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2.2.2 Bestimmung und Differenz
ОглавлениеBegabung als Gottes Gnadengabe
Wie kommt es zum frühzeitigen Witz bei jenem, zur Lust und Leichtigkeit des Lernens bei diesem? Weder Hartmann noch Gottfried zerbrechen sich darüber den Kopf. Warum auch? Offensichtlich Vorhandenes musste nicht weiter begründet oder erklärt werden, solange es sich mit dem Schöpfungsplan vertrug. Das Gute, das sich am Menschen und in der Welt zeigt, hat seinen Urgrund in Gott, das stand für die Christen so fest, wie das Amen in der Kirche. Seine geistigen Kräfte und Tugenden machen den Menschen allererst zum Menschen. Sie wurden als Geschenke Gottes aufgefasst – in Gnade gewährte Gaben (gr. charis; lat. charisma, donum, donatio u.a.). In den Übersetzungen der Heiligen Schrift und in den gelehrten Abhandlungen jener Zeit ist von den Gaben des Geistes, der Klugheit, der Gerechtigkeit, der Liebe usw. zu lesen oder einfach von der „Gabe Gottes, die in dir ist“ (2.Tim. 1,6). Nun wäre es voreilig, dem gleich die Bedeutung von Begabung, im Sinne einer inneren Veranlagung, unterzulegen.
Begabung als Schenkung
Zuvorderst nämlich verband man mit der Gabe eine Schenkung und keine Befähigung. Das ist auch im weltlichen Schrifttum erkennbar, wo seit dem 13. Jahrhundert Ausdrücke wie „begaben“ und „Begabung“ für Vorgänge der materiellen Güterverteilung, des Widmens, des Spendens usw. in Gebrauch kamen (vgl. BINNEBERG 1991). Die Geistlichen interessierten sich dagegen für die Vermittlung der höchsten, der immateriellen Güter. Wenn Thomas von Aquino (1224/25–1274) in scholastischer Sorgfalt beispielsweise die Tugend der Weisheit untersucht, dann betrachtet er sie vorrangig als eine „Gabe des Heiligen Geistes“ (THOMAS VON AQUINO 1985, S. 204) und erst nachgeordnet als ein wertvolles Gut, das Einzelne empfangen. Er bewegt sich damit auf dem Boden des Neuen Testaments, das mehrfach die den Menschen zuteil werdenden Gaben des Heiligen Geistes erwähnt (z.B. Röm. 12,6–8; 1. Kor. 12,1–11; Eph. 4,11; 1. Pt. 4,10–11).
Gaben als Eigenschaften und Unterscheidungsmerkmal
Niemand kann verschenken, was er nicht besitzt, selbst der Heilige Geist nicht. Er gibt weiter, was ihm zu eigen ist. Insofern sind seine Gaben zugleich Wesensmerkmale, die auf die Beschenkten abfärben. Die Gaben gewinnen dadurch den Charakter von ausgezeichneten und auszeichnenden Eigenschaften. Sie entspringen ein und demselben Geist, sind aber von Person zu Person unterschiedlich verteilt. Folglich sind die Menschen nicht nur, wie eine berühmte Bibelstelle lautet, an ihren Früchten zu erkennen (Mt. 7,16), also an den Ergebnissen und Folgen ihrer Handlungen, sondern auch an ihren dominanten Fähigkeiten, mit denen sie begabt wurden. Gnadengaben sind Distinktionsmerkmale in einer gottgewollten Welt, den Personen zur sorgsamen Pflege auferlegt wie eine Bestimmung (vgl. GUARDINI 1952, S. 80). Im ersten Brief des Paulus an die Urchristengemeinde Korinths – einer multikulturellen Hafenstadt, in der der Missionar in jedem Winkel auf die Vielfalt menschlicher Lebensweisen stieß – heißt es in der Originaldiktion der Luther-Übersetzung:
„Einem wird gegeben durch den Geist zu reden von der Weisheit/Dem andern wird gegeben zu reden von der Erkentnis/nach dem selbigen Geist. Einem andern der Glaube/in dem selbigen Geist. Einem andern die Gabe gesund zu machen/in dem selbigen Geist. Einem andern Wunder zu thun. Einem andern Weissagung. Einem andern Geister zu vnterscheiden. Einem andern die sprachen auszulegen. Dis aber alles wircket derselbige einige Geist/vnd teilet jglichen seines zu/nach dem er will“ (1. Kor. 12,8–11).
Begabung aus heiterem Himmel
Zu welchem biografischen Zeitpunkt die Zuteilung der Gaben erfolgt, ob vor oder mit der Geburt, wie beim Heiligen Nikolaus, oder erst im fortgeschrittenen Alter steht, nach Auffassung der Zeit, im Belieben Gottes. Einfluss darauf können die Menschen höchstens über die Intensität ihres Glaubens gewinnen. Vom Kirchenvater Johannes Chrysostomos (um 346–407) erzählt das Passional – eine kanonische Sammlung von Heiligengeschichten, deren Inhalt nicht von A bis Z für bare Münze zu nehmen ist –, dass er einen wundersamen Begabungswandel erfahren habe. Die ersten Jahre seiner Schulzeit hat der Junge aus Antiochia „gar sehr übel“ gelernt, ein Unvermögen, das ihm den Hohn seiner Mitschüler und den Stock der Lehrer einbrachte. Wiederholte Bittgänge führten den späteren Erzbischof von Konstantinopel zum Bildnis der Jungfrau Maria. Als sie sich seiner endlich erbarmte, gingen dem eben noch begriffsstutzigen Novizen schlagartig die Lichter auf: Wie er „in die Schul kam und lernen wollt, da kunnt Sankt Johannes mehr dann die anderen“ (zit. n. THALHOFER 1928, S. 166f.).
Weil intellektuelle Fassungskraft und Wissensleistungen nicht mit biologischen, genetischen oder gesellschaftlichen Ursachen in Verbindung gebracht wurden, konnten im Prinzip jedem jederzeit Gnadengaben aus heiterem Himmel widerfahren. Darauf war man in Glaube und Hoffnung eingestellt. Aber die alltägliche Erfahrung sah wohl anders aus. Unvorhergesehene Leistungssprünge waren die Ausnahme, bei den meisten schienen die Würfel in den ersten Lebensjahren mehr oder weniger endgültig gefallen.