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2.1.2 Herausragende Leistungen und Frühreife

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Keine pädagogische Begabtenförderung

Wie die erstaunlichen Leistungen zustande kamen, darüber schweigen sich die Quellen zumeist aus (die Legende vom Gedächtniskünstler gehört zu den Ausnahmen). Die Berichte und Erzählungen benennen außerordentliche geistige Leistungen, sehen aber selten Veranlassung, ihnen auf den Grund zu gehen. Weshalb sollte man sich auch Gedanken über Herkunft und Entstehung dieser Phänomene machen? Aus pädagogischem Interesse jedenfalls nicht. Die Absicht, solche Ausnahmeerscheinungen gezielt hervorzubringen, war nicht besonders verbreitet, und die Vorstellung, die fraglichen Personen bedürften einer pädagogischen Sonderbehandlung, genauso wenig. Man betrachtete sie wie erfreuliche Irrläufer der Natur oder, bei religiöser Gesinnung, als Geschenke der Götter, so oder so waren es bemerkenswerte Kuriositäten von geringer Modellhaftigkeit. Deshalb sind die Geschichten auch nicht mit dem pädagogischen Hintergedanken verfasst, der Jugend nachstrebenswerte Idole anzupreisen.

Frühreife – puersenex

Gänzlich frei davon ist beispielsweise Vergil (70–19 v. Chr.), der in seinem Alterswerk, der Aeneis (IX, 310f.), über den attraktiven trojanische Fürstensohn Julus zu berichten weiß, dieser habe schon im Kindesalter den Geist und die Gedanken eines reifen Mannes besessen („ante annos animumque gerens curamque virilem“). Eine Feststellung, die aufhorchen lässt. Sie gehört zu den frühesten Zeugnissen des sog. puer-senex-Motivs, das bis weit in die Neuzeit in Gebrauch war, um ein ebenso seltenes wie seltsames Entwicklungsphänomen zu beschreiben: geistige Frühreife. Heutzutage taucht es nur noch gelegentlich in literarischen Werken auf, etwa in Juli Zehs Roman Spieltrieb, wo die hochbegabte Hauptfigur Ada als „eine Fünfzehnjährige mit greisem Verstand“ charakterisiert wird (ZEH 2004, S. 431). Der klassische puer-senex-Topos erfasst als die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, was die moderne Psychologie Anfang des 20. Jahrhunderts als Abweichung zwischen dem kalendarischen Lebensalter und dem getesteten „Intelligenzalter“ (Alfred BINET) operationalisieren wird (danach könnte z.B. ein sechsjähriges Mädchen mit der Intelligenz einer Zehnjährigen begabt sein). Vergils Formulierung lässt an Klarheit und Sachlichkeit nichts zu wünschen übrig: Julus, nach Jahren und Körperwuchs ein Kind, seiner Wortgewandheit und Denkfähigkeit nach ein Erwachsener.

Das Erwachsene im Kind

Kind und Erwachsener zugleich – dieses Paradox zu denken, fiel den Menschen damals leichter, als sich vorzustellen, bestimmte Kinder verfügten über Fähigkeiten von Erwachsenen, ohne erwachsen zu sein – eine uns wiederum bestens vertraute, aber mit etwas Abstand betrachtet nicht minder kuriose Vorstellung. Wo der an Psychologisierung gewöhnte Alltagsverstand heutzutage einen Entwicklungsvorsprung, eine überdurchschnittliche Lern- oder Leistungsvoraussetzung, eine Begabung sieht, erkannte der in Kategorien des Seins denkende Mensch der Antike das Erwachsensein im Kind. Es bedurfte einer regelrechten Revolution des Denkens, um das Erwachsene des frühreifen Kindes in dessen Potenzial umzudeuten – philosophisch gesprochen musste sich hierfür das ontologische Denkparadigma auflösen, ein Vorgang, der geistesgeschichtlich die Neuzeit einläutete. Ferner bedurfte es eines Wandels in der Anschauung des Kindes. In Athen und Rom genossen Kinder als Kinder kein hohes Ansehen (vgl. CHRISTES et al. 2006). Sie galten als prinzipiell unfertige, rückständige Menschen, die nach landläufiger Gewohnheit nachlässig oder mit Strenge behandelt wurden. Erst als gesellschaftsfähige Männer oder heirats- bzw. zeugungsfähige Frauen erhielten sie die volle Anerkennung der Gemeinschaft.

Kindheit

Kindliches Geschick oder hohe schulische Leistungen gehörten nicht zu den Gegenständen, mit denen sich die Eltern lange befassten oder über die sie sich intensiv untereinander austauschten. Wer es sich finanziell erlauben konnte, deligierte Erziehung und Unterricht an wechselndes pädagogisches Personal (Ammen, Sklaven, Lehrer), die für die Fähigkeitsabstufungen der Zöglinge gemeinhin kein besonderes Auge besaßen. Was nicht besagt, Unterschiede in den kindlichen Interessen oder „Kompetenzen“ seien nicht vorhanden gewesen. Man maß ihnen nur wenig Wert bei. Ohne Achtung und Aufmerksamkeit für das Naturell und die Individualität der Kinder, wird man auch kein Bewusstsein für kindliche Begabungen erwarten dürfen.

Begabung als Natur

In der Weisheitsliteratur der Epoche, die nicht die Mentalität der Gesamtbevölkerung repräsentiert, kündigte sich solch ein Bewusstsein indessen an. Manche Übersetzungen der philosophischen Texte legen den Autoren sogar das Wort „Begabung“ in den Mund. Demnach hätte der römische Kaiser Marc Aurel (121–180 n.Chr.) in seinen Selbstbetrachtungen (5. Buch, 5.Aph.) – der Intention nach ein (Selbst-)Erziehungsbuch zum Handgebrauch – die Ermahnung ausgesprochen: Niemand solle seine Charakterschwächen mit einem Mangel an „Begabung“ entschuldigen, da es jedem freistehe, dieses Defizit durch Willenskraft und Übung wettzumachen. Der in der stoischen Philosophie beschlagene Herrscher hatte aber, streng genommen, keinen Begriff von Begabung, der weder im Römischen Reich noch im alten Griechenland als ein singulärer Terminus vorkam. Dafür besaß man eine elaborierte Vorstellung von der Natur der menschlichen Existenz; Natur verstanden als ursprünglich vorzufindende, unhintergehbaren Seinsweise. Ist in den deutschen Übertragungen der Schriften des Altertums von Begabung die Rede, was häufiger geschieht, dann darf man sicher sein, dass im lateinischen oder griechischen Original von natura bzw. physis gesprochen wird.

Säuglingsbeobachtung

Ein seinerzeit vertrauter Gedanke war, dass man aus der reflektierten Naturbetrachtung normative Richtlinien des Handelns, auch des erzieherischen, gewinnen könne. Und wo zeigt sich die menschliche Natur am reinsten, unverstelltesten? Im Neugeborenen. Cicero (106–43 v. Chr.) ging in seiner Abhandlungen De finibus bonorum (5. Buch, Abschnitt 55) so weit zu behaupten, alle griechischen und römischen Denker seien seit je, im wörtlichen Sinne, an die Wiege getreten, da sie der Ansicht waren, im Säugling könne man die Naturabsichten am zuverlässigsten erkennen. Diesen Schritt „an die Wiege“ taten die Philosophen, weil sie sich in erster Linie für die generellen, allgemeinen Gesetzmäßigkeiten des Werdens interessierten und nicht so sehr für die spezifische Beschaffenheit des einzelnen Kindes. Dass manchem dabei nebenher auffiel, wie die dem menschlichen Wesen zugrunde liegende Natur sich von früh an in individueller Charakteristik ausprägt, konnte nicht ausbleiben.

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