Читать книгу Agiler Kapitalismus - Timo Daum - Страница 8

Alle wollen agil werden

Оглавление

In der Softwarebranche ist die neue Arbeitsorganisation inzwischen Standard. Die Attraktivität agiler Methoden geht aber weit darüber hinaus: Wenn das Ergebnis von Projekten nicht von vorneherein absehbar ist oder wenn Entwicklungsprozesse einen hohen Kreativitätsanteil aufweisen, sind agile Methoden erste Wahl. Überall da, wo Projekte gestemmt, neue Produkte und Dienste entwickelt werden sollen, schnell delivered und released werden muss, sind agile Methoden zu finden. Wo sie Einzug halten, bringen sie neue Rollen, digitalisierte Workflows und eine gehörige Portion Selbststeuerung mit.

Bei Zalando, der erfolgreichsten Neugründung der Start-up-Schmiede Rocket Internet, werden sie gar zur Managementphilosophie erhoben. Seit 2015 implementierte der Onlinehändler eine neue Unternehmensarchitektur mit dem klangvollen Namen Radical Agility, in der Technologie und Unternehmenskultur miteinander verbunden werden sollen. Weil Anwendungen in kleinen Teams entwickelt würden, die sich immer wieder untereinander abstimmen und Entscheidungen selbst treffen könnten, erklärt Eric Bowman, Technologiemanager bei Zalando, sei die Entwicklungsgeschwindigkeit enorm gestiegen, und das Warten auf Managemententscheidungen könne entfallen. » Radical Agility fördert maßgeblich die Flexibilität und Kreativität unserer Mitarbeiter und ist damit wichtiger Treiber für Zalandos Innovationskraft, Resilienz und Wachstum.«3

Auch die Automobilindustrie setzt große Hoffnungen in die agilen Methoden, steht ihr doch eine doppelte Transformation ins Haus: Zum einen steigt die Bedeutung der IT innerhalb der Unternehmen, der Softwareanteil an den Fahrzeugen nimmt zu. Zum anderen versucht sie gleichzeitig, dem Vorbild der Digitalkonzerne nachzueifern und selbst zu digitalen Serviceanbietern zu werden. So bei Daimler in Stuttgart: Agile Methoden, flexible Teams und kurze Releasezyklen sollen für hohe Veränderungsgeschwindigkeit sorgen. Der süddeutsche Premium-hersteller drückt seit 2015 gehörig aufs Tempo. Der Name der neuen Strategie: twice as fast.

Selbst konservative Großunternehmen wie die Allianz werden »ausgesprochen leger«, berichtet das Wirtschaftsmagazin brand eins süffisant, bei dem Versicherungskonzern werden ganze Abteilungen aufgelöst und organisieren sich neu in Form von Projekten. Mitarbeiter können sich für einhundert Tage aus dem Berufsalltag ausklinken und sich in den Agile Training Centers des Versicherungskonzerns – abseits der Bürosilos, in denen die »normalen Angestellten« sitzen – auf agil trimmen lassen, in interdisziplinären Teams arbeiten, dazu- und umlernen. Ziel sei das »vollständig digitale Unternehmen«, das »gewachsene Strukturen hinter sich lässt und die Trennlinie zwischen IT-Strategen und IT-Nutzern ausradiert«, formuliert Vorstandsvorsitzender Oliver Bäte.4 Als mindestens ebenso konservativ wie die Assekuranz gilt die Pharmabranche, doch auch hier machen agile Revolutionäre von sich reden: Um agiler und effizienter zu werden, rief unlängst der Chef des Schweizer Arzneimittelkonzerns Novartis, Vasant Narasimhan, zum konzernweiten » unbossing« auf.

Selbst Großunternehmen gründen heute eigene Start-ups oder bringen entsprechende Teams an den Start, die wie solche funktionieren. Eine Inhouse-Start-up-Kultur wird gefördert, organisatorisch wird auf Projekte umgestellt, um immer schneller auf Marktanforderungen reagieren zu können. Beim Elektrokonzern Bosch versuchen seit 2015 hausinterne Disruption Discovery Teams, neue Geschäftsideen und Produkte zu entwickeln. Wenn Agilität selbst bei Großunternehmen und in konservativen Branchen Einzug hält, dann ist »nichts Geringeres als das Konzept des fordistisch-bürokratischen Industrieunternehmens, das als Leitkonzept die Entwicklung der Wirtschaft seit mehr als 100 Jahren geprägt hat«, in Frage gestellt. So bringt der Arbeitssoziologe Andreas Boes die Entwicklung zum agilen Unternehmen auf den Punkt.5 Die Autoren einer wissenschaftlichen Untersuchung zum Agilitätsmanagement kommen gar zu dem Schluss, Agilität sei »das Managementparadigma für Organisationen im 21. Jahrhundert«.6

Auch die hierarchische Organisation par excellence, der strikte Befehlsketten, steile Hierarchien und langwierige Prozesse in der DNS liegen, hat sich Agilität auf die Fahnen geschrieben: Die Bundeswehr wird immer mehr zum IT-Dienstleister; informatische Kriegsführung, ferngesteuerte Drohneneinsätze und selbstlernende Systeme gewinnen an Bedeutung. Das Weißbuch des Bundesministeriums der Verteidigung aus dem Jahr 2016 mahnt: »Die Bundeswehr muss als agile Organisation in der Lage sein, flexibel und adaptionsfähig auf neue oder veränderte Anforderungen zu reagieren. Nur so meistert sie die Herausforderungen der kontinuierlichen Modernisierung und steigert auf diese Weise ihre Resilienz und Robustheit.«7

Auch vor der Wissenschaft machen agile Methoden nicht halt, gerade in unübersichtlichen Projekten mit ungewissem Ausgang können sie punkten. Wie sich Räume auf Kreativprozesse und Arbeitsproduktivität auswirken, war Untersuchungsgegenstand des interdisziplinären Forschungsprojekts Experimental Zone. Das Team experimentierte dabei mit einem neuartigen Forschungsdesign zwischen Soziologie und Gestaltung, das sie als »experimentelle Feldforschung« bezeichnete. Nach zähem Beginn probierten die Wissenschaftlerinnen schließlich Scrum aus, experimentierten mit den vorgefundenen Rollen und adaptierten es schließlich für ihre Situation. Über ihre Erfahrungen mit dem agilen Management ihres Forschungsprojekts schreiben sie, die Methode ermögliche dem Team, »alle Entscheidungen gemeinsam und interdisziplinär zu treffen, ohne auf die Stärken der fachspezifischen Hintergründe in seiner täglichen Arbeit verzichten zu müssen«.8 Die Gründer der agilen Bewegung wären stolz auf sie gewesen, ist doch die Anpassung vermeintlich in Stein gemeißelter Regeln eine ausgesprochen agile Tugend.

Im Umfeld der Agilität tummeln sich viele weitere, mehr oder weniger ähnliche Managementmethoden. Für jede Situation ist etwas dabei: Seit Mitte der 2000er Jahre gewann Design Thinking an Popularität, eine Kreativitätsmethode, bei der kleine interdisziplinäre Teams auf neue (Geschäfts-)Ideen kommen sollen. Vorbild sind dabei Problemlösungsansätze aus dem Design, die auf sämtliche Lebensbereiche übertragen werden. Eine Variante stellt der Design Sprint dar, hier werden unter Zeitdruck existierende Produkte und Anwendungen weiterentwickelt, Lean Startup hingegen kommt dann zum Einsatz, wenn an einer bereits gereiften Idee gefeilt werden soll, und Business Model Canvas bietet sich an, wenn die Überlebensfähigkeit von Geschäftsideen geprüft werden soll. Auch unfreiwillig komische wie die Holacracy (etwa: ganzheitliche Herrschaft), bei der Hierarchie durch autonome symbiotische Teams abgelöst werden soll, oder die Ambidexterity (Beidhändigkeit), bei der mit Altem und Neuem gleichzeitig erfolgreich jongliert werden soll, stehen bereit.9 Eine ganze Armada an Coaches, Managementgurus und Unternehmensflüsterern wartet im lukrativen editorischen Bermudadreieck zwischen Coaching, Management und Lebensberatung mit einer Fülle an Angeboten auf, oft nach dem Schema: Firma X oder Person Y machte jahrelang Z, bis sie eines Tages W entdeckte und seitdem schneller, profitabler, glücklicher oder schlanker geworden ist. Solcherlei Literatur ist Legion, und die Grenze zu Scharlatanerie fließend.

Die Gewerkschaften verlegen sich derweil aufs Co-Management: So untersucht etwa das Verbundprojekt Gute agile Projektarbeit, »wie agile Teams bei der Selbstorganisation unterstützt« werden können.10 Ver.di-Vorstand Christoph Schmitz bilanziert auf einer Tagung am 30. Januar 2020: Trotz insgesamt stark gestiegener Arbeitsbelastung in der IT-Branche – zwei Drittel der Beschäftigten seien chronisch überlastet – stünden die agil Arbeitenden geringfügig besser da, weil sie ihre knappen Zeitressourcen wenigstens selbst einteilen könnten.

Von linker Seite wird den neuen Methoden mit Wohlwollen begegnet, sie werden gar in einem Atemzug genannt mit Technologien und Praktiken wie Open Source, offenen Standards und Bürgerpartizipation. So sieht der Aktionsplan für die digitale Stadt Barcelona »die Einführung von nutzerfreundlichen digitalen Diensten mithilfe von agilen Methoden« vor, auf dass die Verwaltung insgesamt »agiler und experimentierfreudiger« werde.11 Der Agilitätsberater Mishkin Berteig fragt sich gar, ob diese »nicht kompetitiven, kollaborativen« Methoden emanzipatorisches Potenzial in sich tragen und »organisationsübergreifend als ›Ersatz‹ für den Kapitalismus« dienen könnten.12 Doch die Kapitalseite geht da bestimmt nicht mit, sie hat ein etwas anderes Verständnis von Agilität. Was etwa Audi-Chef Bram Schot damit meint, wenn er seine Firma »agiler machen« möchte, erklärt die Frankfurter Allgemeine Zeitung ihren Leserinnen und Lesern Ende 2019 folgendermaßen: Gemeint sei »auf Rendite trimmen« (Schot selbst musste inzwischen nach kurzer Amtszeit seinen Hut nehmen).13

Agiler Kapitalismus

Подняться наверх