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Die schöne neue Welt der Agilität

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Die Welt, in der wir leben, ist zunehmend unbeständig, unberechenbar, komplex und vieldeutig geworden, nichts ist mehr sicher, alles im Fluss, Unvorhergesehenes wird zur Norm und Unruhe chronisch. Die VUCA-Welt – nach den englischen Anfangsbuchstaben von volatility (Volatilität), uncertainty (Unsicherheit), complexity (Komplexität), ambiguity (Mehrdeutigkeit) – ein düsteres, gar bedrohliches Szenario? Nicht für diejenigen, die auf sie vorbereitet sind, die voller Elan durchs Leben gehen, neue Herausforderungen enthusiastisch begrüßen, bedrohliche Unsicherheiten als challenge betrachten, komplexe Situationen handlen und mit der Mehrdeutigkeit sozialer Beziehungen dealen können. Kein Problem also für die Regsamen und Wendigen, Unruhigen und Vitalen, mit einem Wort: für die Agilen.

Das Wort »agil« kommt aus dem Lateinischen, es ist schon rund zweitausend Jahre alt, hat aber derzeit Hochkonjunktur: Im Managementkontext, bei Start-ups, in der digitalen Arbeitswelt, aber auch in der Lebenshilfe- und Ratgeberliteratur, überall lautet die Antwort auf die Herausforderungen der VUCA-Welt: Agilität. Als Beispiele für ihre Verwendung führt der Duden an: »ein agiler Geschäftsmann« und »Sie ist trotz ihres Alters körperlich und geistig noch sehr agil«. Beide Beispiele sind klug gewählt, decken sie doch die ganze Spannbreite von Agilität ab, von der Businesswelt bis ins hohe Alter lautet die Parole: Sei beweglich und flexibel, bleib nicht stehen, sondern erfinde dich stets neu und investiere in dich selbst! Schon Kinder müssen performant sein und Kompetenz beweisen, und für Senioren gibt es erst recht keine Atempause: Ruhestand war gestern, heute muss immer etwas unternommen werden.

Die Karriere des kleinen Wörtchens »agil« begann so richtig Anfang des Jahres 2001, als das Manifest für Agile Softwareentwicklung das Licht der Welt erblickte.1 Geschrieben hatten es 17 amerikanische Softwareexperten – allesamt Männer, was angesichts des marginalen Frauenanteils in der Branche auch nicht weiter verwunderlich ist. Die Evangelisten der neuen Managementreligion – leidenschaftliche Programmierer und Projektleute – hatten die Nase gestrichen voll von den üblichen Methoden, die ihnen das Leben schwermachten. Das alte Wasserfallmodell folgte einem strikten Plan, was oft immensen Steuerungsaufwand, ausufernde Dokumentationen und unflexible Abläufe mit sich brachte. Damit wollten sie ein für alle Mal aufräumen, sie wollten Schluss machen mit strikter Arbeitsteilung, klar abgegrenzten Projektphasen und einer Kultur von Befehl und Gehorsam. In vier Leitsätzen und zwölf Prinzipien (siehe Seite 32) hielten sie fest, wie von nun an gearbeitet werden sollte. Sie schrieben: »Wir erschließen bessere Wege, Software zu entwickeln, indem wir es selbst tun und anderen dabei helfen. Durch diese Tätigkeit haben wir diese Werte zu schätzen gelernt: Individuen und Interaktionen mehr als Prozesse und Werkzeuge / Funktionierende Software mehr als umfassende Dokumentation / Zusammenarbeit mit dem Kundenmehr als Vertragsverhandlung / Reagieren auf Veränderungmehr als das Befolgen eines Plans.«2

Die agilen Prinzipien und Werte stießen bei den Entwicklern und Programmiererinnen auf breiten Zuspruch, versprechen sie doch eine humanere Arbeitskultur, die auf Teamarbeit, Eigenverantwortung und flache Hierarchien setzt. Selbstbestimmte Teams planen ihre Aufgaben und arbeiten sie auch eigenverantwortlich ab, alle Teammitglieder sind am Entwicklungsprozess beteiligt, alle denken und entscheiden mit. Ihnen wird hohe Flexibilität und Selbststeuerung abverlangt, Empowerment und Gruppenautonomie sind Trumpf. Sie sollen kompetent agieren, ständig miteinander kommunizieren und jederzeit für Kundenwünsche und neue Anforderungen offen sein. In kurzen Iterationen von wenigen Wochen werden funktionierende Zwischenergebnisse produziert, die ihrerseits Ausgangspunkt eines neuerlichen Entwicklungszyklus darstellen. So entstehen funktionsfähige Softwareprototypen in einem auf Dauer gestellten kreativen Prozess wie am Fließband – ganz anders als früher: Hier stand oft erst ganz am Ende eines langen Entwicklungsprozesses ein fertiges Produkt.

Zu den kürzeren Projektzyklen gesellen sich neue Rollen – so wird etwa bei Scrum, der gebräuchlichsten agilen Methode, der klassische Projektmanager abgelöst durch den Product Owner, der die Kundenperspektive ins Projekt hineinträgt; der Scrum Master hingegen ist eher Coach als klassischer Vorgesetzter. Sympathisch am Agilen Manifest war auch, dass seine Prinzipien keine Erfindung von Akademikerinnen oder Unternehmensberatern waren, seine Autoren waren allesamt Leute aus der Praxis. Ihr Manifest war von Sachverstand und Produzentenstolz geprägt, garniert mit einer gehörigen Portion common sense.

Mit flachen Hierarchien und neuen Rollen geht auch eine radikale Transparenz einher: Das Team ist immer auf dem Laufenden, was jeder Projektbeteiligte gerade macht, ist für alle ersichtlich. Methoden der Vermessung und Kontrolle finden sich auch in der neuen Welt der kleinen Teams mit ihrer kleinteiligen Aufgabenerfassung und regen Projektkommunikation; Aktivitätsfeeds generieren einen ständigen Strom an Leistungsdaten. Keine äußere Instanz überwacht dabei die Arbeitsfortschritte, das besorgt das Team selbst: Sein Ziel ist es, die eigene Durchschnittsgeschwindigkeit, die velocity, zu steigern.

Seit die agilen Revolutionäre ihr Agiles Manifest schrieben, sind bald zwanzig Jahre vergangen, seine Ideen entwickelten sich zum dominierenden Paradigma in der Branche. Im Nachgang entstanden dann die eigentlichen agilen Methoden oder Frameworks, spezifische Ansätze und Umsetzungsanleitungen. Diese finden mittlerweile breite Verwendung quer durch die Branche, werden an Hochschulen gelehrt und von Agilitätsberatern propagiert. Die Art und Weise, wie Software entwickelt wird, IT-Projekte gemanagt, Arbeitsabläufe organisiert und Teams gesteuert werden, hat sich seitdem von Grund auf geändert.

Agiler Kapitalismus

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