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PROLOG

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Die Sonne ist soeben hinter den einsamen Gipfeln des Kampanischen Apennins verschwunden. Mit ihr hat sich auch der Sommer verzogen, und für einen kurzen Moment legt sich eine schattige, neblige Stille über die verwahrloste Haltebucht hoch oben auf dem Monte Licinici. Dann nähern sich von unterhalb der letzten Kehre grässliche Geräusche: das verzweifelte Röcheln und Keuchen greiser Mühsal. Schließlich schälen sich die schemenhaften Umrisse eines Fahrrads aus der Dämmerung, und darüber gebeugt die schemenhaften Umrisse eines Mannes. Selbst in diesem diffusen Licht ist zu erkennen, dass beide, Mensch und Maschine, ihr Verfallsdatum lange überschritten haben. Der Mann könnte, zumindest theoretisch, bereits Urgroßvater sein; das Rad wiederum könnte seinem eigenen Urgroßvater gehört haben. Man müsste den beiden eigentlich Respekt für ihre Leistung zollen, trüge der Mann nicht eine übergroße Rubettes-Mütze und eine lederne Schutzbrille mit blauen Gläsern. Als er in der Haltebucht quietschend zum Stillstand kommt, krachen seine in Wolle verpackten Genitalien mit Schmackes aufs Oberrohr.

Die Fortpflanzungsorgane des Mannes sind nicht die einzigen empfindlichen Teile, die ihre ursprüngliche Form längst verloren haben. Auch die beiden Räder seines Gefährts sind nicht mehr ganz so rund, wie man es normalerweise erwarten würde, dafür besitzen sie einen umso höheren Holzanteil. So etwas wie eine Schaltung sucht man an dem gesamten Rad vergeblich, und wer genau hinschaut, kann auf den von grober Hand geschnitzten Bremsklötzen die Worte »VINI DI CHIANTI« erkennen. Ein Kenner der Materie könnte die Maschine, das Gewicht und die Geometrie des rostigen Rahmens in Betracht ziehend, auf die frühesten Kindertage des wettbewerbsmäßigen Ausdauersports datieren. Dieses Rad, würde der Experte korrekt ableiten, ist knapp einhundert Jahre alt. Und der Mann da, würden Sie ihm lapidar entgegnen, ist gerade in Tränen ausgebrochen.

In die Begrenzungsmauer der Haltebucht sind zwei verwitterte Plaketten eingelassen, im Gedenken an zwei verstorbene Rennradfahrer aus der Region. Die unziemlichen Tränen des Mannes sind gewissermaßen ein Tribut an ihre Taten und an ihre Epoche, an die ruhmreiche, unbarmherzige Ära von Fausto Coppi, an eine Zeit, als Radsportler noch strahlende Nationalhelden waren. Er weint um diese Helden und um jeden anderen, der jemals auf einem Fahrrad einen Berg zu weit hinaufgefahren ist. Er weint, mit anderen Worten, vor allem um sich selbst: weil es allmählich dunkel wird und er sich inmitten der einsamen Ödnis des alpinen Nirgendwo völlig verausgabt hat … weil er sich noch nie so weit weg von zu Hause gefühlt hat … weil er und sein altertümliches Ross seit dem Fuße dieses Berges um mindestens zwanzig Jahre gealtert sind … und auch, weil er sich wegen des vornehmlich dekorativen Zwecken dienenden Bremssystems überlegen sollte, ob es nicht gut wäre, sich vor der bevorstehenden Abfahrt schnell noch selbst für eine Plakette an der Gedenkwand der verblichenen Radfahrer vormerken zu lassen.

Er ist ein Mann, der kurz davor steht, alles hinzuschmeißen, denn er hat soeben das eine Mal zu oft alles aus sich herausgeholt. Und dabei hat er bisher kaum die Hälfte einer Strecke hinter sich gebracht, die ein Jahrhundert zuvor ein Feld von Männern dezimierte, die deutlich tapferer und begabter waren als er und auch viel, viel jünger. Alles in allem ist es wohl ganz gut so, dass seine geschundenen Geschlechtsteile längst in ein schmerzresistentes Koma verfallen sind. Sonst würde er vermutlich immer noch da oben stehen und flennen.

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