Читать книгу Eden - Tim Lebbon - Страница 11

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»Von Anfang an ließ man uns keine Wahl. Wir waren im Weg und mussten weg. Die finanziellen Entschädigungen waren mehr als fair, aber es ging nicht ums Geld. Sondern darum, entwurzelt zu werden und in irgendeinem Umsiedlungslager sechshundertfünfzig Kilometer von unserem Zuhause entfernt zu landen. Man kann Familien versetzen, aber keine Gemeinschaften. Meine Ehe zerbrach. Ich begann zu trinken. Meine Frau beging sechs Jahre später Selbstmord. Aber das ist ja alles in Ordnung, denn die Natur hat ihr Zuhause gefunden. Was ist mit meinem Zuhause? Was ist mit mir?«

Vasilia (Nachname anonymisiert) über die Folgen der Zona Smerti, Augenzeuge: Der Umbruch der unberührten Zonen in Bild und Text, Alaska Pacific University Press

Während Poke mit ihrem programmierten GPS die Wanderung vom Landeplatz auf die Minute genau geplant hatte, war das Überwinden der Grenze zu Eden sekundengenau festgelegt. Sie alle trugen etwas mit sich, das nicht zur Ausrüstung gehörte, eine Spannung, die zwischen ihnen hing und sie voneinander trennte. Dylan gefiel es nicht und er würde Jenn darauf ansprechen, wenn er die Gelegenheit hatte.

Doch jetzt war nicht der richtige Moment. Sie waren entschlossen und es würde sich nun zeigen, ob Poke ihr Geld wert war.

Sie führte sie von ihrem Ruheplatz am Hang hinunter in eine Schlucht, wo sie dem Verlauf eines Stroms folgten. Dylan blieb dicht hinter Poke. Ihm folgten Cove und Selina, dann Aaron und Jenn und schließlich Gee und Lucy. Die Aufteilung und Reihenfolge ihrer Gruppe war kein Zufall. Gee und Lucy waren gut aufeinander abgestimmt, schnell und leise, das ideale Schlusslicht des Teams. Sollte ihnen jemand oder etwas folgen, würden sie es mitbekommen.

Dylan konnte sich niemand anders vorstellen, der ihm den Rücken freihielt. Gee hatte ihm bei ihrem ersten gemeinsamen Rennen vor sechs Jahren das Leben gerettet, indem er sich einem Banditen auf einem Dschungelpfad in Bolivien entgegengestellt und ihn entwaffnet hatte. Danach hatte er dessen Begleiter verscheucht. Das war ihm allein durch die Androhung von Gewalt gelungen, unterstützt durch enorme Zuversicht und Ruhe. Dylan vermutete, dass Gee in seinen zehn Jahren als Polizist in Vancouver Schlimmeres gesehen hatte, aber er wusste auch, dass solche Stärke angeboren und nicht erlernt war. Er war wohl die widerstandsfähigste Person, die Dylan kannte, und hatte doch eine anziehende Bescheidenheit an sich. Er sprach nicht viel über seine Vergangenheit und die Geschichte, wie er seine Hand verloren hatte, änderte sich ständig. Haiangriff, infizierter Spinnenbiss, Geburtsfehler, Dylan hatte schon alles gehört, aber nur ein einziges Mal hatte ihm Gee die tragische Wahrheit anvertraut – dass er seinen Ehemann und seine linke Hand bei einem Autounfall verloren hatte. Das war das Ende seiner Zeit bei der Polizei von Vancouver gewesen und hatte schließlich zu seiner neuen Inkarnation als Abenteurer geführt.

Der Strom grub eine mäandernde Furche in die Schlucht, führte um Felsformationen, staute sich gelegentlich auf und stürzte mehrere kleine Wasserfälle hinab, wo das Gestein Stufen im Hang formte. Sie sprangen hin und her über den Strom und tanzten über Trittsteine, um ihre Schuhe so lange wie möglich trocken zu halten.

Ein paar Minuten nach dem Start erreichten sie eine Stelle, wo ein anderer Strom dazukam und sich über eine Reihe von Miniwasserfällen ergoss, was einen Dunst aus gebrochenem Sonnenlicht über die Szenerie legte. Es erinnerte Dylan an den verschmutzten Fluss, den sie vom Flugzeug aus gesehen hatten, nur dass dies hier natürlich und wunderschön war.

Poke hob eine Hand, damit sie stehen blieben, dann drängte sie sie gegen eine nackte Felswand neben den Wasserfällen. Dylan presste sich gegen die Oberfläche und genoss den kühlen Sprühnebel auf seiner Haut. Es war heiß heute und jetzt am Spätnachmittag war die Hitze erdrückend. Er trank einen Schluck Wasser aus der Trinkblase seines Rucksacks und beobachtete eine kleine Eidechse, die den Felsen hinaufhuschte, über ein Rinnsal hüpfte und in einem Spalt verschwand. Sie schien sich der Anwesenheit des Teams gar nicht bewusst zu sein und Dylan fragte sich, ob sie sich frei über die Grenze zu Eden bewegte.

Poke warf einen Blick auf ihre Uhr, sah dann auf und beobachtete den Himmel. Sie hob ihre Hand, um die Gruppe auf sich aufmerksam zu machen. Momente später dröhnte eine Turbodrohne hoch über ihnen hinweg. Dylan erstarrte und senkte den Kopf, damit die Drohne sein blasses Gesicht nicht wahrnahm. Doch sie waren von der Felswand und dem Sprühnebel der Wasserfälle gut verborgen und kurz darauf verschwand die Drohne hinter den Bäumen. Poke winkte sie weiter.

Sie folgten dem Wasserverlauf noch ein paar weitere Minuten, dann kletterten sie das steile Ufer hinauf und fanden sich auf einem Waldpfad wieder. Es überraschte Dylan, wie stark genutzt die Route war, und er sah Poke ihre Nervosität an. Sie kniete sich neben den Pfad, die Gruppe tat es ihr nach, und ein paar Minuten lauschte sie mit geneigtem Kopf und offenem Mund.

Dylan schaute sich zu den anderen um. Die meisten beobachteten Poke, nicht ihn. Jenn sah ihn an und er lächelte. Sie nickte zurück. Wahrscheinlich dachte sie über Kat und ihre aufgedeckte Lüge nach, aber das alles musste jetzt erst mal warten. Es war wichtig, dass sie sich auf die unmittelbare Zukunft konzentrierten, nicht auf die Gegenwart. Oder die Vergangenheit.

Bitte sei am Leben, dachte er. Die Vorstellung, seine Exfrau tot in Eden vorzufinden, suchte ihn bereits heim. Doch der Gedanke, dass man sie vielleicht niemals finden würde, war noch schlimmer.

Poke gab ein Signal und sie überquerten den Pfad schnell und gebückt. Auf der anderen Seite drehte sie sich um und überprüfte, ob sie Spuren hinterlassen hatten. Der Boden war trocken, die Fahrrinnen flach und hart. Sie nickte und übernahm wieder die Führung.

Als sie sich dem Talgrund näherten, konzentrierte sich Poke mehr und mehr auf ihre Uhr. Dylan, der direkt hinter ihr ging, hörte, wie ihr Netzimplantat mit einer Reihe von vorprogrammierten Alarmen summte. Bei jedem Signal hielt sie inne, änderte die Richtung, wartete eine bestimmte Zeitspanne und signalisierte dann, dass es weiterging. Sie durchquerten einen stark bewaldeten Bereich. Gelegentlich flogen Vögel vor ihnen davon und das Unterholz raschelte, während kleine Tiere in Sicherheit liefen. Jedes Mal, wenn das geschah, sah Poke den fliehenden Kreaturen nach und schien besorgt zu sein, dass der Lärm Aufmerksamkeit erregen könnte, doch es gab nichts, was sie dagegen unternehmen konnten. Sie waren noch ein paar Kilometer von Edens Grenze entfernt und diese Tiere hatten immer noch allen Grund, die Menschen zu fürchten.

Dylan wusste, dass es anders sein würde, sobald sie drin waren, und er freute sich darauf, das wieder zu erleben. Er kannte es aus anderen unberührten Zonen, wo Tiere ihr ganzes Leben lang keinem menschlichen Wesen begegneten. Es war erstaunlich, wie wenig sie gefürchtet wurden. Es war erhebend.

»Wir bleiben sieben Minuten hier«, flüsterte Poke und duckte sich an eine große Böschung mit Dornenranken, Farnen und toten Ästen. »Esst. Trinkt.« Einige Bäume waren gemeinsam gefallen, vielleicht durch starke Winde oder einen Blitzeinschlag, und der Sturz hatte eine dichte Barriere geschaffen, hinter der sie sich nun verstecken sollten.

»Wie weit noch?«, fragte Dylan.

»Keine drei Kilometer. Dort sind Zed-Patrouillen. Bald kommt die erste. Hier sind wir sicher.«

»Sind wir das?«, fragte Dylan, doch Poke gab keine Antwort. Sie warf einen Blick auf ihre Uhr, schaute dann zurück zu dem Weg, den sie gekommen waren, und schließlich durch das Dickicht und an den umgestürzten Bäumen vorbei, ohne dass ihr Blick mehr als ein paar Sekunden an einer Stelle verweilte. Sie signalisierte dem Team durch ein Winken, unten zu bleiben. Sie schien weiterhin alles im Griff zu haben.

Dylan fragte sich, ob Kat hier entlanggekommen und sich auch hinter diesen toten Bäumen versteckt hatte. Er hatte im Lauf der Jahre bei Expeditionen durch andere unberührte Zonen ähnliche Gedanken gehabt, aber es waren stets alberne, unwahrscheinliche Ideen gewesen statt Gewissheiten. Hier kam es ihm plötzlich viel greifbarer vor. Wenn er seine Augen schloss, konnte er fast spüren, wie Kat neben ihm hockte und darauf wartete, dass die Patrouille vorbeiging. Er konnte sie fast riechen, diese Mischung aus ihrer Lieblingssonnencreme und dem typischen Kat-Duft, den er so lange gekannt hatte und der nun verschwunden war. Manchmal nahm er einen ähnlichen Kokosnussduft wahr und Erinnerungen stürmten auf ihn ein. Er atmete tief ein. Hier waren keine Kokosnüsse und keine Erinnerungen an Kat.

Sie nutzten die Gelegenheit, um Wasser zu trinken und Rucksäcke zu richten, die eventuell nicht richtig saßen. Cove schnürte seine Wanderschuhe neu. Lucy machte sich einen Pferdeschwanz. Gee stocherte sich mit einer Kiefernadel in den Zähnen herum. Dylan wusste, dass sie sich darauf freuten, Eden zu betreten, nun aber auch über die Neuigkeit beunruhigt waren, dass Kat und ihre Gruppe noch irgendwo in der Zone sein könnten. Die Vorstellung, dass ihnen ein anderes Team zuvorgekommen sein könnte, war nur teilweise für ihre Nervosität verantwortlich. Aber er konnte auch ihre Zuversicht spüren. Einzeln waren sie alle geschickt in dem, was sie taten, und zusammen bildeten sie eines der besten Adventure-Race-Teams der Welt. In einer Szene, die im Untergrund existierte, wurden sie mehr als die meisten respektiert und gefeiert.

Selina machte sich bereits Notizen. Sie war die Einzige unter ihnen, die konstante Bedenken über das äußerte, was sie taten, weil die unberührten Zonen kostbare, reine Orte waren und in sie einzudringen nicht nur in den Augen des Gesetzes ein Verbrechen war, sondern von einem ökologischen Standpunkt aus als törichtes Unternehmen angesehen werden konnte. Die Zonen waren eingerichtet worden, um jeglichen menschlichen Einfluss zu unterbinden. Reinheit war wesentlich für ihren Erfolg.

Doch die wissenschaftliche Neugier überwog ihre Bedenken. Ihre Selbstverpflichtung, Eden und seine Existenzgründe zu ehren, waren stärker als jeder Zweifel. Sie würden keinen Müll zurücklassen. Sie würden ihre Körperausscheidungen vergraben. Sie hatten jede Menge Nahrung in Form von Energieriegeln, Gelen und getrockneten Mahlzeiten dabei, die für genau diese Art Einsatz gedacht war. Sie würden nicht jagen und nur nach essenziellen Mengen Beeren und Nüssen suchen. Sie hatten keine elektronischen Geräte bei sich, für den Fall, dass Signale oder elektrische Felder die Flora oder Fauna in irgendeiner Weise beeinträchtigten.

Es lag in der Natur der Sache, dass sich Teams, die illegal die unberührten Zonen durchquerten, auf das Nötigste beschränkten, und das machte es in Dylans Augen zur pursten, menschlichsten Form der Erforschung, die es noch in der Welt gab.

Und es war auch die gefährlichste. Sollte einer von ihnen stürzen und sich etwas brechen, konnte keine Notrettung gerufen werden. Die anderen würden den Verwundeten weitertragen müssen. Verletzungs- und Sterblichkeitsraten waren hoch, doch Dylan rühmte sich, noch nie jemanden verloren zu haben. Auch wenn sie den Großteil ihres Lebens getrennt verbrachten, agierte sein Team umso mehr als Einheit, je öfter es zusammenarbeitete. Dennoch verfolgte ihn die Möglichkeit eines Unfalls. Als Teamleiter hatte er viel Stress, der die pure Freude an dem, was sie taten, trübte. Körperlich war er der wahrscheinlich fitteste Mann seines Alters, den er kannte, doch in gewisser Hinsicht fühlte er sich älter, als er war.

Ein Klicken holte seine Aufmerksamkeit in die Gegenwart zurück. Poke hob eine Hand und als sie jeder ansah, deutete sie durch den Baumsturz und senkte sie dann flach in Richtung Boden. Sie duckten sich tiefer, wie durch ihre Hand nach unten gepresst.

Dylan hörte das Sicherheitsteam, lange bevor er es sah. Sie unterhielten sich, scherzten, lachten, und das war gut, denn es bedeutete, dass sie nicht davon ausgingen, gehört zu werden. Der Wald um sie herum verstummte, als die Vögel ihren Gesang einstellten. Er versuchte, an den umgestürzten Bäumen vorbei und durch das Unterholz zu sehen, und bewegte sich nach links und rechts, bis er den besten Blickwinkel hatte. Während ihre Stimmen lauter wurden, entdeckte er die ersten Bewegungen, ein Aufblitzen von Farben zwischen Blättern und Zweigen, Ästen und Stämmen. Sie trugen nicht mal Tarnkleidung.

Die Zonenschutztruppe war gegründet worden, kurz nachdem das Abkommen in Kraft getreten war. Zentral finanziert durch Gelder aus jedem Land, das unterschrieben hatte, nahmen die Einheiten der jeweiligen Zonen – deren Mitarbeiter fast überall auf der Welt als Zeds bekannt waren – schnell ihre eigenen, unverwechselbaren Identitäten an. In Wales, nahe der Green-Valley-Zone, patrouillierten Zeds die Landgrenzen zu Pferde und waren nur selten bewaffnet, sondern verließen sich stattdessen auf Kommunikation mit den Gemeinden, um Frieden und Sicherheit der Zone zu gewährleisten. In der Jaguar-Zone in Zentralbrasilien hatten Zeds anfangs ihr Einkommen durch das Anbieten illegaler Touren aufgebessert und darüber hinaus war es zu Einmischungen einiger der großen Kartelle gekommen, die damals noch aktiv gewesen waren. Weltweite Grenzscharmützel mit Toten hatten zu einer Neuorganisation geführt und die Leitung war regionalen Militärtruppen übertragen worden. Bei vielen Zeds handelte es sich jetzt um ehemalige Soldaten, die nun einen besseren Sold bekamen als während ihres aktiven Diensts. Gegner behaupteten, dass die Schutztruppen nichts anderes seien als paramilitärische Gruppierungen, die sich auf illegalem Weg Waffen beschafften, um sich und die Zonen zu schützen.

Und doch zweifelten nur wenige an ihrer Effizienz. Ungeachtet ihrer Vorgeschichte waren die Zeds der meisten Zonen engagiert und äußerst erfahren darin, ihre Bestimmung zu erfüllen. Die Todesrate unter Eindringlingen war auf einem Rekordtief, genau wie die Zahl der Personen, die es tatsächlich hineinschafften. Es hatte Jahrzehnte gebraucht, aber die Zeds waren zu einem erfahrenen, ernst zu nehmenden Sicherheitsfaktor geworden.

Momentan empfand Dylan diese sechs Leute als wenig bedrohlich. Selbst als er sah, dass eine der Frauen ein Gewehr über der Schulter trug und einer der Männer ein schweres Holster an der linken Hüfte, hatte er keine Angst. Sie wirkten so souverän und entspannt, dass ihre Patrouille eher nach einem Spaziergang aussah.

Die Zeds gingen vorbei, bewegten sich den sanften Hügel hinab und verschwanden im Wald, bis nur noch ihre Stimmen zu hören waren. Poke starrte auf ihre Uhr und in dem Moment, als das letzte Lachen verklungen war, hob sie ihre Hand und nickte.

Poke stand auf und wieder folgten sie ihr. Sie kreuzten den Weg, den die Patrouille genommen hatte, und bewegten sich über den Hügel. Dabei mussten sie eine Reihe natürlicher Stufen im Boden überwinden, die es erforderten, einige steile Hänge hinabzurutschen. Am unteren Ende befand sich ein Wasserlauf und Poke folgte ihm. Nahe dem Wasser wuchs hohes Schilfrohr und sie bahnte sich ihren Weg hindurch. Dabei wand sie sich nach links und rechts, um keine Pflanzen zu zertrampeln.

Nachdem sie dem Bach eine halbe Stunde lang gefolgt waren, ließ Poke die Gruppe anhalten. Sie hockten sich ins Schilf auf den feuchten Boden.

»Was jetzt?«, fragte Dylan.

»Wir sind ein paar Minuten vor dem Zeitplan«, erklärte Poke. »Der nächste Teil ist der riskanteste.«

»Haben Sie Kat und ihre Leute auch hier entlanggeführt?«

»Natürlich nicht!«, entgegnete Poke. »Ich benutze nie die gleiche Route zweimal. Meistens bringe ich die Leute für einen Tag rein und wieder raus. Ich wäre schön dämlich, immer den gleichen Eingangspunkt zu nehmen.«

»Dafür kennen Sie den Weg wirklich gut«, sagte Cove.

»Ich habe ihn viermal erkundet«, erwiderte Poke. »Oft genug, um ihn genau zu kennen, nicht oft genug, um entdeckt zu werden. Eine Minute.«

»Was ist so riskant am nächsten Abschnitt?«, wollte Jenn wissen.

»Er wird ihre Aufmerksamkeit erregen«, antwortete Poke. »Seid ihr bereit zu rennen?« Die alte Frau musterte sie alle lächelnd. Keiner musste antworten.

Sie ließen den Bach hinter sich und blieben stehen, als sie Momente später eine warnende Hand hob. Sie stand an einem abgesägten Baum. Der schmale Stumpf endete zwei Meter über dem Boden. Daran befestigt war eine dunkelbraune Box. Die Farbe bot eine gute Tarnung und war nur zu sehen, wenn man nah genug dran war oder darauf hingewiesen wurde. Dylan trat einen Schritt näher und sah den Draht, kurz bevor ihn Poke mit einer Zange durchschnitt. Dann holte sie etwas aus ihrem Rucksack, packte es aus und legte es in die Nähe des Drahts. Ein totes Streifenhörnchen.

»Hier lang«, sagte sie und deutete in die Richtung, aus der sie gekommen waren. »Über den Bach. Folgt mir.«

»Was haben Sie da gerade …?«

»Elektrozaun. Stark genug, um Menschen einen kleinen Schlag zu versetzen. Früher waren hier überall welche, aber viele von ihnen sind über die Jahre hinweg ausgefallen.«

»Und werden die das glauben?« Er deutete auf das tote Tier.

»Uns bleiben vielleicht sechs Minuten, bis die erste Robo-Drohne auftaucht«, sagte sie über ihre Schulter, während sie zu laufen begann. Dylan rannte hinter ihr her. »Und zehn Minuten danach kommt der erste Hubschrauber. Also spart euch euren Atem.«

Der Bach war seicht genug, um hindurchzuwaten, und Poke hatte eine Stelle gewählt, an der es ein paar Felsen gab, über die man hüpfen konnte, wenn man geschickt genug war. Dylan hörte, wie Gee leise fluchte, als dieser ausrutschte und bis zu den Oberschenkeln im Wasser landete, doch die anderen schafften es, ohne nass zu werden.

Zehn Minuten lang lief Poke durch das Tal und blieb dabei so gut wie möglich in Deckung. Sie hatte ein zügiges Tempo drauf und Dylan war von ihrer Fitness beeindruckt. Die Gruppe konnte mithalten, doch als sie endlich anhielten, schwitzten und keuchten alle heftig und begannen sofort damit, Schlucke aus ihren Trinkblasen und Wasserflaschen zu nehmen.

»Versuchen Sie, sie auszupowern?«, vermutete Dylan.

»So was in der Art.« Poke konzentrierte sich auf die Zeit und achtete darauf, dass sie alle zusammen waren, bevor sie das Signal zum Weitergehen gab. »Hier lang. Nicht mehr weit, dann kommt die Stelle, wo uns Entdeckung droht.«

»Ist Eden in dieser Richtung nicht ziemlich nah?«, fragte Lucy und deutete auf einen dicht bewaldeten Hang nördlich von ihnen.

»Du schaust direkt drauf. Aber dort werden sie uns jetzt erwarten … also los. Die Zeit läuft.«

Dylan nickte Lucy und den anderen zu und sie machten sich wieder auf. Sie befanden sich nun in der Talsohle unweit des Stroms und auch wenn er befürchtete, dass sie aus der Luft oder von den Hügeln aus sichtbar sein könnten, waren sie in Wirklichkeit gut verborgen. Der Fluss hatte seinen Pfad im Laufe der Zeit viele Male geändert und grub sich immer tiefer seinen Weg durch das Grundgestein. Dies hatte eine Landschaft zahlloser kleiner Schluchten und Felszungen geschaffen, doch Poke kannte sich in ihnen gut aus.

Als das Geräusch eines Hubschraubers im Tal lauter wurde, führte sie die alte Frau zu einem ausgetrockneten Altwassersee, wo viele Bäume und Büsche wuchsen. Sie hockten bewegungslos auf dem Boden und zwei Minuten später donnerte der Hubschrauber über sie hinweg. Dylan fürchtete, sie könnten Wärmesensoren oder andere Technologie an Bord haben, um Personen in der wilden Landschaft aufzuspüren, doch sie flogen ohne Zögern vorbei, zweifellos zu der Stelle, an der der durchgeschnittene Draht den Alarm ausgelöst hatte.

Eine Viertelstunde später signalisierte Poke einen Richtungswechsel und sie näherten sich dem Fluss. Er war zehn Meter breit, strömte ruhig an ihnen vorbei und es gab keinen Hinweis darauf, wie man auf die andere Seite gelangen könnte.

»Willkommen in Eden«, sagte sie und deutete aufs andere Ufer.

»Das ist es?«, fragte Dylan.

»Kein Zaun?«, fragte Jenn. Die anderen Zonen, in denen sie gewesen waren, hatten oft deutliche Grenzen gehabt – Zäune, Mauern, selbst deutlich ausgeschilderte Minenfelder.

»Das da ist Grenze genug, hier zumindest«, sagte Poke und nickte in Richtung Fluss. »Zäune verlocken Leute dazu, rüberzuklettern.«

Dylans Team atmete schwer, sah aber immer noch fit aus. Sie alle blickten mit großen Augen über den Fluss. Er folgte ihrem Blick.

Eden. Nicht die größte unberührte Zone der Welt, doch die berühmteste und älteste. Bisher hatte niemand für sich beansprucht, sie erfolgreich durchquert zu haben. Viele hatten es versucht und waren gescheitert. Einige waren für immer verschwunden. Er hatte seit über drei Jahren mit dem Gedanken an diese Expedition gespielt und dann hatte Jenn sie vorangetrieben.

Von hier sahen Bäume und Gräser, Büsche und Farne, Hügel und Wälder nicht anders aus als irgendwo sonst. Doch es fühlte sich anders an. Das lag teilweise an ihrer Wahrnehmung, denn sie alle wussten, was das hier für ein Ort war und was er bedeutete. Zudem spielte Vorfreude auf das, was sie hier vorhatten, mit hinein und jetzt war da auch noch Sorge um Kat und ihr Team, die erst vor Kurzem in dieser vergessenen Landschaft verschwunden waren. Ein Anflug von Angst überkam ihn, wie er sie noch nie zuvor verspürt hatte.

Von dieser Seite des Flusses sah Eden wild aus.

»Wie kommen wir rüber?«, fragte Dylan.

»Euer Problem«, sagte Poke mit erneutem Blick auf ihre Uhr. »Ich habe sie mit dem durchgeschnittenen Draht abgelenkt, aber ihr habt vielleicht noch zehn Minuten, bis sie das Tal noch mal mit dem Hubschrauber absuchen. Ich verschwinde jetzt. Wenn ihr nicht drüben seid, wenn sie vorbeifliegen, werden sie euch erwischen. Hier gibt es keine Deckung.«

»Sie sollten uns nach Eden reinbringen, nicht nur in die Nähe davon«, protestierte Selina.

»Soll ich euch Huckepack rübertragen, oder was?«, konterte Poke.

»Leute.« Dylan hob beschwichtigend die Hände. Sie hatten jetzt keine Zeit für eine Diskussion oder Wut, egal wie gerechtfertigt sie war. »Wir kommen schon klar.«

»Es ist nicht tief«, versicherte Poke und es schien eine Spur Bedauern in ihrer Stimme zu liegen. Darüber, sie gehen zu sehen? Ihnen nicht hinüberzuhelfen? Dylan wusste es nicht genau und in diesem Moment war es ihm auch vollkommen egal.

»Danke«, sagte er. »Sie bringen unsere Sachen dann zu unserem Austrittspunkt?«

»Klar. Sonderlieferung.« Sie steckte sich eine Selbstgedrehte in den Mund. Sie blieb an ihrer Lippe kleben und hüpfte, während Poke sprach. »Seid … einfach vorsichtig. Passt auf euch auf. Da drin wird euch nichts beschützen.« Sie nickte an Dylan vorbei über den Fluss und etwas in ihrem Blick sträubte ihm die Nackenhaare. Es war nur ein Augenblick, aber er hatte noch nie jemanden so verängstigt gesehen.

Er wirbelte herum, weil er wissen wollte, was sie gesehen hatte. Doch da war nur Eden.

Als er sich wieder umwandte, rannte Poke bereits zurück in Richtung Hang.

»Acht Minuten«, rief sie über ihre Schulter und zog eine Rauchwolke hinter sich her.

»Acht Minuten, Leute«, wiederholte er. Sein Team eilte bereits Richtung Strom. Sie diskutierten, wo sie am besten hinüberkommen würden, verschlossen ihre Trinkblasen, damit kein schmutziges Wasser hineinkam, und halfen einander das überwucherte Flussufer hinab.

Keiner von ihnen wirkte ängstlich.

Vielleicht hatte nur er den Blick in Pokes Augen gesehen.

Eden

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