Читать книгу Vergisst mich Gott, wenn ich Gott vergesse? - Tim van Iersel - Страница 11
Psalmen
ОглавлениеDas soll nun nicht heißen, dass man die Frage nach dem Warum gar nicht stellen darf. Oder dass eine Klage nicht erlaubt wäre. Im Gegenteil. Wir lesen in Psalm 22 die Worte, die Jesus selbst gesprochen hat in seinen Stunden der Anfechtung: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Immer wieder kann man in den Psalmen ähnliche Wehklagen lesen: Gott, wo bist du? Gott, ich leide, ich habe Angst, warum hörst du mich nicht?
Christa antwortet im Interview auf die Frage, mit welchen Bibeltexten sie nun nichts mehr anfangen kann: mit drei Viertel der Bibel. Aber sie sagt auch: „Die Psalmen finde ich jetzt sehr hilfreich mit all ihren Klagen zu Gott. Sie sprechen mir aus dem Herzen.“ Gott ist so nahe, dass er sich anklagen lässt. Das ist das Besondere am christlichen Glauben. Gott steht in einer Beziehung mit uns, in der er sich befragen lässt, so wie es in den Psalmen häufig geschieht.
Gleichzeitig lesen wir in den Psalmen immer wieder vom Gottvertrauen, ebenfalls in Psalm 22,25 (NGÜ): „Denn der Herr hat sich von der Not des Hilflosen nicht abgewandt und seine Leiden nicht verachtet. Ja, der Herr hat sein Angesicht nicht vor ihm verhüllt, sondern auf ihn gehört, als er um Hilfe rief.“
Das sehen wir in den Psalmen immer wieder: Da werden Fragen gestellt und sogar vor Gott geklagt und gleichzeitig ist da Vertrauen. So wie wir es auch aus unseren menschlichen Beziehungen kennen. Denn auf der Basis von Vertrauen können wir einander infrage stellen und anklagen. Jesus tut das auch: Er verlässt sich auf seinen Vater und ruft doch am Kreuz: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“
Fragen und Vertrauen. Beides ist möglich, weil Gott uns nahe gekommen ist. Weil er ein persönlicher Gott ist, der sich berühren lässt. An den Psalmen können wir erkennen, wie durch das Klagen und das Herausschreien des Leides das Herz weit wird und ein Mensch schließlich loslassen und Gott loben kann.
Der Versuch, die Warum-Frage rein rational zu beantworten, scheint also vor allem eine Folge des postaufklärerischen Denkens zu sein. Darum kann man fragen, ob es wirklich eine sinnvolle Frage ist. Denn Gott ist kein abstrakter Gott, sondern einer, der persönlich da und ansprechbar ist.