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Von Störungen und Erschöpfungen
ОглавлениеBei den Gewerkschaften steht Agilität als Thema auf der Tagesordnung, insbesondere die für die IT-Branche zuständige Dienstleistungsgewerkschaft ver.di beschäftigt sich mit den Auswirkungen bereits seit Jahren. Agile Methoden werden von der Arbeitnehmerorganisation grundsätzlich begrüßt, auch als Gegenmittel gegen gestiegene Arbeitsintensität in allen Bereichen »digitaler Arbeit«: »Die agilen Prinzipien der Selbstorganisation und des nachhaltigen Tempos sind Ansatzpunkte, um das Problem der Arbeitsintensivierung anzugehen«, heißt es in einer Anfang 2020 publizierten Broschüre aus dem Verbundprojekt Gute agile Projektarbeit: Die Beschäftigten sollten bei der Gestaltung ihrer Arbeit beteiligt werden.27 Auch das »Menschenbild«, das agilen Methoden zugrunde liege, das Vertrauen auf die Expertise der Beschäftigten und dass der Mensch im Mittelpunkt stehe, werden positiv bewertet.28 Dass ein nachhaltiges Tempo angestrebt wird, das agile Teams auf unbestimmte Zeit zu halten vermögen, die sustainable pace, hat es den Verfasserinnen angetan. Auch dass Kent Beck, einer der Unterzeichner des Agilen Manifests, die 40-Stunden-Woche als eine der zwölf Praktiken des Extreme Programming anführt, stößt auf Anerkennung.
Im Zuständigkeitsbereich der IG Metall macht sich der agile Trend ebenfalls bemerkbar. Vanessa Barth, Leiterin des Bereichs Zielgruppenarbeit und Gleichstellung, stellt fest: »Im Moment rollt durch die Unternehmen eine riesige Agilitätswelle.« Grundsätzlich begrüßt sie diese Entwicklung, regt aber an, bei der Implementierung genau hinzuschauen und zu fragen: »Ist es Etikettenschwindel, wird es als reine Rationalisierungsstrategie genutzt oder geht es um einen echten Kulturwandel – also darum, besser zu arbeiten?«29 Als Stichworte nennt sie »gute Arbeitsatmosphäre, Sicherheit, Schutz vor Willkür, regelmäßiges Einkommen, 30 bis 40 Stunden, Gesundheit« und drückt so mit ihrer Charakterisierung »guter Arbeit« den gewerkschaftlichen Grundkonsens aus.30
Idealerweise gibt es nach dem Start eines Sprints keinerlei Störungen mehr von außen, das Team kann in Ruhe die selbstgesteckten Zielvorgaben erfüllen. Die Soziologin und Leiterin des Verbundprojektes diGAP, Sabine Pfeiffer, betont daher, dass »agile Methoden unter bestimmten Voraussetzungen als Schutzraum gegenüber neuen Belastungstypen und freiwilliger Selbstausbeutung wirken können – ein Schutzraum aber, der fragil und ohne interessenspolitisch flankierte Ressourcenkonflikte auf Dauer wohl nicht zu sichern ist.«31 Ihre Skepsis darüber, ob das Ideal ungestörter Arbeit im Sprint-Alltag einer Überprüfung durch die Realität standhält, ist wohl begründet.
Scrum Master Alina G. im Interview: »Das Ideal ist nicht machbar, Störungen von außen sind immer noch Alltag. Oft setzt sich das Staffing-Prinzip durch: Wenn Leute nicht ausgelastet sind, werden sie in andere Teams gesteckt, oder man stellt doch wieder auf Wasserfall um.«
Gestörtes Arbeiten ist denn auch der Titel einer weiteren ver.di-Publikation. Wer hier eine gewerkschaftliche Kehrtwende hin zu genereller Kritik der Arbeit vermutet, etwa im Sinne von »Arbeit ist bescheuert« oder »Die arbeiten wie die Gestörten«, wird enttäuscht. Es geht vielmehr um Störungen bei der Arbeit, die als Hauptquelle von Stress ausgemacht werden. In einer repräsentativen Befragung unter 5.720 Beschäftigten des Dienstleistungssektors wurde die Bedeutung des Phänomens deutlich: »Vier von fünf IT-Beschäftigten ist derzeit kein ungestörtes Arbeiten möglich – dies ist der höchste Branchenwert.« Als Ursachen werden angeführt: lückenhafte Arbeitsinformationen, Planungschaos und übergriffige Vorgesetzte. Digitale Technologien verstärken die Störungsaufkommen noch, Stichworte, die genannt werden, sind »Multitasking«, »drei Fenster offen«, aber auch Arbeit von zu Hause oder unterwegs sei nicht störungsfrei, hier komme eine verstärkt wahrgenommene ständige Erreichbarkeit noch hinzu. Frauen sind dabei öfter Störungen ausgesetzt, die Autorinnen vermuten, es gebe möglicherweise geringere Hemmungen, diese zu stören.32
Die Psychologin Shelly Carson von der Harvard University stellte in ihren Untersuchungen fest, dass unterschiedliche Personen ganz verschieden auf Störungen bei der Erledigung einer konzentrierten Aufgabe reagieren. Von ihr als besonders kreativ Klassifizierte ließen sich viel eher aus der Ruhe bringen. Aus der Psychologie ist der Mechanismus der latenten Hemmung bekannt, Menschen blenden dabei bestimmte Umweltreize unbewusst aus, die erfahrungsgemäß keine Verbesserung des eigenen Zustands herbeiführen. Der Wirtschaftsjournalist Wolf Lotter, der dies in einem Artikel beschrieb, kommt zu dem Ergebnis: »Ganz anders ist da das Denkorgan von Kreativen geschaltet. Die latente Hemmung ist schwach entwickelt, das Gehirn ist auf 360 Grad offen, zu allem bereit, rund um die Uhr.«33 Es liegt also nahe zu vermuten, dass Kreative gleichzeitig auch empfindlicher auf negative Stimuli reagieren, die dann als Störungen wahrgenommen werden. Die Skepsis der Agilitätsexpertin Sabine Pfeiffer kippt ins Resignative, wenn sie Ende Januar 2020 auf einem ver.di-Kongress in Berlin bilanziert: »Das Hamsterrad wurde schneller für die Beschäftigten. Agilität wird in vielen Unternehmen als Beschleuniger geistiger Arbeit betrachtet, am Ende steht die erschöpfte Organisation.«34
Physische Nähe, enge Zusammenarbeit und direkte Begegnungen gehören zum Kanon der agilen Methoden – so fordert Scrum die tatsächliche Anwesenheit aller Teammitglieder beim Daily Scrum Meeting, Extreme Programming propagiert das gemeinsame Programmieren Schulter an Schulter. All das ist in Zeiten der Coronakrise nicht mehr möglich, die Vereinzelung im Homeoffice stellt eigentlich das genaue Gegenteil der erwünschten idealen Arbeitssituation dar. Und doch stellten sich Unternehmen schnell auf die neue Situation ein, und auch die agilen Ratgeber hatten sogleich ein Update parat. Bereits im Februar 2020, also in der Anfangsphase der Pandemie, als zumindest in den USA Corona noch weit weg war – der erste Corona-Todesfall in den USA datiert vom 29. Februar –, gab JJ Sutherland, Sohn des gleichnamigen Scrum-Begründers, Hinweise für das agile Arbeiten in Pandemiezeiten und hatte auch einen griffigen Slogan dafür parat: »distribuierte Kollaboration«.
Da die Teammitglieder nun weit verstreut und vereinzelt agierten, sei es umso wichtiger, dass der Zugriff auf dieselben Tools für alle gewährleistet sei; alle erledigten und ausstehenden Aufgaben müssten ohne Zeitverzögerung für alle zugänglich sein, um einen reibungslosen Ablauf zu gewährleisten. Ebenso steige die Bedeutung digitaler Werkzeuge, allen voran Kommunikationstools. Präzision und Vollständigkeit in der Beschreibung der Backlog-Elemente werde noch wichtiger, wenn die Teams verteilt arbeiten, so JJ Sutherland: »Das Team muss wissen, was der Product Owner will und warum.«35 Von digitalen Technologien war im Agilen Manifest noch gar nicht die Rede, jetzt rücken sie immer mehr ins Zentrum des agilen Arbeitsalltags, erst recht nach Coronazeiten ist agile Produktion ohne diese nicht mehr denkbar.
Über den Globus verteilte Teams gibt es im internationalen Softwaregeschäft allerdings schon länger. Eine Veröffentlichung aus dem Jahre 2009, an der Scrum-Mitbegründer Jeff Sutherland selbst beteiligt war, beschreibt die Erfolge einer Softwarefirma, die zwischen den Niederlanden und Indien mit Fern-Scrum gute Erfahrungen machte. Sie hatte das Scrum-Framework an die Anforderung räumlich verteilter und gleichzeitig outgesourceter Teams in verschiedenen Zeitzonen angepasst und das Modell erfolgreich skalieren können: »Mit verteilten, ausgelagerten Teams lässt sich zuverlässig Hyperproduktivität erreichen, ein vollständig verteiltes Modell wird zum empfohlenen Standard.«36
Der Vergleich mit dem Paradebeispiel dezentraler Systeme, dem Hauptgaranten für die Dynamik des Digitalen Kapitalismus, drängt sich auf: dem Internet. Die Topologie des Internets – ein dezentrales Netzwerk aus Servern, das einen Atomkrieg überleben und funktionsfähig bleiben kann, wird übertragen auf die Arbeitsorganisation: Distribuierte Teams überleben bzw. bleiben produktiv trotz Coronapandemie, trotz Ausgangssperren und Ausnahmezustand – der Resilienz des Internets, kybernetischer Selbststeuerung und agiler Arbeitsmethoden sei Dank. Vom Zusammenstehen beim Daily Scrum, von Präsenz, körperlicher Nähe und den analogen Klebezetteln aus der Anfangszeit von Scrum ist nicht mehr die Rede – was bleibt, ist ein digital vermitteltes, weltweit räumlich und zeitlich verteiltes Netz an ausgelagerten, vereinzelten und doch vernetzten Geistesarbeitern.
In Zeiten der Coronakrise erreichte auch die Erschöpfung ganz neue Dimensionen. Millionen fanden sich binnen kürzester Zeit in einer Situation wieder, die mit Homeoffice nur unzureichend beschrieben werden kann – handelt es sich doch nicht um In-Ruhe-zu-Hause-Arbeiten abseits des Büroalltags, sondern im Gegenteil um eine Ausnahmesituation, die Störungen, Stress und Erschöpfung eher potenziert als vermindert. Latenzen, die technisch bedingten Verzögerungen bei der Übertragung von Audio- und Videosignalen über das Internet, werden als anstrengend wahrgenommen, auch wenn es sich um kaum merkliche Verzögerungen handelt. Die ständige Sichtbarkeit des eigenen Spiegelbildes bei Videokonferenzen, und sei es nur in Briefmarkengröße, stellt eine zusätzliche Stressursache dar. Das Fehlen von Signalen, die Abwesenheit von Körpersprache und Umgebungseindrücken müssen kompensiert werden durch ein Höchstmaß an emotionaler Mehrarbeit. Technische und organisatorische Störungen sind keine Ausnahmen, sondern Alltag, teilweise arbeiten agil distribuierte Teams standardmäßig mit zwei Konferenz-Tools plus Telefon parallel, um schnell auf Ausfälle reagieren zu können. Die Teamarbeitssoftware Teams von Microsoft verzeichnet im Mai 2020 75 Millionen tägliche Nutzer, ein knappes Jahr zuvor waren es noch rund 13 Millionen gewesen, eine Steigerung um fast 600 Prozent.37 Zoom fatigue, von der alle durch Zoom-Video-Meetings über die Maßen erschöpften Lehrenden, Lernenden und Arbeitenden ein Lied singen können, ist derweil zum geflügelten Wort geworden.
Einem verbreiteten Sprichwort zufolge sieht aus der Perspektive des Hammers jedes Problem aus wie ein Nagel. Agilität ist der Hammer, den das Kapital in die Hand nimmt, um seine Transformationsprozesse, seine Revenue-Produktion, seine Ausbeutung der kognitiven workforce in die Hand zu nehmen. Die Dummen bei diesem change process sind dabei diejenigen, die buchstäblich die agilen Prinzipien eingehämmert bekommen bzw. die agile Suppe im alltäglichen Betrieb auslöffeln müssen. Gestörte Arbeit, heruntergebrannte Mitarbeiter und die erschöpfte Organisation sind die Folge. Nadine B., Mitarbeiterin eines mittelständischen Autozulieferers, weiß von der Projektfront zu berichten: »Die Projektleute hatten alle schon einen Burnout. Oder zwei.« Dieser wird zur stolz präsentierten Tapferkeitsmedaille der agilen Projektler.