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2.1.3 Veranlagung, Übung, Unterricht
ОглавлениеBegabung und Übung
Allen voran die griechischen Wanderlehrer, die Sophisten, brachten eine Auffassung von der menschlichen Natur zur Geltung, die beides berücksichtigte: allgemeine anthropologische und angeborene individuelle Wesensmerkmale. Ihr tägliches Geschäft der Wissensvermittlung machte sie sensibel für die Gelingensbedingungen von Unterweisungen, schließlich hing ihr Ruf und ihr Verdienst von der Zufriedenheit ihrer Kundschaft ab. Wenn alle Menschen dieselbe Naturausstattung besitzen, warum begriffen dann manche von ihnen mathematische Sachverhalte leichter als andere, und weshalb erfasste der eine die Grundregeln der Dialektik im Handumdrehen, während sein Nachbar sich erfolglos abmühte? Dass der eine eifriger lernte als der andere, fiel ins Gewicht, doch der unterschiedliche Übungsaufwand erklärte nicht alles. Den Sophisten werden reichlich lernwillige Kunden begegnet sein, die sich vergeblich anstrengten, den hohen Stand des Wissens zu erreichen, der gesellschaftliche Reputation versprach. Irgendetwas in ihrer Natur durchkreuzte wohl deren Lernanstrengungen, möglicherweise war es dasselbe, was in der Natur anderer, die Leichtigkeit des Lernens hervorbrachte. So in etwa mag der Erfahrungshorizont ausgesehen haben, in den der bekannte Ausspruch des Protagoras (490–411 v. Chr.), einem Hauptvertreter der Sophisten, einzuordnen ist: „Ausbildung erfordert Begabung und Übung“ (in: DIELS/KRANZ 1952, 80 B3).
Natur, Gewöhnung, Vernunft
Prägnanter als in dieser Sentenz lässt sich die pädagogische Grundposition der griechisch-römischen Antike nicht formulieren. Von Platon bis Plotin haben sich die mit Erziehung und Bildung (gr. paideia) befassten Philosophen, egal welcher Schulrichtung sie sich zugehörig fühlten, ähnlich geäußert. Nur was bei Protagoras als Übung firmiert, ist später in zwei Stufen ausdifferenziert worden; man unterteilte den Bildungsprozess in eine Erziehungs- oder Habitualisierungsphase und eine Phase der vernünftigen Unterweisung oder Belehrung (vgl. HOYER 2005a, S. 142ff.). ARISTOTELES (384–322 v. Chr.) brachte das tugendpädagogische Konzept in der Politeia (1332a, 38) auf den Punkt: „Gut und tugendhaft werden die Menschen nun aber durch drei Dinge; diese drei Dinge sind: Natur, Gewöhnung, Vernunft“. „Natur“ repräsentiert in dieser Trias den Menschen im Rohschliff. Von Geburt an besitzt das Kind alle Voraussetzungen, die es für ein rechtschaffendes, vernünftiges Leben als Bürger benötigt – „aber noch unentwickelt“ (ebd., 1260a). In welcher Weise die Menschen mit ihren naturgegebenen Anlagen umgehen, welche Erziehung, welchen Unterricht sie erhalten, welche Ziele sie sich setzen, das, und nicht die Disposition allein, entscheidet über den Verlauf, den ihre Charakterentwicklung nimmt. „Fürs erste muß man natürliche Begabung haben; das ist nun allerdings Glückssache“, hat ein Sophist bemerkt, „das andere aber liegt in der Hand des Menschen selbst: nach dem Schönen und Guten zu streben, arbeitsam zu sein, früh mit Lernen zu beginnen und es lange Zeit fortzusetzen“ (ANONYMUS JAMBLICHI, in: NESTLE 1956, S. 216).
Elitäre Bildung
Das antike Schulwesen konnte hierbei nur im begrenzten Umfang Hilfe leisten. Platons und Aristoteles’ Träume von einem durchorganisierten staatlichen Bildungswesen, das alle Bürger durchlaufen sollten, blieben Utopien. Nur einer betuchten Minderheit standen die wenigen, kostenpflichtigen Unterrichtsangebote, in denen etwas mehr als Basiswissen vermittelt wurde, zur Verfügung. Begabungskriterien spielten bei der Zulassung der Schüler keine nennenswerte Rolle. Nur die namhaften Gründer höherer Lehranstalten wie Platon, Isokrates oder Quintillian konnten sich Qualitätsbewusstsein leisten. Sie wollten die Besten des Landes, eine geistige Elite, bilden, was auch gelang. Die begehrten Plätze ihrer Schulen besetzten nahezu ausschließlich die zahlungskräftigen Mitglieder gehobener sozialer Schichten, denen der Schulbesuch als Sprungbrett in gesellschaftliche Spitzenpositionen diente (vgl. MARROU 1957).
Einführung von Eignungsprüfungen
Der Ausbau des Verwaltungsapparates, der nach kompetentem Personal verlangte, brachte es mit sich, dass bei der Verteilung der staatstragenden Posten nicht mehr blindlings nach Statusgesichtspunkten verfahren wurde, obgleich dieser Usus im Altertum zu keiner Zeit völlig außer Kraft gesetzt wurde. Am Vorabend des Zerfalls des römischen Imperiums sind verschiedene politische Steuerungsversuche aktenkundig, die – zumindest auf der Verordnungsebene – die verbindliche Einführung von Eignungsprüfungen vorsahen. Davon waren auch die nicht im Staatsdienst tätigen Lehrer betroffen, die in einzelnen Regionen ihre Befähigung für den Beruf nachweisen sollten. Eine Vorschrift des Kaisers Valentinian I. aus dem Jahr 369 nimmt zudem die Eignung von Studenten ins Visier. Der von den Abgängern am Ende ihres Studiums geforderte Leistungsnachweis steht im Zeichen der Qualitätskontrolle sowie am Beginn der amtlichen „Begabten“-Auslese. Valentinian verfügte, dass man seinem inneren Herrschaftsbezirk regelmäßig jene Studenten zuführen möge, die in der Prüfung am besten abschnitten (vgl. MARROU 1957, S. 446ff.). Bildung, Eignung (Begabung) und Leistung wurden somit von höchster Stelle zu Spielmarken erklärt, die im Wettbewerb um die lukrativsten Posten ihren gesellschaftlichen Wert erhielten. Valentinian I. mag heute ziemlich vergessen sein, aber in dem von ihm praktizierten System erkennen wir ein Grundmuster des europäischen Bildungswesens wieder.
Es lag in der Spätantike in der Luft, die im Kommen begriffene Regulierung von Bildungs- und Karrierewegen und die konkurrenzbetonten Auswahlverfahren auch auf die unteren Schulebenen auszudehnen. Doch bevor es hier zur Einführung von Eignungsprüfungen kam, brach die antike Welt auseinander.