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1 Begabung als Konstrukt.
Zum Werdegang einer Kategorie
der sozialen Differenzierung

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Begabung besser verstehen

Im Jahre 2007 erhielt der nordamerikanische Dachverband für Begabtenförderung, die National Association for Gifted Children (NAGC), seinen 28. Präsidenten. In seiner Antrittsrede erklärte Del Siegle, wie er sich die Entwicklung der Einrichtung vorstelle und wofür er sich einsetzen wolle. Ganz oben auf die Agenda setzte er ein Anliegen von besonderer Dringlichkeit: „We need to do a better job of defining giftedness“ (SIEGLE 2008, S. 111). Es ist nicht überliefert, was die Festgäste – samt und sonders ausgewiesene Koryphäen auf dem Arbeitsfeld der Begabung – von diesem Appell hielten. Etwas pikiert dürften die Fachleute schon gewesen sein, da ihnen ihr neugewählter Präsident zu verstehen gab, dass sie bei der Klärung des Begabungsbegriffs oberflächlich zu Werke gegangen seien. Die Mitglieder der weltweit renommiertesten Vereinigung für Begabtenförderung und Begabungsforschung hatten es nach über einem halben Jahrhundert organisierter Arbeit nicht fertiggebracht, jenem Ausdruck eine verlässliche Bedeutung zu geben, der das terminologische Gravitationszentrum ihrer vielfältigen wissenschaftlichen, kulturellen und pädagogischen Aktivitäten bildet.

Unscharfer Begriff

Ohne Zweifel hätten auch die Vorsitzenden europäischer Begabtenzentren Grund, in den Aufruf ihres Kollegen aus den Vereinigten Staaten einzustimmen. Regelmäßig beklagen hiesige Wissenschaftler, der Begabungs- und Hochbegabungsbegriff werde „uneinheitlich und unscharf gebraucht“ (ROST 2009, S. 14), lauter widersprüchliche Definitionen seien im Umlauf und keine einheitliche Bedeutung in Sicht. „Unglücklicherweise herrscht in der Wissenschaft, wenn über Begabung und Hochbegabung gesprochen wird, ein nahezu babylonisches Sprachgewirr“ (ZIEGLER 2008, S. 14). In zahllosen einschlägigen Dokumenten werden „Begabung“, „Hochbegabung“, „Talent“, „Leistungsstärke“ und „Leistungsexzellenz“ ohne weitere Erklärung wie Synonyme behandelt. Meist wird dabei ein intuitives Begriffsverständnis vorausgesetzt, als würde sich das mit den Worten Gemeinte von selbst verstehen. Ohne nähere Erläuterung der keineswegs gleichbedeutenden Ausdrücke bleibt jedoch nebulös, worauf sie Bezug nehmen. Margrit Stamm hat einmal mit Blick auf die unscharfen Richtlinien zur Begabungsförderung eine lockere Auswahl offener Fragen notiert: „Handelt es sich beim gewählten Begriff eher um statisch erfassbare, sich kaum verändernde Fähigkeiten oder um dynamische Fähigkeiten, die kontinuierlich weiterentwickelt werden oder auch stagnieren? Umfasst der gewählte Begriff intellektuelle und/oder nicht-intellektuelle Fähigkeiten? Wird das, was unter dem gewählten Begriff verstanden werden soll, als Produkt oder als Entwicklungsmöglichkeit mit Prozesscharakter verstanden?“ (STAMM 2009, S. 53). Weitere Unklarheiten ließen sich mühelos hinzufügen.

Vielfalt der Bedeutungen

Dass es Verwendungsweisen und Bedeutungsvarianten von Begabung in Hülle und Fülle gibt, ist allerdings nichts Ungewöhnliches. Im Grunde genommen verhält es sich nämlich mit dem Begabungsbegriff wie mit all jenen Begriffen, die sich auf keine Wahrnehmungsgegenstände beziehen. Man denke an Ausdrücke wie „Gerechtigkeit“, „Bildung“, „Macht“, „Leistung“, „Glück“ oder an neuere Schlagworte wie „Kreativität“ oder „Resilienz“. Überall findet man eine unübersichtliche Menge an strittigen Definitionen und nirgends ein einheitliches, unkontroverses Begriffsverständnis. Alle theoretisch reizvollen Begriffe verlangen förmlich danach, fortwährend neu bedacht zu werden, denn sie sind keine „Spiegel der Natur“ (R. Rorty), die greifbare Gegenstände mehr oder weniger akkurat abbilden. Es gehört sozusagen zur Wesensnatur von Begriffen, dass ihre Semantik variiert, und zwar in Abhängigkeit von den Erfahrungen, die ihnen zugrunde liegen, von den Denksystemen und Diskursen, in die sie eingebettet sind, und den Phänomenen, die sie symbolisieren.

Forschungsbedarf

Grundlegende „Theorien der Begabung“ sind rar; die wenigen, die es gibt, sind älteren Datums, in der jüngeren Zeit sind sie durch überblicksartig oder ratgeberförmig konzipierte Einführungen in das Thema „Hochbegabung“ ersetzt worden. Noch bescheidener sieht es auf den Feldern der Diskurs-, Problem- und Kulturgeschichte der Begabung aus. Es existieren kaum Studien, die über die wechselnden Verwendungsweisen des Ausdrucks, über die wissenschaftsspezifischen Sprachspiele der Begabung, die kulturell bedingten Unterschiede im Verständnis und die gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Hintergründe der Begabungsförderung im größeren Zusammenhang aufklären. Verglichen mit dem Kenntnisstand anderer Forschungszweige liegt über dem Gebiet der Begabung gleichsam ein Schleier der Unwissenheit. Del Siegles Wort ist als Ansporn zu verstehen, diesen Schleier zu lüften.

Bedeutungs- und Sozialgeschichte

Begabung ist ein Phänomen, hat Heinz-Elmar Tenorth richtig bemerkt, „das man allein historisch angemessen erklären kann, also wissenschafts- und gesellschaftsgeschichtlich sowie im Kontext der institutionellen und politischen Entwicklung“ (TENORTH 2007, S. 118f.). Dabei ist zu berücksichtigen, dass die sozial-, kultur- und begriffsgeschichtlichen Entwicklungslinien im Allgemeinen nicht isoliert voneinander verlaufen. „Sprachwandel und sozialer Wandel korrespondieren miteinander, ohne daß der eine im andern aufgeht, ohne daß der eine auf den anderen kausal zurückzuführen ist. Vielmehr verweist der eine auf den anderen, ohne ihn hinreichend begründen oder gar ersetzen zu können“ (KOSELLECK 2010, S. 305). Auf unser Thema übertragen folgt daraus die methodische Konsequenz, dass man analytisch zu differenzieren hat zwischen der Bedeutungsgeschichte, die Verständnisformen von Begabung und den Sprachwandel rekonstruiert, und der Sozialgeschichte, die Begabung als einen gesellschaftlichen Sachverhalt begreift, der sich in Institutionen (Schulen u.a.), in akademischer Spezialisierung, in politischer Programmatik etc. niederschlägt. Die Synthese beider Sichtweisen bringt das Begabungsphänomen dem Verständnis näher.

Soziales Konstrukt

Aus historiografischer und kulturanthropologischer Sicht ist Begabung weder ein biologisches Faktum noch eine psychologisch lokalisierbare, endogene Größe, von der man behaupten könnte, sie sei mal mehr oder weniger präzise beschrieben worden. Ein Urteil darüber, welche Vorstellung das Phänomen adäquater abbilde, bedürfte eines unverstellten Blicks auf das „Ding an sich“, über den wir nicht verfügen. Die britische Psychologin Joan Freeman hat in einem anderen Zusammenhang zutreffend bemerkt, das Konzept der Begabung sei ein „soziales Konstrukt“ (FREEMAN 2010, S. 87). Dieses Konstrukt könnte man, im Sinne von Roland BARTHES (1964), auch als einen Alltagsmythos verstehen. Mythen sind dem Verständnis des französischen Semiologen zufolge Aussagen, die nicht durch das Objekt ihrer Botschaften definiert werden, sondern durch die Art und Weise des Bedeutens.

Grammatik des inneren Lebens

Der Mythos Begabung kann zu der von dem Soziologen Alain Ehrenberg beschriebenen „Grammatik des inneren Lebens“ (EHRENBERG 2004, S. 15) gerechnet werden. Diese Grammatik setzt sich zusammen aus Konzeptionen, Reflexionsformen, Sprachbildern und anthropologischen Modellen, mit deren Hilfe sich Gesellschaften das Subjektive, das Individuum zu erklären versuchen. Entstehung und Wandlung dieser Grammatik geschehen nicht losgelöst von empirischen Gegebenheiten, auf die sie in gewisser Weise reagieren: Der Umstand, dass einige Kinder ungewöhnliche Fähigkeiten aufweisen, löst Reflexionen, Interpretationen, Theorie- und Konzeptbildungen aus, die das Beobachtete deskriptiv zu erfassen, begrifflich verfügbar, denkfähig zu machen versuchen. Aber die Grammatik des inneren Lebens reagiert nicht nur passiv auf empirische Sachverhalte, sie verändert und erzeugt sie auch. Mit der Verbreitung einer sprachlichen Neuerung, der Einführung eines ungewohnten Deutungsmusters, dem Aufkommen eines neuartigen Theoriekonzepts ändern oder öffnen sich Erfahrungsräume, aus denen sich öffentliches Bewusstsein speist, sozio-politische Initiativen Rechtfertigungen und wissenschaftliche Arbeiten Impulse beziehen.

Exzellenz und Differenz

Im Werdegang der Begabung schlagen sich Vorstellungen von herausragendem Leistungsvermögen, personaler Exzellenz und mithin Praktiken sozialer Differenzierung nieder. Die Rekonstruktion dieses Komplexes bringt ans Licht, wie Gesellschaften zu verschiedenen Zeiten Ungleichheit und Fähigkeitsunterschiede auffassen, konzipieren, und pädagogisch institutionalisieren.

Begaben – Begabung

Wollte man mit der historischen Darstellung in jener Zeit einsetzen, in der das Substantiv „Begabung“ in der deutschen Sprache zur Bezeichnung einer speziellen Veranlagung oder Disposition Fuß zu fassen begann, dann bräuchte man nicht weit hinter das 19. Jahrhundert zurückgehen. Zuvor nämlich, seit dem späten Mittelalter, meinte „begaben“ so viel wie schenken, geben, besolden, ausstatten, und die „Begabung“ war der Vorgang des Schenkens, der Stiftung, der Anreicherung. Erst im späten 18. Jahrhundert bürgerten sich allmählich vom Partizip „begabt“ abgeleitete Verbalsubstantive wie „Begabtheit“, „Begabnis“ und „Begabung“ ein, die in etwa dasselbe bezeichneten: eine vorteilhafte menschliche Eigenschaft oder Beschaffenheit. So stellte z.B. Goethe 1831 fest, alle Söhne Napoleons seien „bedeutend begabt“ gewesen (Goethes Gespräche mit Eckermann 1955, S. 592), und Heinrich Heine konnte zehn Jahre später bemerken, dass den zunehmend intellektuell gebildeten Menschen ihre „plastische Begabnis“ – also ihre ästhetisch-künstlerische Befähigung – mehr und mehr abhanden gekommen sei (HEINE 1841, S. 380). „Begabnis“, „Begabung“ und dergleichen bezeichneten nun personale Voraussetzungen zur gelingenden Ausübung bestimmter Tätigkeiten. Die ältere Sprechweise, nach der man sich unter Begabung einen Prozess der An- und Zueignung von wertvollen Gütern vorstellte, geriet außer Gebrauch (vgl. BINNEBERG 1991).

Begriffsäquivalente

Was das Wort „Begabung“ seit dem 19. Jahrhundert zur Sprache bringt, hat der Sache nach indes eine viel längere Geschichte, die bis ins Altertum zurückreicht. Ältere Ausdrücke wie „Ingenia“, „Gabe“, „Talent“ oder „Vermögen“ und Wendungen wie „günstige Natur“ oder „glückliche Anlage“ können ex post als Varianten oder Begriffsäquivalente von „Begabung“ gedeutet werden. Auch sozio-kulturelle Erscheinungen, etwa der Genie-Kult und die Wunderkinder-Euphorie im 18. und 19. Jahrhundert, weisen im Nachhinein eine Familienähnlichkeit mit dem Begabungs- und Hochbegabungsphänomen des 20. Jahrhunderts auf, das ohne die vorangegangene Geschichte kaum verständlich wird.

Begabung

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