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Einleitung

Woran denkt man beim Wort „Begabung“? Manche werden als erstes an bekannte Persönlichkeiten denken, an den Pianisten Glenn Gould etwa, dessen außerordentliche musikalische Virtuosität legendär ist. Noch keine 12 Monate auf der Welt, sprach er in ganzen Sätzen, mit drei Jahren war sein absolutes Gehör offenkundig, er verstand das Notensystem, bevor er Wörter entziffern konnte, verbrachte aus eigenem Antrieb Tage und Nächte am Klavier, besessen von Musik, die sein Leben war (vgl. HAFNER 2008). Andere werden vielleicht eher an intellektuell herausragende Personen denken, zum Beispiel an einen Universalgelehrten wie Gottfried Wilhelm Leibniz, der über sich selbst berichtete, dass er schon als Vierjähriger lesen konnte, der sich im Selbststudium Latein und Griechisch beigebracht hatte, so dass er mit zehn Jahren ein besseres Verständnis von den Klassikern besaß als manch Studierter.

Begabte Persönlichkeiten

Gould, Leibniz, Mozart, Einstein … die Reihe berühmter Namen ließe sich fortsetzen. Sie alle sind, wie man gewiss sagen kann, begabte, ja hochbegabte Menschen gewesen, die es überdies fertigbrachten, ihre Begabung produktiv umzusetzen. Die Aufmerksamkeit, die das Begabungsphänomen genießt, ist zum Teil solchen populären Ausnahmeerscheinungen geschuldet. In einem Buch mit dem Titel Begabung, Bildung und Bildsamkeit aus dem Jahr 1963 schreibt der Autor: „Die menschliche Gesellschaft verdankt die stetige Ausweitung ihres Erlebnis- und Erkenntnisraumes, den unermeßlichen Reichtum ihrer Kultur und alle technischen und zivilisatorischen Fortschritte der genialen Begabung und den schöpferischen Leistungen einzelner hervorragender Persönlichkeiten“ (MIERKE 1963, S. 68). Man darf allerdings bezweifeln, dass kulturelle „Fortschritte“ allesamt auf herausragenden Einzelleistungen beruhen. Nicht minder fraglich ist die Annahme, Kreativität oder Originalität ließen in jedem Fall auf eine urwüchsige „geniale Begabung“ schließen. Bei Gould oder Leibniz mag man davon sprechen, bei Mozart möglicherweise auch, in Einsteins Kindheit hingegen verriet noch kaum etwas den späteren Starphysiker, und was ist erst mit dem Nobelpreisträger Gerhart Hauptmann, von dem es heißt, der Schriftsteller „erwies sich in der Schule als völlige Null“ (PRAUSE 1987, S. 28). Ein bedeutender, kreativer Mann, aber ohne Begabung? Oder war es eine falsch geförderte, nicht entdeckte, spät entwickelte Begabung? Was ist das überhaupt: Begabung?

Was ist Begabung?

Darauf ist keine einfache Antwort möglich. Denn, so viel steht fest, Begabung ist weder ein Gegenstand der Erfahrungswelt, den man wie eine Sache beschreiben könnte, noch eine psychische, endogene Substanz, sondern vielmehr eine mehr oder weniger gut begründete Hypothese, mit der üblicherweise Aussagen über Fähigkeitsgrade, Lern- und Leistungsvoraussetzungen oder Dispositionen gemacht werden. So wie wir das Wort verstehen, bezeichnet Begabung ein soziales Konstrukt von durchaus uneinheitlicher Bedeutung.

Begabung in der Pädagogik

Dieses Buch befasst sich mit dem Begabungskonstrukt aus pädagogischer oder bildungswissenschaftlicher Perspektive. Das ist zu betonen, weil sich verschiedene Wissenschaften einen eigenen Reim auf den Ausdruck machen. Die längste, weit über 100-jährige Karriere hat der Begriff in der Psychologie und in der Verhaltensgenetik. Mittlerweile wird er aber auch in vielen anderen Disziplinen verwendet, in der Neurophysiologie etwa oder sogar in der Stadtsoziologie, wo metaphorisch von den „Begabungen“ bestimmter Städte und Regionen gesprochen wird, um deren Potenzialität zu charakterisieren (HÄUßERMANN 1994, S. 243).

Ein pädagogischer Begriff?

Ob Begabung zu den einheimischen Begriffen der Pädagogik gehört, ist umstritten. Ein Indikator sind pädagogische Lexika und Wörterbücher. Seit den 1920er Jahren wird „Begabung“ regelmäßig in pädagogischen Nachschlagewerken aufgeführt, meistens greifen die Einträge auf die Ergebnisse der Genetik, der Zwillings- oder Intelligenzforschung zurück, kommen dabei zu keinem eigenen, „pädagogischen“ Verständnis. In vielen Kompendien fehlt der Ausdruck auch; das Neue schulpädagogische Wörterbuch (HINZ et al. 2001) beispielweise enthält ihn nicht einmal im Stichwortverzeichnis. Die vom Pädagogen Hans-Jochen Gamm vor Jahren aufgestellte Behauptung, Begabung sei „nicht primär ein psychologischer, sondern ein pädagogischer Begriff“ (GAMM 1970, S. 41), scheint also weder historisch noch systematisch gerechtfertigt. Gegen die verhaltensgenetische und psychologische Deutungsmacht hat sich die Erziehungswissenschaft aufs Ganze gesehen mit einer eher leisen Stimme zu Wort gemeldet. Ist dies einer kritischen Grundhaltung geschuldet, die um die Problematik des Ausdrucks weiß, dann wird man einen bedachtsamen Sprachgebrauch durchaus begrüßen.

Wissenschaftlich unbrauchbar

Bedenken an der wissenschaftlichen Brauchbarkeit des Begriffs begleiten die pädagogische Begabungsforschung seit Ende der 1960er Jahre. Der Deutsche Bildungsrat etwa beauftragte in dieser Zeit eine namhafte Gruppe von Sachverständigen zum Problemkreis „Begabung, Begabungsförderung und Begabungsauslese“ den neuesten Stand der Kenntnisse zu erarbeiten. Der fast 600-seitige Abschlussbericht Begabung und Lernen stellt gleich zu Beginn klar, dass die Wissenschaftler alsbald eingesehen hätten, dass mit dem Begabungsbegriff wenig anzufangen sei. „Er ist zu unbestimmt und zu weit“, erklärte der Vorsitzende des Ausschusses, der Erziehungswissenschaftler Heinrich Roth, weshalb man es vorgezogen habe, sich in den empirischen Untersuchungen auf „Lernleistungen“ zu konzentrieren (ROTH 1970, S. 19).

Pädagogisches Begabungsverständnis

Derselbe Heinrich Roth repräsentiert allerdings auch beispielhaft eine Position, die sich nicht damit zufrieden gibt, dass anlagedeterministische, leistungs-, elite- und intelligenzorientierte Begabungskonzepte, die das Feld seit je dominieren, von pädagogischer Seite unwidersprochen bleiben. Roth war einer der ersten, die einen „pädagogischen Begabungsbegriff“ (ROTH 1952, S. 18) theoretisch konzipierten, der in einem Lehr-Lern-Arrangement verortet ist, in dem das differenzierte „Begaben“ aller Schülerinnen und Schüler größeres Gewicht erhält als die Differenzierung nach mutmaßlichen Begabungsressourcen. Roth hat in seinem Beitrag vorgezeichnet, wie man in der Begabungsförderung ohne Spekulationen über anlagebedingte Lernund Leistungsvoraussetzungen und ohne stigmatisierende Merkmalszuschreibungen (unbegabt – begabt – hochbegabt) auskommen könnte.

Hochbegabung

Mit dem Problem etikettierender Zuschreibungen sind nicht zuletzt Schülerinnen und Schüler konfrontiert, die als hochbegabt gelten (vgl. HOYER 2010). Seit den 1980er Jahren hat im deutschsprachigen Raum das vorwiegend psychologisch geprägte und an IQ-Werten festgemachte Konzept der Hochbegabung eine starke sozio-kulturelle Dynamik entfaltet. Intelligenzkonstrukte, Testverfahren, Kategorien der Leistungsexzellenz, der Elitebildung und entsprechende Schul- und Förderprogramme erhielten Auftrieb. Das öffentliche, demokratisch legitimierte Bildungssystem darf sich freilich nicht auf die Förderung intelligenzbasierter Hochleistung beschränken. Auch die auf Hochbegabtenförderung spezialisierten Einrichtungen sind, im Interesse der Schülerinnen und Schüler, gut beraten, wenn sie Spitzenleistung und Intelligenz nicht verabsolutieren. Maßstäbe personaler Bildung (vgl. WEIGAND 2008, 2011; HOYER 2012a) und angelsächsische Ansätze der Gifted Education (vgl. MÜLLER-OPPLIGER 2010, 2011), auf die das vorliegende Buch eingeht, lassen ein weitergefasstes Verständnis von Begabung und Begabungsförderung zu, das niemanden aufgrund hypothetischer Diagnosen über etwaige Lern- und Leistungsmöglichkeiten privilegiert oder benachteiligt.

Begabung als Bildungsschicksal

In jüngster Zeit erleben wir allerdings ein Revival von nativistischen Begabungstheorien, insbesondere von Medizinern, Verhaltensphysiologen und Neurobiologen vorangetrieben, die sich auch berufen fühlen, Lern- und Unterrichtskonzepte zu entwerfen. Gerhard Roth beispielsweise, Biologe und langjähriger Präsident der Studienstiftung des deutschen Volkes (Deutschlands bedeutendster Institution der Begabtenförderung), vertritt die Überzeugung, dass es „krasse Unterschiede in spezifischen Lernbegabungen“ gäbe. Obgleich ziemlich unklar bleibt, wie wir uns diese Lernbegabungen vorzustellen haben, schlussfolgert der Hirnforscher, dass Lernerfolge „hochgradig genetisch“ festgelegt seien (ROTH 2006, S. 62). Das bedeutet: Gene prägen von Geburt an unsere Begabungen und Begabungen bestimmen unser weiteres Bildungsschicksal. Das ist freilich ein fataler Kurzschluss, in dessen Konsequenz die Biologie den Verlauf der Persönlichkeitsbildung und den Handlungsspielraum pädagogischer Interaktionen im Großen und Ganzen vorschreibt. Naturalistische oder nativistische Anthropologien gehören zum eisernen Bestand zahlreicher Begabungslehren. Sie können gewissermaßen alles und nichts erklären. Das Schulversagen Gerhart Hauptmanns – genetisch bedingt? Aber seine literarischen Glanzleistungen ebenfalls? So beschränkt der Erklärungsgehalt, so weitreichend können die Folgen solcher Diagnosen sein. Wer Begabung sagt und genetische Veranlagung meint, nimmt eine Klassifikation vor, die vielfach – das belegt die in diesem Buch skizzierte Geschichte der Begabung – zur sozialen Differenzierung und pädagogischen Selektierung herangezogen wurde. Je rigoroser nach Begabungsstufen selektiert wird und je unflexibler, undurchlässiger das daraufhin abgestimmte Bildungssystem aufgebaut ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Zuschreibung Begabung tatsächlich zu einem von der Gesellschaft zu verantwortenden Bildungsschicksal wird, dem die betroffenen Kinder und Jugendlichen schwer entrinnen können. Das Phänomen der Begabung ist gesellschaftlich enorm brisant und pädagogisch relevant. Es wirft die Frage nach Bildungs- und Begabungsgerechtigkeit auf und es eröffnet die Perspektive auf Schulen der Vielfalt. Das vorliegende Buch möchte zu einem verständnisvollen und kritischen Umgang mit der Kategorie der Begabung beitragen sowie konstruktive Möglichkeiten pädagogischen Handelns aufzeigen.

Aufbau des Buches

Begabung ist ein soziales Konstrukt (Kapitel 1). Es bleibt zu zeigen, welchen Inhalts dieses Konstrukt ist und welche Funktionen es in pädagogischen und gesellschaftlichen Kontexten erfüllt. Breiten Raum nimmt in diesem Buch deshalb die problem- und sozialgeschichtliche Rekonstruktion ein. Aus dem Werdegang von Begabung (und verwandter Begrifflichkeiten wie Anlage, Ingenium, Talent, Hochbegabung), der im Altertum und Mittelalter einsetzt, über die Frühe Neuzeit bis in die Moderne reicht (Kapitel 2–4), erschließen sich Bedeutungsdimensionen, anthropologische Begründungsmuster, gesellschaftspolitische und schulstrukturelle Zusammenhänge, deren Kenntnis eine fundierte und kritische Auseinandersetzung mit dem Begabungsphänomen ermöglicht.

Zeitgenössische Begabungsdiskurse und Initiativen der Begabungsförderung schließen zum Teil an diese Denkmuster und Traditionslinien an, setzen aber auch neue Akzente. Eine hohe internationale Forschungstätigkeit, öffentliche Debatten im Spannungsfeld von Exzellenz und Integration sowie pädagogische Herausforderungen in einer pluralen Gesellschaft sorgen für die anhaltende Aktualität der Diskussion um Begabungsgerechtigkeit und Teilhabe (Kapitel 5).

Diese Diskussion wird seit Jahrzehnten besonders intensiv in den USA geführt (Kapitel 6). Die entwickelten Modelle der Gifted Education verbinden Forschung und Pragmatismus, sie zielen auf individuelle Selbstgestaltung in gesellschaftlicher Mitverantwortung. Die in diesem Verständnis entstandenen differenzierenden Lernarrangements sind beispielgebend für eine zukunftsweisende Praxis der Begabungsförderung (Kapitel 7).

Diese Einführung ist von uns gemeinsam konzipiert und im wechselseitigen Austausch fertiggestellt worden. Bei den einzelnen thematischen Schwerpunkten gibt es Hauptverantwortliche. Die historischen Entwicklungslinien zeichnet Timo Hoyer nach, Gabriele Weigand diskutiert neuere Begabungskonzepte sowie Modelle und praktische Tendenzen der Begabungsförderung, Victor Müller-Oppliger stellt den US-amerikanischen Begabungsdiskurs sowie daran anschließende Schulentwicklungen und eine Didaktik vor.

Begabung

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