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2. Tiano

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Inzwischen wusste er genau, wo sie ihre Schlingen auslegten. Es dauerte nicht lange, und Tiano hatte zwei Waldratten und ein Nachthuhn aus den Fallen geholt. Hätten die Uruni gewusst, wen sie mit ihrer Fallenstellkunst durchfütterten, wäre er vermutlich ebenso wie diese Ratten und das unglückliche Huhn erwürgt worden. Aber noch hatten sie ihn nicht erwischt, und er würde sein Möglichstes tun, damit es auch so blieb. Sorgfältig verwischte Tiano seine Spuren und huschte zurück zu seinem Lager in einem großen hohlen Baum. Er stutzte, als er Blut auf dem Boden bemerkte, und kontrollierte den Lederbeutel, in den er seine Beute gestopft hatte. Nein, der Beutel war dicht. Auf einen weiteren Blick hin schien das Blut auch nicht frisch, es war trocken, sicherlich schon einige Stunden, wenn nicht Tage alt. Und was roch hier so eigenartig? Tiano beugte sich nieder, schnüffelte und berührte die Pflanzen, an denen die getrockneten Tropfen hingen. Metallisch, süßlich. Vorsichtig bog er die Pflanzen auseinander – und erstarrte, als sein Blick auf einen abgetrennten Fuß fiel. Es war ein zierlicher Fuß mit kräftigen Fußnägeln, die leicht gebogen waren. Die Haut war unregelmäßig braun, ockerfarben und schwarz gefleckt. Zuerst dachte er an Verwesung und Leichenflecken, aber dann erkannte er, dass diese Fleckung die natürliche Hautfarbe dieses unglücklichen Wesens war. Ein Uruni-Fuß. Ein Lederband war um das Fußgelenk geschlungen, es war mit feinen Perlen bestickt, blutverkrustet, aber das bunte Glas war immer noch zu sehen. Er schluckte. Es sah aus, als hätte ein Raubtier ein Uruni-Kind angefallen und getötet. Gefressen. Und einige Reste für später aufbewahrt. Tiano löste das Band und steckte es ein, dann scharrte er ein Loch in den Waldboden und vergrub seinen grausigen Fund.

Es beunruhigte ihn. Wenn hier ein Raubtier herumlief, das diesen feenhaften Waldwesen ihre Kinder stahl, dann konnte es vielleicht auch einem Menschen gefährlich werden. Behutsam begann Tiano, die Umgebung nach Spuren abzusuchen. Es war schwierig im dichten Unterholz, doch schließlich fand er etwas, das aussah wie die verwischten Spuren klauenbewehrter Pfoten. Das Ding musste groß gewesen sein, die Abdrücke waren tief in den weichen Waldboden eingesunken. Irgendwo hier begann das Nebelmoor. Tiano beugte sich nieder und prägte sich die Form des Fußabdruckes ein. Drei Zehen mit Krallen, dazu passende Ballen. Einige schwarze, drahtige Haare und winzige schwarze Hornplättchen, die er in einem Gestrüpp fand, steckte er ein. Erst nach einer Weile fiel ihm auf, dass diese Spuren anscheinend absichtlich verwischt waren. Aber welches Tier verwischte absichtlich seine Spuren? Es konnte nicht allein gewesen sein. Vielleicht war es ein abgerichtetes Tier, das für einen Menschen oder einen dieser Waldbewohner jagte? Aber warum sollten die ihre eigenen Leute jagen? Vielleicht war es ein Unfall gewesen und der Angriff hatte gar nicht dem Waldwesen gegolten? Ein Schauer rann über seinen Rücken. Was, wenn der Herr dieses Tieres hinter ihm her war?

Wieder mal Zeit, einen anderen Unterschlupf zu suchen.

Tiano zerbiss einen Fluch zwischen den Zähnen.

So lange ziehe ich schon hier herum und habe noch immer nichts gefunden, was mich weiterbringt. Diese verfluchten Predigten über Gelassenheit und Annehmen des eigenen Schicksals. Wenn ich noch einmal auch nur einen Tag mit Priestern verbringen muss, werde ich zum Mörder.

Er wandte sich ab und huschte zu seinem Unterschlupf zurück. Es war schon spät, bald würde es so dunkel sein, dass er gar nichts mehr sehen konnte.

Die entsetzlichen, heulenden Schreie, deren Echo ihn am nächsten Morgen weckte, bestärkten Tiano nur in seinem Entschluss, sich eine andere Bleibe zu suchen. Auch wenn der hohle Baum ein perfektes Versteck gewesen war – was auch immer hier herumstrich, heulte und tötete, war etwas, dem er nicht bei Nacht begegnen wollte. Er packte seine wenigen Habseligkeiten zusammen, dann brach er auf. Vorsichtig bahnte er sich seinen Weg durch den Wald – er wusste, dass die Siedlungen der Uruni so gut getarnt waren, dass ein unvorsichtiger Kundschafter urplötzlich mitten in so einem Dorf stehen konnte. So war es denen ergangen, die vor zehn Jahren das Dorf des Katzenstammes gefunden hatten. Einfach hineingestolpert waren sie. Tiano hatte sich einer der Gruppen angeschlossen, die vor kurzem in das befestigte Lager in der Nähe des Katzenstamm-Dorfes aufgebrochen waren. Nach einem Besuch bei den Uruni hatte er sich von den Priestern getrennt, denn es hatte ihm nicht gefallen, wie die Priester mit den „Wilden“ umgingen. Allein hatte er weiter gesucht, bis sein Weg ihn wieder in die Nähe des Katzenstammes führte, ohne dass er etwas gefunden hatte, das ihm weiterhalf. Inzwischen zweifelte er daran, ob die Antwort auf seine Suche wirklich in diesen Wäldern und ihren Völkern lag.

Vorsichtig ging Tiano weiter, bis er schließlich auf etwas stieß, das aussah wie ein verlassener Kundschafterposten. Ein morsches Seil hing von einem Baum herab, in dessen Geäst er noch die Plattform eines Baumhauses ahnen konnte. Ohne das Seil zu benutzen, kletterte er auf den Baum. Die Plattform war noch intakt – ein besserer Unterschlupf als das Loch im Baum. Zufrieden begann er, die Plattform so gut es ging mit Blättern und Geäst zu tarnen. Er nahm das alte Seil ab. Aus Schlingpflanzen knüpfte er eine Strickleiter und schaffte schließlich noch Moos und Gras nach oben, woraus er sich einen Schlafplatz baute. Er war fertig, als die Nacht hereinbrach, wie immer schnell und ohne Vorwarnung. Die Dämmerungszeit war kurz. Für einen winzigen Moment färbte sich der Himmel rot, dann wurde es dunkel und wenig später war es so finster, dass er kaum die Hand vor den Augen sehen konnte. Einige sanft fluoreszierende Pilze und Pflanzen am Boden verbreiteten ein eigenartiges bläuliches Licht. Tiano richtete sich auf dem Baum ein, holte seine gestohlene Jagdbeute hervor und nahm die Tiere aus, um das Fleisch über seinem Feuertopf zu räuchern, um es für später aufzuheben. Einen Teil briet er und aß es gleich, zusammen mit einigen Beeren und Wurzeln, die er am Tag gesammelt hatte. Eingeweide, Federn und Fell vergrub er in der Nähe des Baumes, dann legte er sich schlafen.

Es war noch dunkel, als ein Geräusch Tiano aus dem Schlaf aufschrecken ließ. Er wusste nicht, was er gehört hatte, aber er war sicher, dass es ihn geweckt hatte.

Da.

Wieder.

Etwas strich auf dem Boden herum. Es schnüffelte, ziemlich laut, dann kratzte es, als würde es nach Wurzeln graben, schließlich kratzte es auch einige Male am Baum. Tiano erstarrte. Kam es herauf?

Nein, anscheinend konnte das Tier nicht klettern oder es vermutete dort oben keine Beute. Vorsichtig spähte Tiano zwischen den großen Blattwedeln, mit denen er seine Plattform getarnt hatte, hindurch. Zwischen bläulich schimmernden Leuchtpilzen bewegte sich ein unförmiger Schatten.

Ein Bär?

Vorsichtig blickte Tiano noch einmal hinunter. Das Wesen schien auf den Hinterbeinen zu gehen, schwankend, leicht gebückt. Der Kopf schwang wie an einer unsichtbar aufgehängten Schnur hin und her, während es schnupperte und schnüffelte. Hin und wieder grunzte es leise. Als irgendwo ein Ast knackte, kam Bewegung in das Tier. Es richtete sich auf, hob die lange, spitz zulaufende Schnauze in die Luft und witterte, dann ließ es sich auf alle Viere fallen und brach mit einem eigenartig schlängelnden Gang durch das Unterholz. Dann war es still. Tiano atmete auf. Für diesen Moment war das Ding weg. Dennoch, es fiel Tiano schwer, wieder einzuschlafen. Etwas an diesem Tier war unheimlich gewesen. Vielleicht sein Gang, vielleicht, wie es witterte, oder das Schaben und Kratzen an der Baumrinde.

In Tianos Träumen erreichte das Wesen die Plattform und beugte sich schnaufend über sein Schlaflager. Als er die Augen öffnete, sah er in das Gesicht des Tieres, das mit geifernd geöffneten Kiefern über ihm stand, ihm modrigen Atem ins Gesicht blies und ihn aus milchigweißen Augen anstarrte. Tiano schrie auf – und fand sich allein in seiner Baumhütte wieder. Draußen ging eben die Sonne auf.

Tiano schloss die Augen und ließ sich noch einmal auf sein Moosbett zurücksinken. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Fast konnte er den Atem dieses Tieres noch riechen. Und noch immer sah er diese widerlichen blinden Augen über sich. Er schauderte. Was würde er jetzt für einen heißen Tee geben! Aber dafür musste er erst einmal Wasser finden. Das bisschen, das er noch in seinem Lederschlauch hatte, reichte gerade, um den ekligen Geschmack aus seinem Mund zu vertreiben und den übelsten Durst zu löschen. Er fühlte sich wie zerschlagen. Ohne Appetit kaute er einige Streifen des trockenen und schon leicht angeräucherten Fleisches, dann kletterte er von seinem Baum hinunter, um sich anzusehen, welche Spuren der unheimliche nächtliche Gast hinterlassen hatte.

Tiano spürte den eisigen Schauer, der ihm über den Rücken lief, als hätte ihn jemand mit Gebirgswasser überschüttet. Sein Magen krampfte sich zusammen. Die Klauen des Wesens hatten sich tief in die Baumrinde gegraben und dicke Fetzen von Fasern aus dem Stamm gerissen. Zähes weißes Harz tropfte aus der Wunde im Holz. Um den Baum herum waren Pflanzen und Pilze zertreten, der Boden war aufgewühlt. Im Gestrüpp hingen einige Büschel drahtiger schwarzer Haare und einige der seltsamen kleinen Hornplättchen. Tiano schluckte.

Dasselbe Ding, das den Uruni getötet hat.

Den Tag verbrachte er damit, eine Quelle ausfindig zu machen und sein Lager zu sichern. Am Boden legte er Fallstricke aus und bastelte aus einer leeren Fruchtschale und einigen Samen eine Vorrichtung, die klappern würde, wenn das Ding über einen der Stricke stolperte. Tiano arbeitete, bis es dunkel wurde. Seine Arbeit sah gut aus und es sorgte dafür, dass er sich ein wenig sicherer fühlte. Zufrieden wischte er sich den Schweiß von der Stirn und zog sich die Strickleiter herunter. Er hatte gerade einen Fuß auf die erste Sprosse gesetzt, als er das Schnaufen hinter sich hörte.

Er erstarrte einen Augenblick lang. Helle Panik packte ihn und er begann, wie von Furien gehetzt, zu klettern. Hinter ihm schnaubte es. Tiano roch den Gestank seines Verfolgers. Dann schlug eine Klauenpfote nach seinen Fuß und krallte sich durch den dünnen Stoff seiner Hose in sein Bein. Tiano schrie auf. Er klammerte sich an die Strickleiter, trat mit dem freien Fuß nach unten, traf, das Tier jaulte kurz. Dann grollte es und packte ihn fester. Zog. Tiano sog scharf die Luft ein, als seine Sehnen und Muskeln sich immer mehr spannten. Der Zug an seinem Knie schmerzte entsetzlich. Tränen stiegen Tiano in die Augen, er fluchte und trat wie besessen nach unten. Etwas Warmes rann an seinem Bein hinab, da, wo die Klauen seine dünne Leinenhose durchbohrten. Eine zweite Klaue krallte nach ihm, sie krallte in seine Hüfte und rutschte ab. Tiano schrie wieder. Schweiß machte seine Finger glitschig. Immer wieder griff er nach, klammerte sich an die Leiter, er fluchte und schrie, er trat – und verlor den Halt, rutschte an der Leiter ab und krachte mit dem Rücken voran auf den Boden. Vor seinen Augen tanzten grelle Lichtpunkte. Er spürte, wie die die Krallen seine Kleidung und seine Haut zerfetzten. Unter den blinden Augen der Kreatur gähnte ein zahngespikter Rachen. Tiano versuchte verzweifelt, sich loszureißen, aber die Zähne kamen immer näher. Das Ding war viel zu stark für ihn. Schon waren die faulenden, halb abgebrochenen Zähne so nahe, dass der Gestank ihn würgen ließ. Noch einmal bäumte er sich verzweifelt auf, schlug seine Fäuste in das drahtige Fell der Bestie, trat und wand sich. Dann schloss der Rachen sich über seiner Schulter. Aus den tanzenden Lichtern wurde vor seinen Augen von einem Moment zum anderen Dunkelheit. Das letzte, das er sah, war eine Bewegung zwischen den Blättern und etwas, das zwischen ihnen hervor schoss.

Dass das Wesen aufheulte, ihn losließ und wegrannte, merkte er schon nicht mehr.

Nachtjägerherz und Nachtjägerseele

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