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2.2.3 Begabung als Ingenium
ОглавлениеKamen bei den jungen Menschen mehrere vorzügliche Geistesgaben zusammen, so sprach man in gelehrten Kreisen mit einem aus dem römischen Altertum entlehnten Wort vom eingeborenen Ingenium der Person. Augustinus (354–430), ein weiterer Kirchenvater, dessen Ingenium schon zu Lebzeiten Maßstäbe setzte, erläutert in seinem Hauptwerk De trinitate, woran man üblicherweise das Ingenium kleiner Kinder (eingedeutscht meistens: ihre „Begabung“) feststellen könne: erstens am Erinnerungvermögen – erinnern bedeutet für Augustinus: nach-denken zum Zweck der Selbstvergewisserung –, zweitens an der Einsichtsfähigkeit, die uns die Wirklichkeit zu verstehen und zu erkennen erlaubt, und drittens am Willen, dem Handlungsantrieb. „Je treuer und leichter nämlich ein Knabe erinnert, je schärfer er einsieht, je glühender er sich müht, umso lobenswerter ist seine Begabung (ingenii)“ (AUGUSTINUS 2001, S. 123). Das in sich dreigeteilte, aber als Einheit gedachte Ingenium bildet die substantia des menschlichen Geistes: eine Essenz noch ohne konkreten Inhalt. Hier scheint die Vorstellung eines Potenzials auf, das sich noch ethisch zu bewähren habe. Das Ingenium mag vorzüglich sein, doch die Gesamtbeurteilung einer Person erfordere, dass man überdies nach den tatsächlichen Kenntnissen und Verhaltensweisen sehe, also danach, „was man im Gedächtnis und der Einsicht hat, und wohin sich der eifrig sich mühende Wille richtet“ (ebd., Herv. d. Verf.).
Leistung und Eignung
Augustinus hat bei der Beurteilung des Ingeniums ausschließlich sittlich-theologische Gesichtspunkte im Sinn. Praktische Leistungs- oder Verwertungsabsichten lagen außerhalb seines Denkhorizonts. Erst im 11. und 12. Jahrhundert hielten Nützlichkeitsprämissen Einzug in die mittelalterliche Welt. Verantwortlich waren sozio-politische Entwicklungen, die bereits im Altertum dem Leistungs- und Eignungsdenken zum Aufschwung verholfen hatten und die nun im Hochmittelalter erneut zum Zuge kamen. Der Auf- und Ausbau von Verwaltungszentren nahm merklich zu, entsprechend erhöhte sich die Zahl der Funktionsstellen, die mit fähigen Personen besetzt werden sollten, die sich nach Möglichkeit in den Fächern der septem artes auskannten. Für die in den Städten konzentrierten Bürger wurde der Nachweis von Wissen und Eignung zum Passierschein, der Karrierewege öffnete und soziale Grenzen überschreiten half. Hohen Zulauf hatten besonders die Universitäten. Schon bald gab es mehr Absolventen als Stellen, was für die „Arbeitgeber“ bedeutete, dass sie aus einem Fundus an Bewerben auswählen konnten (vgl. KINTZINGER 2003).
Damit rückten Auswahlkriterien und Anforderungsprofile in den Blick. Abermals setzte diese Entwicklung oben, bei der sozialen Elite und Leistungsspitze an, deren Befähigung auf dem Prüfstand gestellt wurde. Die mittelalterlichen Fürstenspiegel diskutierten die Frage, welche Qualitäten zur Ausübung der höchsten Ämter nötig seien. Wilhelm von Ockham (ca. 1288–1347), ein Mann des 14. Jahrhunderts, kommt in seinem Dialogus zu dem Schluss, dass ein angehender Landesfürst obenan praktische Klugheit und Urteilsfähigkeit besitzen müsse, Gelehrsamkeit, Beredsamkeit und Gedächtniskraft, womit man in der Wissenschaft, nicht aber in der Politik reüssieren könne, seien dagegen zu vernachlässigen. „Es ist die Forderung nach vernünftigem Verhalten in schwierigen Geschäften“, fasst ein Ockham-Spezialist den Standpunkt des Gelehrten zusammen. „Solche Fähigkeit kann durch Studium unterstützt werden, doch ist Begabung mit Geistesschärfe und Urteilskraft unerlässlich, durch Studierfleiß jedenfalls nicht zu ersetzen“ (MIETHKE 2009, S. 256).
Stipendien und Begabtenauswahl
Weil in der ständischen Gesellschaftsordnung des Mittelalters die geringen sozialen Aufstiegschancen an Studienabschlüsse und akademische Grade gekoppelt waren, zog es auch Heranwachsende aus besitzschwachen Familien an die höheren Bildungsstätten. Schulbildung war allerdings mit Kosten verbunden. Die Kirche, weltliche Bildungsträger und Mäzene reagierten auf den wachsenden Zustrom „von unten“ unabgestimmt, aber durchaus aufgeschlossen. Sie stellten dann und wann Stipendien und Geldbeträge bereit, um mittellosen Anwärtern den Universitätssbesuch zu ermöglichen, nicht uneigennützig, sondern aus ökonomischem, politischem, utilitaristischem Kalkül, kurz: „um sich anschließend ihrer Dienste versichern zu können“ (KINTZINGER 2003, S. 172). Solche Investitionen in die Nachwuchsförderung spielten auch bei der Öffnung der Dom- und Stiftsschulen eine Rolle. Der Funktion nach Kaderschmieden des Diözesanklerus‘, nahmen diese klerikalen Ausbildungseinrichtungen nicht nur vermehrt Adlige und wohlhabende Bürger auf, die sich durch Reputation und Liquidität empfahlen. Auch finanziell bedürftige Schüler kamen in den Genuss der Ausbildung, sie wurden unentgeltlich unterrichtet – nicht alle, nur jene, die man für geeignet hielt. Und welche Maßstäbe legten die Mönche bei der Zulassungsentscheidung an? Es fehlen die exakten Nachweise. Berücksichtigten die Kleriker Empfehlungen, gehorchten sie ihrer Intuition, zogen sie Leistungsprüfungen zu Rate, achteten sie mehr auf Frömmigkeit als auf Geistesschärfe, entwickelten sie ein Gespür für das verborgene Ingenium? Es wird von Situation zu Situation verschieden gewesen sein. Noch hatte die Auslese der Begabten kein System. Das begann sich erst in der Frühen Neuzeit langsam abzuzeichnen.