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2.2.1 Geschichten von erstaunlichen Gaben

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Kognitive Frühreife

Der begabungskritische französische Soziologe Pierre Bourdieu hat, unter Berufung auf die historische Forschung seines Kollegen Philippe Ariès, die Behauptung aufgestellt, die „undifferenzierte Pädagogik des Mittelalters“ habe noch keine Vorstellung von kognitiver Frühreife besessen, weil dies nämlich ein Schulwesen voraussetze, welches den Erwerb von Kenntnissen in festgelegten Alters- und Klassenstufen strukturiert (BOURDIEU 1970, S. 58). Solch ein standardisiertes schulisches Klassifikationssystem, das den Fähigkeitsvergleich erleichtert, zeichnete sich frühestens im 16. Jahrhundert ab. Hinzu kam, dass man es mit dem Alter zu jener Zeit generell nicht besonders genau nahm. Insbesondere auf dem Land hatten die meisten Menschen nur ungefähre Vorstellungen davon, wann sie geboren wurden und wie alt sie waren. Dennoch hält Bourdieus These einer Überprüfung nicht stand. Das Zeitalter besaß sehr wohl eine Ahnung von geistigen Fähigkeiten, die sich vorzeitig einstellten. Pädagogische Konsequenzen folgten daraus allerdings, soweit man das heute beurteilen kann, selten.

Jesus – hochbegabt?

Bekannt ist die im Neuen Testament erzählte Episode vom 12-jährigen Jesus, die berichtet, wie sich der gewiefte, eigensinnige Knabe nach dem Passatfest in Jerusalem heimlich von seinen Eltern entfernte, um sich volle drei Tage unter die Rabbiner zu mischen. Seine Anwesenheit im Tempel verblüffte die Anwesenden, da er nicht nur den Worten der Lehrer lauschte, sondern einsichtsvoll und gescheit, fast auf Augenhöhe mit den Erwachsenen zu disputieren verstand. Die Gelehrten machten indessen – für uns etwas verblüffend – keine Anstalten, diesen besonders gescheiten Jungen unter ihre Fittiche zu nehmen. Als die verärgerten Eltern nach dreitägiger Suche in den Tempel stürzten, ließen die Rabbis den talentierten Knaben umstandslos ziehen (Lukas 2,41–48).

Legenden

Nicht nur vom Gottessohn, auch von manch anderem charismatischen Gläubigen wusste man sich im Mittelalter Erstaunliches zu erzählen. Vom Heiligen Nikolaus ging die Legende, dass er gleich nach der Geburt ohne fremde Hilfe auf seinen eigenen Beinen stehen konnte. Nicht genug damit, hielt er, vernünftig und gottesfürchtig vom ersten Atemzug an, von sich aus die religiösen Fastentage ein – noch während er gestillt werden musste (vgl. SHAHAR 1991, S. 20). Man merkt, das puer-senex-Motiv hatte, angepasst an christliche Denkfiguren, den epochalen Umbruch vom Altertum zum Mittelalter einigermaßen unbeschadet überstanden.

Es mussten nicht notwendigerweise Heilige sein, denen man attestierte, schon ihr junger Körper habe einen ungewöhnlich gelehrsamen Geist beherbergt, aber in irgendeiner Form Helden waren es immer: „Große“ Männer entweder der Geschichte oder der historischen Phantasie, über die die Hagiografen in dichterischer Freiheit Bericht erstatteten. Über die Namenlosen, denen eventuell ähnliche geistige Eigenschaften, aber kein Ruhm und keine Ehre zuteil geworden sind, lässt sich nichts Genaues sagen, da es an Quellen mangelt.

Vom sagenumwobenen Ritter Lancelot lesen wir in dem im 13. Jahrhundert verfassten Prosaroman, der sich in aller Ausführlichkeit seinen Großtaten widmet, schon als Junge sei seine Persönlichkeit dreimal so weit entwickelt gewesen, wie es seinem Alter entsprochen hätte – „dru mal alter als er was“ (KLUGE 1948, S. 34). HARTMANN VON AUE (ca. 1160–1210) ehrt in seiner mittelhochdeutschen Verserzählung Gregorius den in Sünde geborenen und später zum Papst gekrönten Titelhelden retrospektiv, in dem er versichert, von Kindesbeinen an sei Gregorius gesegnet gewesen mit dem bestechenden Scharfsinn eines Erwachsenen, mit Witz, wie man in dieser Zeit zu sagen pflegte: „der jare ein kint, der witze ein man“ (Vers 1180).

Tristan – hochbegabt?

Hartmanns Zeitgenossen GOTTFRIED VON STRASSBURG, dessen Lebensdaten unbekannt sind, verdanken wir die vielleicht bewegendste Schilderung eines Jungen, dem alles, was er anpackte, mühelos besser gelang als Kindern seines Alters. Tristan: die dem Mythenschatz der Zeit entlehnte Fabel eines rundum „Hochbegabten“? – um 1210 zu Papier gebracht, 700 Jahre bevor man überhaupt an so etwas wie Hochbegabung zu denken begann. Die zeittypische Nachlässigkeit in der Erziehung bestätigt sich in Tristans fiktiver Biografie nicht. Im Gegenteil: Die Mutter war penibel besorgt um das Wohlergehen des Kleinen und der Vater ein bildungsbewusster Mann, der den Sohn mit sieben Jahren einem Weisheitslehrer übergibt. Tristans Kindheit endet früh, allzu früh, wie das Epos in berührenden Worten beklagt, denn die Unbeschwertheit, die Sorgenlosigkeit des Jungen ist mit Eintritt in die Lehrzeit dahin (Vers 2050ff.). Stattdessen erwacht in ihm ein unstillbarer Drang zu lernen. In kürzester Zeit verschlingt Tristan mehr Bücher, heißt es, als je ein Kind zuvor oder seitdem (Vers 2090). Außerdem übt er sich von früh bis spät im Lautenspiel oder an der Harfe, ganz egal welches Saiteninstrument ihm in die Finger kommt, er bringt es im Musizieren zur staunenswerten Perfektion. Sieben Jahre studiert er unentwegt, heute dies, morgen das (Vers 2100). Auch die handfesten, praktischen Dinge, die einem Edelmann gut zu Gesicht stehen, eignet er sich der Reihe nach an: Reiten, Kämpfen, Jagen und so fort. Unverzüglich ist er in jedem Metier versierter als die anderen (Vers 2119). Sein mühelos erworbenes Wissen, seine beneidenswerten Fertigkeiten und obendrein seine sittliche Vortrefflichkeit ernten Anerkennung und Bewunderung. Aber es ist für Tristan – nomen est omen: dem Traurigen – kein Glück darin. Alles will ihm gelingen, nur die Erfüllung nicht.

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