Hoffnung, die wir bei Kriegsende gehegt hatten, zunichte zu machen: die Hoffnung auf Freiheit.

Die Grenzen zwischen den vier Zonen wurden nun immer weniger durchlässig. Im Juli 1945 war eine »innerdeutsche Grenze«, wie die SMAD sie bezeichnete, um das von den Sowjets kontrollierte Gebiet gezogen worden, aber man hatte sie seitdem nur sporadisch (und keineswegs rigoros) überwacht. Obwohl jeder, der sich zwischen dem sowjetischen Sektor und den anderen Besatzungszonen der Alliierten hin und her bewegen wollte, offiziell einen Interzonenpass benötigte, war es wenigstens anderthalb Millionen von Deutschen gelungen, in die amerikanische oder britische Zone zu fliehen. Jetzt sollte sich das ändern.

Im Sommer 1947 wurden unter der Führung Moskaus Vorbereitungen getroffen, die sowjetische Besatzungszone endgültig in die neue kommunistisch regierte Deutsche Demokratische Republik zu verwandeln, und neue Kontingente von sowjetischen Soldaten wurden an die offiziellen Grenzübergänge beordert. Inoffizielle Grenzübergänge sollten bald durch neu ausgehobene Gräben und Stacheldrahtbarrikaden blockiert werden. Allmählich begann der Kalte Krieg, und unsere kleine Familie lebte in Bandekow auf der falschen Seite des noch nicht existierenden Eisernen Vorhangs. Im Sommer 1947 trafen meine Eltern – die durch 1000 Kilometer und durch die unüberbrückbaren Gräben einer zerrütteten Ehe getrennt waren – deshalb eine bemerkenswerte gemeinsame Entscheidung. Es war an der Zeit, die Flucht zu ergreifen.

Hitlers vergessene Kinder

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