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Cilli, im von den Deutschen besetzten Jugoslawien
3.–7. August 1942
ОглавлениеDer Schulhof war voller Menschen. Hunderte von Frauen – junge wie alte – umklammerten die Hände ihrer Kinder und sahen sich auf dem überfüllten Hof nach einem Platz um. Soldaten der Wehrmacht, das Gewehr über der Schulter, standen in der Nähe und schauten zu, wie die Familien aus den Städten und Dörfern der Umgebung langsam herbeikamen.
Diese Frauen waren von den neuen deutschen Besatzern aufgefordert worden, ihre Kinder für »medizinische Untersuchungen« in die Schule zu bringen. Bei ihrer Ankunft wurden sie festgehalten und angewiesen zu warten. Otto Lurker, der für die Gegend zuständige Polizeichef und Kommandeur des Sicherheitsdienstes, beobachtete entspannt und gleichgültig – die Hände bequem in den Hosentaschen –, wie sich der Hof mit immer mehr Familien füllte. Lurker war früher Hitlers Gefängniswärter gewesen, jetzt war er der oberste Scherge des Führers in der Untersteiermark. Er bekleidete den Rang eines SS-Standartenführers – das paramilitärische Pendant eines Obersten in der Armee –, aber an jenem Sommermorgen war er leger in einem zweiteiligen zivilen Anzug erschienen.
Jugoslawien stand seit 16 Monaten unter Nazi-Herrschaft. Im März 1941, als die angrenzenden Länder Ungarn, Rumänien und Bulgarien gerade der Allianz der Balkanstaaten beigetreten waren, drängte Hitler den Herrscher des Königreiches, den Prinzregenten Paul, es ihnen gleichzutun. Der Prinz und sein Kabinett beugten sich dem Unvermeidlichen; Jugoslawien schloss sich formal den Achsenmächten an. Aber das von Serben beherrschte Heer führte einen Staatsstreich durch und ersetzte Paul durch seinen 17-jährigen Vetter zweiten Grades, Prinz Peter.
Die Nachricht von der Revolte erreichte Berlin am 27. März. Hitler fühlte sich durch den Staatsstreich persönlich beleidigt und erließ den Führerbefehl Nr. 25, der das Land offiziell zu einem Feind des Reiches erklärte. Der Führer befahl seinen Armeen, »Jugoslawien militärisch und als Nation zu zerstören«. Eine Woche später begann die Luftwaffe einen verheerenden Bombenfeldzug, während Infanterie-Divisionen der Wehrmacht und Panzer des Panzerkorps Städte und Dörfer verwüsteten. Die königlich-jugoslawische Armee konnte es mit Deutschlands Blitzkrieg-Truppen nicht aufnehmen: Am 17. April erklärte das Land seine Kapitulation.
Die Besatzungstruppen machten sich sofort daran, Hitlers Anweisung umzusetzen und alle Spuren des Staates zu beseitigen. 65 000 Menschen – hauptsächlich Intellektuelle und Nationalisten – wurden verbannt, inhaftiert oder umgebracht, ihre Häuser sowie ihr Hab und Gut gingen an die neuen deutschen Herren über. Die slowenische Sprache wurde verboten.
Doch während des restlichen Jahres 1941 und der ersten Hälfte von 1942 leisteten Partisanengruppen, angeführt von dem Kommunisten Josip Broz Tito, entschlossen Widerstand. Deutschland schlug brutal zurück: Die Gestapo machte Jagd auf Kämpfer ebenso wie auf Zivilisten; Tausende wurden in Konzentrationslager überall im Reich verschleppt. Andere wurden hingerichtet, um die Bevölkerung vom Widerstand abzuschrecken. In den auf den September 1941 folgenden neun Monaten wurden 374 Männer und Frauen im Gefängnishof in Cilli (heute Celje) an die Wand gestellt und kurzerhand erschossen. Fotografen dokumentierten die Morde für die Nachwelt sowie zu Propagandazwecken.
Am 25. Juni 1942 befahl Heinrich Himmler, der zweitmächtigste und -gefürchtetste Mann in Nazi-Deutschland, seiner Geheimpolizei und seinen SS-Offizieren, den Widerstand der Partisanen auszumerzen:
Die Aktion hat alle Elemente der Bevölkerung, die gutwillig die Banden durch Gestellung von Menschen, Verpflegung, Waffen und Unterschlupf unterstützt haben, unschädlich zu machen. Die Männer einer schuldigen Familie, in vielen Fällen sogar die Sippe, sind grundsätzlich zu exekutieren, die Frauen dieser Familien sind zu verhaften und in ein Konzentrationslager zu bringen, die Kinder sind aus ihrer Heimat zu entfernen und im Altreichsgebiet des Gaues zu sammeln. Über Anzahl und rassischen Wert dieser Kinder erwarte ich gesonderte Meldungen.
(Befehl von Heinrich Himmler vom 25. Juni 1942 zur Vernichtung der Partisanenbewegung in Nordslowenien, Auszug Bundesarchiv Berlin R 19/320, Bl. 5 f.)
Vor diesem blutigen Hintergrund versammelten sich an jenem Morgen im August 1262 Personen – viele waren Angehörige der Partisanen, die als warnendes Beispiel für die restliche Bevölkerung hingerichtet worden waren – im besagten Schulhof und warteten auf das, was da kommen sollte.
Unter ihnen befand sich eine Familie aus dem nahegelegenen Dorf Sauerbrunn. Johann Matko entstammte einer bekannten Partisanenfamilie: Sein Bruder Ignaz war unter denjenigen gewesen, die man im Juli im Gefängnis von Cilli an die Wand gestellt und erschossen hatte, wohingegen er selbst ins Konzentrationslager Mauthausen deportiert worden war. Nach sieben Monaten durfte er zu seiner Frau Helena und ihren drei gemeinsamen Kindern zurückkehren: der achtjährigen Tanja, ihrem Bruder Ludvig, der damals sechs Jahre alt war, und dem neun Monate alten Baby Erika.
Als alle Familien registriert waren, erging der Befehl, sie in drei verschiedene Gruppen – Kinder, Frauen und Männer – zu unterteilen. Unter Lurkers Führung rückten die Soldaten näher und rissen die Kinder aus den Armen ihrer Mütter. Ein ortsansässiger Fotograf, Josip Pelikan, dokumentierte die herzzerreißende Szene für die peniblen Archivare des Reiches. Seine Filmrollen haben die Angst und Panik der Frauen wie der Kinder festgehalten. Pelikan machte auch Aufnahmen von den Dutzenden Kleinkindern, die in den Schulgebäuden in niedrigen, mit Stroh ausgelegten Holzgestellen untergebracht waren.
Während die Mütter draußen warteten, begannen die NS-Funktionäre mit einer oberflächlichen Untersuchung der Kinder. Ausgerüstet mit Tabellen und Klemmbrettern notierten sie gewissenhaft die Gesichts- und Körpermerkmale eines jeden Kindes.
Dies waren jedoch keine »medizinischen Untersuchungen«, wie ein Arzt sie durchführen würde. Stattdessen handelte es sich um grobe Einschätzungen des »rassischen Wertes«, woraufhin jedes Kind einer von vier Kategorien zugeordnet wurde. Diejenigen, die Himmlers strengen Kriterien, wie ein Kind echten deutschen Blutes auszusehen hatte, entsprachen, wurden in die Kategorie 1 oder 2 eingestuft. Damit waren sie offiziell als potentiell nützlicher Zuwachs für die Reichsbevölkerung registriert. Im Gegensatz dazu führte jedes Anzeichen oder jede Spur von slawischen Merkmalen – und natürlich jeder Hinweis auf ein »jüdisches Erbe« – dazu, dass einem Kind der unterste rassische Status der Kategorien 3 und 4 zugewiesen wurde. Waren sie auf diese Weise als »Untermenschen« gebrandmarkt, bestand ihr Wert nur noch darin, dass sie für den NS-Staat künftig Sklavenarbeiten zu verrichten hatten.
Am nächsten Tag wurde diese rudimentäre Sichtung vollendet. Einige Kinder – diejenigen, die als rassisch wertlos galten – wurden ihren Familien zurückgegeben. Aber 430 andere, von kleinen Babys bis zu 12-jährigen Jungen und Mädchen, wurden von ihren Häschern abtransportiert. Von Krankenschwestern des Deutschen Roten Kreuzes zusammengetrieben, wurden sie in Züge verfrachtet und über die jugoslawische Grenze in ein Umsiedlungslager nach Frohnleiten bei der österreichischen Stadt Graz gebracht.
In diesem Auffanglager blieben sie nur für kurze Zeit. Im September 1942 folgte eine weitere Selektion – diesmal durchgeführt von ausgebildeten »Rasseprüfern« aus einer der unzähligen Organisationen, die Himmler gegründet hatte, um das Reservoir an »gutem Blut« zu schützen und zu stärken.
Nasen wurden gemessen und mit der offiziell idealen Länge und Form verglichen. Lippen, Zähne, Hüften und Genitalien wurden ebenfalls betastet, befingert und fotografiert, um den genetisch wertvollen menschlichen Weizen von der weniger wertvollen Spreu zu trennen. Nach diesem genaueren, strengeren Aussieben wurden die entführten Kinder wieder den vier Rassekategorien zugeordnet.
Ältere Kinder, die jetzt in den Kategorien 3 oder 4 gelandet waren, wurden in Umerziehungslager in Bayern, im Herzen Nazi-Deutschlands, geschickt. Die besten der jüngeren, die in den beiden höchsten Kategorien erfasst waren, sollten zu gegebener Zeit einem Geheimprojekt zugeführt werden, das der »Reichsführer« höchstpersönlich leitete. Sein Name war »Lebensborn«, und unter den Kindern, die seiner Obhut unterstellt wurden, befand sich ein neun Monate altes Baby namens Erika Matko.