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4. Tiano

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Tiano fühlte sich, als würde er durch einen dichten Nebel wandern. Er glaubte, eine zarte Hand würde ihn berühren, dann hörte er eine sanfte Stimme, die etwas murmelte, das er nicht verstand. Für einen Moment war es ihm gelungen, die Augen zu öffnen und er hatte ein schattenhaftes Gesicht über sich gesehen, wie körperlos schwebend in der Dunkelheit und beherrscht von golden leuchtenden Augen. Das Gesicht mit den feinen Zügen hatte ihn an eine Katze erinnert. Er konnte es nicht beschreiben, dieses Gesicht. Und doch begleitete das Bild Tiano in einen tiefen Schlaf, in den irgendwann auch die Schmerzen keinen Einlass mehr fanden.

Er wusste nicht, wie lange er geschlafen hatte. Als er die Augen öffnete, war es dämmrig. Er lag weich und angenehm warm. Um ihn herum war es grün, das wenige Licht bahnte sich mühsam seinen Weg durch dichte Blätter. Ihm war, als würde er in einer Höhle aus Blattwerk liegen, aber er war sich sicher, dass er nicht auf seinem Baum war. Dazu roch es hier zu sehr nach Erde. Nach Erde und auch noch nach etwas anderem. Der Duft von Kräutern stieg ihm in die Nase, und als er sich vorsichtig bewegte, spürte er die Verbände um seine Brust und sein Bein. Ein Echo von Schmerz pochte in seinem Körper, aber dort, wo er die Verbände fühlte, spürte er zugleich ein angenehm kühles Prickeln auf der Haut. Die Decke, die über ihn gebreitet war, war dünn und wärmte doch, ohne ihn in Schweiß ausbrechen zu lassen. Tiano tastete unter ihr über seine Brust. Er spürte Schnüre und Blätter, etwas Klebriges an seinen Fingern. Er zog die Hand unter der Decke hervor. An seinen Fingern klebte eine fettige, gelbgrüne Paste, die scharf und würzig roch. Verwirrt sah er sich um, aber er sah nichts als diese Höhle aus Laub und Ästen. Als er den Kopf zur Seite drehte, fiel ihm ein Lederbeutel ins Auge, daneben drei kleine in Blätter gewickelte und mit Leder verschnürte Päckchen. Er hatte entsetzlichen Durst. Auch Hunger, aber der Durst war schlimmer. Was war passiert?

Tiano schloss die Augen und versuchte, sich zu erinnern. Nur bruchstückhaft huschten Gedankenblitze durch seinen Kopf, Erinnerungsfetzen, von denen er nicht wusste, was davon er wirklich erlebt und was er nur geträumt hatte. Gelbe Augen, ein schmales, schattenhaftes Gesicht. Hände, die ihn berührt hatten.

Das Tier.

Mit einem Schlag war die Erinnerung wieder da. Tiano richtete sich so rasch auf, dass sein Kopf zu pochen begann und ihm schwindlig wurde. Ein ziehender Schmerz zuckte durch seinen Brustkorb. Er stöhnte auf und ließ sich auf sein Blätterlager zurücksinken.

Das Tier. Ein Pfeil.

Jemand war dazugekommen, als er versucht hatte, sich diese geifernde Bestie vom Hals zu halten. Er erinnerte sich an raues Fell und harte Schuppen unter seinen Händen, einen muskelbepackten, geschmeidigen Tierkörper, ein Maul mit faulen Zähnen und kräftige Klauenpfoten, die ihm über der Brust die Haut zerkratzt hatten. Das Vieh hatte ihn von seinem Baum gezerrt! Es hatte ihn ins Bein gebissen und ihm fast die Schulter zerfetzt. Tiano tastete wieder nach den Verbänden, dann richtete er sich noch einmal auf, langsamer dieses Mal und sehr vorsichtig. Er war beinahe nackt unter der dünnen Decke, die aussah, als sei sie aus feiner Wolle gewoben worden. Tiano ließ die Decke von sich herabrutschen und betrachtete seine Brust. Große Blätter bedeckten seine Haut, sie klebten an ihm durch die seltsame grüngelbe Paste und waren zusätzlich noch mit dünnen Lederbändern festgebunden. Auch an seinem Bein befand sich so ein merkwürdiger Blätterverband, und die weniger tiefen Kratzer und Schrammen waren mit derselben Paste bestrichen. Tiano wischte ein wenig davon ab und stellte fest, dass unter der Paste seine malträtierte Haut bereits zu heilen begonnen hatte. Er hatte noch nie so eine Salbe gesehen, noch nie solche Kräuter gerochen und noch nie einen solchen Verband gesehen. Wer hatte ihm geholfen? Er griff nach dem Ledersack. Wasser? Tiano zog den Verschluss heraus und schnupperte. Es roch ein wenig nach Kräutern, ein wenig nach feuchtem Leder, aber nicht schlecht. Vorsichtig trank er einen Schluck. Oh ja, es war Wasser, aber anscheinend nicht nur. Etwas schien hineingemischt, Kräutersaft oder der Saft einer sauren Frucht. Es schmeckte angenehm und es löschte den Durst wie nichts, das er zuvor getrunken hatte. Tiano ließ alle Vorsicht fahren und leerte den Schlauch bis zur Hälfte, so gut schmeckte dieses Wasser.

Wenn der, der mich verbunden hat, es für mich zurückgelassen hat, dann sicher nicht, um mich zu vergiften, nachdem er mich vorher zusammengeflickt hat.

Tiano nahm eines der Päckchen und betastete es vorsichtig. Es roch gut, ein wenig nach Rauch, nach Fleisch, Honig und Brot. Vorsichtig löste er die Lederschnur. Die Blätter klebten aneinander, Tiano zog sie auseinander, und einige Streifen Trockenfleisch und drei kleine Fladen fielen ihm in die Hände, dazu getrocknete Beeren. Tiano nahm einen der Fladen und biss hinein. Es schmeckte süß, wie eine Mischung aus Brot und den steinharten Keksen, die die Kundschafter als Verpflegung bekamen. Er aß alle drei Fladen, dann die Beeren und schließlich auch das Trockenfleisch. Alles schmeckte gut, frisch und würzig, als sei auch das Fleisch vor dem Trocknen noch mit einer würzenden Paste eingerieben worden. Zuletzt leckte er sogar den wilden Honig von den Blättern und schaute nachdenklich auf die beiden anderen Päckchen, als ihm etwas ins Auge fiel, das er zuvor gar nicht bemerkt hatte. Im Moos neben dem Proviant lag ein Pfeil. Ein kurzer Pfeil aus schwarzem Holz, blau, gelb, rot und grün gefiedert und mit einer Spitze, die aussah, als sei sie aus Stein. Tiano griff nach dem Pfeil und drehte ihn in den Händen. Hatte so ein Pfeil das Tier getroffen und in die Flucht geschlagen? Vorsichtig berührte er die Spitze. Sie war scharf, hatte böse Widerhaken und schimmerte im matten Licht wie Metall, auch wenn sie ganz eindeutig aus Stein geschlagen war. Tiano hatte solchen Stein schon einmal gesehen – in der Stadt. Die Menschen dort tauschten ihn bei den Wilden gegen Schmuck, Papier, Süßigkeiten und Kleidung ein und machten ihrerseits Schmuck daraus. Waldsilber nannten sie es, es gab billigen Schmuck für die, die sich kein richtiges Silber leisten konnten. Der Bogen, von dem ein so kleiner Pfeil abgeschossen wurde, konnte selbst nicht groß sein. Und das bedeutete, dass auch der Schütze eher klein und zierlich gewesen sein musste. Ein Uruni? Aber warum sollte ein Uruni einem Menschen helfen?

Tiano legte den Pfeil wieder zurück und schaute noch einmal auf die Proviantpäckchen. Er entschloss sich, sie erst einmal liegen zu lassen. So, wie er sich im Moment fühlte, würde er nicht weiterziehen und schon gar nicht jagen oder Nahrung sammeln können. Der Blätterunterschlupf bot ein wenig Schutz, vielleicht sogar vor dem Tier. Es war geflohen, das hatte er noch mitbekommen. Vielleicht würde es so bald nicht wiederkommen. Aber vielleicht kam sein mysteriöser Helfer zurück. Diese Augen. Die Stimme. Er wollte wissen, wer ihm geholfen hatte - und warum.

Tiano ließ sich auf das Lager zurücksinken und zog die Decke über sich. Er spürte, wie ihn der kurze Moment, den er aufrecht gesessen und gegessen und getrunken hatte, ermüdet hatte. Vielleicht war es gefährlich, wieder einzuschlafen. Aber so sehr er sich auch bemühte, wach zu bleiben, es gelang ihm nicht. Immer wieder fielen ihm die Augen zu, und irgendwann kam der Schlaf und zog ihn in bleischwarze Tiefen. Goldene Augen geisterten durch seine Träume, ein schmales, dunkles Gesicht, sanfte Hände und eine Stimme, die klang, als würde das Rauschen des Waldes selbst mit ihm sprechen. Er fühlte sich sicher in seinen Träumen.

Als Tiano das nächste Mal erwachte, wusste er sofort, dass er nicht allein war. Es war dämmrig, ob noch immer oder schon wieder, konnte er nicht sagen. Langsam öffnete er die Augen einen Spalt breit und versuchte, sich umzusehen und dennoch den Anschein zu erwecken, als schliefe er noch. Es gelang ihm nicht, er sah nur Grün um sich herum und einige matte Lichtreflexe. Es roch anders. Ein wenig nach Feuer. Und da war noch ein Geruch in den Luft, den er nicht deuten konnte. Er erinnerte ihn an etwas Wildes, etwas Ungezähmtes, Unfassbares. Tiano öffnete die Augen und richtete sich leicht auf.

Da war sie.

Goldene Augen richteten sich auf ihn. Die Frau war klein und zierlich. Sie kniete am Fußende seines Lagers, ganz an die Wand des Unterschlupfes gedrückt. Wie ein Waldtier wirkte sie, fluchtbereit, aber aufmerksam, in ihren Augen stand keine Angst. Sie hielt einen kurzen Bogen quer über ihren Knien, die Sehne war gespannt, ein Pfeil locker aufgelegt. Ein ähnlicher Pfeil wie der, den Tiano neben seinem Lager gefunden hatte. Tiano konnte den Blick nicht von ihr nehmen. Sie war schön. Langes schwarzes Haar floss in wilden Wellen bis zu ihren Hüften herab, gebändigt durch ein Stirnband aus geflochtenem Leder. Sie trug wenig Kleidung, nur eine Art breiten Kragen, der bis über ihre Brüste reichte, und einen Gürtel um die Hüften, an dem ein rockartiger, kurzer Schurz befestigt war. Ihre Füße waren nackt, ihre Haut dunkelbraun, fast schwarz. Sah es nur so aus, oder war ihre Haut wirklich unregelmäßig gefleckt?

Er sah auf. Goldene Augen. Katzenaugen mit geweiteter Pupille.

Tiano holte tief Luft und brachte sich vorsichtig in eine sitzende Position. Er biss die Zähne zusammen, als es in seiner Brust zu spannen und zu stechen begann.

„Ka nisha!“ Die Frau hob eine Hand in einer besänftigend wirkenden Geste.

„Ka nisha. Nicht aufstehen. Du bist verletzt.“

Sie sprach die Sprache der Städter, ein seltsamer Akzent färbte die Worte, aber Tiano konnte sie gut verstehen. Ihre Stimme war tief, ein wenig rauchig klang sie, wie ein sanftes Schnurren. Er hielt still. Dann schlug er die Decke zurück und deutete auf die Verbände.

„Warst du das? Hast du mir geholfen?“

Sie legte den Kopf auf die Seite als würde sie lauschen, dann nickte sie.

Tiano lächelte und hoffte, dass diese kleinen Wilden diese Geste nicht als Drohung verstanden. Sicherheitshalber hielt er den Mund geschlossen und die Zähne bedeckt.

„Ich danke dir.“ Er versuchte, sich im Sitzen leicht zu verneigen und zuckte zusammen. Es tat weh.

„Nicht bewegen. Hinlegen.“ Die Frau deutete auf das Lager. „Deine Wunden sind tief.“

Tiano nickte, doch er legte sich nicht hin, sondern nahm den Pfeil in die Hand.

„Du hast geschossen.“ Es war keine Frage, sondern eine Feststellung, und die Uruni-Frau nickte wieder.

„Ist es tot?“

Jetzt schüttelte sie den Kopf. „Weg. Ich habe gesucht, aber ich habe es nicht gefunden. Es hat eine Spur hinterlassen. Ich habe sein Blut gesehen. Und den Pfeil. Es hat ihn herausgezogen und ist dann weitergelaufen. Ich habe es verloren und bin zurückgekommen.“

„Weißt du, was es ist?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ein großes Tier, das große Wunden macht. Ich habe nur seinen Schatten gesehen und geschossen. Dann ist es von dir fortgelaufen und ich habe mich um deine Wunden gekümmert.“

Tiano zog eine Augenbraue hoch. Sie klang wütend, als sie sprach. So, als hätte sie lieber gleich die Verfolgung des Wesens aufgenommen, statt sich zuerst mit ihm abzugeben.

„Danke, dass du mir geholfen hast“, wiederholte er. „Mein Name ist Tiano. Hast du auch einen Namen?“

Sie schnaubte abfällig, und Tiano wusste, dass er etwas Falsches gesagt hatte. Natürlich hatte sie einen Namen. Sie war kein Tier. Sie war eben nur kein Mensch. Sie war anders, sie lebte anders, sie hielt andere Dinge als er für wichtig. Sie war eine Wilde. Aber sie war nicht dumm.

„Sagst du ihn mir?“

„Zersa.“

Es klang wie ein Fauchen, ein Zischen und ein Singen zugleich. Zersa.

„Tiano“, wiederholte sie seinen Namen. Er lächelte wieder und nickte.

Zersa sah ihn forschend an. Sie nahm den Pfeil von der Sehne und entspannte den Bogen, gab aber ihre leicht angespannte Haltung noch nicht auf. Trotzdem fühlte Tiano sich wohler, als kein Pfeil mehr auf ihn gerichtet war.

„Tiano. Du bist ein Mensch. Menschen kommen in die Wälder, um mit Uruni zusammen zu leben. Um mit Uruni zu handeln, zu tauschen. Menschen kommen immer zusammen mit anderen Menschen, aber du bist allein. Warum?“ Ihre Pupillen verengten sich leicht. Tiano spürte ihren Blick beinahe körperlich. Ein Kribbeln rann über seinen Rücken.

„Ich ziehe allein“, sagte er.

„Warum? Menschen wissen, dass der Wald gefährlich ist. Manche Menschen haben Angst vor Uruni. Manche haben Angst vor den Tieren, auch wenn sie sie jagen. Menschen sind wie Herdentiere. Sie ziehen nicht allein. Ich sah nie Menschen alleine ziehen.“

„Dann bin ich wohl der Erste. Ich mag andere Menschen nicht besonders, und andere Menschen mögen mich nicht.“

Sie hob eine Augenbraue – diese Geste schien sein Volk und ihres zu verbinden. Es ließ sie sehr menschlich wirken, auch wenn ihre spitzen Ohren zuckten und sich bewegten wie die einer Katze. Sie schnaubte leise, dann nickte sie, als würde sie sich erst einmal damit zufriedenstellen.

„Leg dich hin. Ich muss deine Wunden ansehen. Du brauchst neue Verbände. Sonst kommt das Fieber doch noch.“

„Ich habe nichts dagegen.“ Tiano schlug die Decke zurück. Zersa kam näher heran. Sie bewegte sich geschmeidig, katzenhaft, unglaublich leise. Sie legte ein Bündel neben ihm ab und begann, die Schnüre zu lösen, die die Blätter auf seiner Brust hielten. Tiano sog überrascht die Luft ein, als Zersa sie abnahm. Ihre Hände waren so sanft, dass er kaum spürte, dass sie ihn berührte. Unter den Blättern und den Resten der Salbe konnte er sehen, dass einige der Kratzer zugenäht waren. Er sah die Stiche, aber der Faden war beinahe unsichtbar. Die Wunden sahen sauber aus, nur ein wenig gerötet.

„Tut es weh?“ Zersa wischte die Salbenreste ab, dann drückte sie leicht auf die Nähte.

Tiano keuchte und zuckte zusammen. „Kaum ...“

Sie nickte. „Also ja. Männer. Überall gleich.“

Er musste grinsen.

„Frauen anscheinend auch“, murmelte er und zuckte zusammen, als Zersa noch einmal auf den Kratzer drückte. „Au!“

Zersa schwieg, aber ihre Ohren zuckten. Fasziniert betrachtete er diese Ohren. Sie sahen aus wie Menschen-ohren, nur dass sie am oberen Ende ein wenig spitz zuliefen. Das und die kräftigen, leicht gebogenen Finger- und Fußnägel und die Hautfarbe waren das einzige, das an eine Katze erinnerte. Tatsächlich schimmerten in dem dunklen Schwarzbraun ihrer Haut noch dunklere Flecken, wie die kaum sichtbare Zeichnung eines schwarzen Panthers. Tiano hatte einmal ein solches Tier bei einem Schausteller in der Stadt gesehen, er hatte das Tier als Junges gefunden und gezähmt und zeigte es nun auf Jahrmärkten. Katzenhaft war sie, diese zierliche Waldfrau, aber keine Katze. Ihr Körper mit den schlanken Gliedern, den leicht gerundeten Hüften und den kleinen, festen Brüsten, die sich unter dem Schulterkragen abzeichneten, wirkte sehr menschlich.

Sie war schön.

Und, das musste Tiano feststellen, als Zersa sich über ihn beugte und frische Salbe auf seine Wunden strich, sie roch gut. Aufregend. Fremd. Und doch vertraut. Es dauerte eine Weile, bis ihm klar wurde, dass es der vertraute Geruch des Waldes war, den er an ihr roch.

Zum ersten Mal wurde Tiano klar, wie lange er tatsächlich schon allein durch die Wälder zog. Er schloss die Augen, während Zersa seine Wunden säuberte und frische Verbände anlegte. Als sie sich an seinem Bein zu schaffen machte, zuckte er mehr als nur einmal zusammen – der Biss war tief, anscheinend hatte er sich doch ein wenig entzündet. Zersa öffnete die Naht, reinigte die Wunde und nähte sie dann neu. Tiano konnte nichts tun, als die Zähne zusammenzubeißen. Es schmerzte, und der Pflanzensaft, den sie zum Säubern benutzte, roch nicht nur scharf, er brannte auch wie Feuer. Schließlich lehnte Zersa sich zurück, betrachtete ihr Werk und nickte.

„So muss es gehen. Es wird heilen, du wirst das Bein nicht verlieren, aber es wird noch eine Weile wehtun. Du wirst nicht weit laufen können, aber ich glaube, du bist sicher hier. Wenn es wiederkommt ...“

Sie tätschelte ihren Bogen. Tiano zog eine Augenbraue hoch.

„Du willst mich bewachen?“

Zersa zuckte die Schultern, wieder eine sehr menschliche Geste.

„Ich suche das Tier. Wenn es dich sucht, dann kommt es wieder. Wenn ich das Tier finde und töte, dann ...“ Sie sprach nicht weiter. Eine Weile schwieg sie, dann sah sie Tiano an.

„War es letzte Nacht das erste Mal, dass es dich angegriffen hat?“

Tiano zuckte die Schultern. „Ich weiß nicht, ob es mir schon lange folgt, aber es war vorher wohl schon einmal hier. Du hast sicher den Baum gesehen. Da habe ich eigentlich meinen Schlafplatz. Das Ding hat die ganze Rinde abgekratzt. Was ist das für ein Vieh?“

Zersa legte den Kopf schief. „Ich weiß es nicht“, sagte sie schließlich. „Nicht sicher. Ich habe eine Ahnung, aber ich muss ...“ Sie hielt inne und sah Tiano an.

„Du sagst, du ziehst durch die Wälder. Schon lange?“

„Ich war bei denen, die in der Nähe deines Dorfes leben. Vielleicht habe ich dich sogar einmal gesehen, ich weiß es nicht. Ich geriet mit den anderen Menschen in Streit und ziehe seitdem allein. Einige Monde schon.“

„Kennst du den Wald gut?“

„Ich habe Einiges gelernt. Aber wohl noch nicht genug.“

Zersa beugte sich leicht vor. Die Anspannung kehrte in ihre Haltung zurück.

„Hast du schon einmal etwas gefunden, was dir seltsam vorkam? Oder dich erschreckt hat?“

Tiano nickte. Allein schon der Gedanke an die abgetrennten, zerfetzten Gliedmaßen sorgte dafür, dass ihm beinahe schlecht wurde.

„Passiert es, dass ... deine Leute auf der Jagd von Tieren angegriffen und getötet werden?“

Zersas Ohren zuckten. „Wir sind vorsichtig. Wir sind gute Jäger. Wir kennen den Wald. Also: nein.“

„Aber in den letzten Tagen oder Wochen muss etwas passiert sein. Vielleicht war er oder sie nicht aus deinem Dorf. Aber ich habe etwas gefunden.“ Er tastete nach seinen Hosen, die Zersa ihm ausgezogen hatte, und wühlte in der Tasche nach dem Fußband. Er gab es ihr.

„Kennst du das?“

Zersa nahm das Band. Ihre Finger zitterten, als sie es drehte und betrachtete, dann ließ sie es fallen, sprang auf, stürmte aus der Blätterhöhle, und Tiano konnte sich rasch entfernende Schritte und ein trockenes Würgen hören.

Es dauerte eine Weile, bis sie zurückkam. Ihre Pupillen waren geweitet. Ihre Wangen waren nass. Tiano spürte einen unangenehmen Stich in seinem Inneren. Sie musste dieses Band schon einmal gesehen haben.

„Woher? Woher hast du das?“ Ihre Stimme zitterte wie ihre Hände. Sie sah aus, als würde sie sich jeden Moment auf ihn stürzen. Tiano schluckte und hob abwehrend die Hände.

„Ich habe nichts damit zu tun, ich schwöre es bei ...“

„Schwöre nicht bei deinen Göttern. Ich habe genug von Alnea und Hiru.“ Katzenhaft kam sie auf allen vieren auf ihn zu, die Zähne gebleckt. „Woher hast du das Band?“ Sie fauchte. Es ging so schnell, dass Tiano kaum merkte, woher das Messer auf einmal kam, das sie ihm an die Kehle hielt, während sich ihre Fingernägel in seine Haut bohrten. Er hustete.

„Hör auf damit, du tust mir weh! Lass mich erklären!“

„Dann rede!“

„Ich habe es gefunden. Bei meinem Leben. Ich habe einen Fuß gefunden. Einen einzelnen abgetrennten Fuß. Das Band hing daran. Mehr fand ich nicht. Nur den Fuß. Ich habe das Band genommen und ihn vergraben. Das ist alles.“

Zersas Griff lockerte sich. Sie nahm das Messer weg.

„Pehaja“, flüsterte sie. „Das Band hat einem Mädchen aus meinem Dorf gehört. Sie ist vor einem halben Mond verschwunden. Jäger fanden in der Nähe des Dorfes ihren Körper. Ohne Beine. Überall war Blut.“

Sie schluckte. Tränen rannen über ihre Wangen.

„Sie war kurz davor, eine Frau zu werden, und so stolz. Sie wollte in den Wald gehen und Feuerblumen schneiden. Für ihr Haar. Für ihren Schmuck. Sie kam nie wieder. Ich habe gesehen, was von ihr übrig war. Und dann ...“ Sie schluckte. Als ihr Blick Tiano traf, sah er in ihren Augen nichts als Schmerz. Plötzlich sprang sie wieder auf und rannte aus der Blätterhöhle. Tiano wartete. Aber dieses Mal kam sie nicht zurück.

Nachtjägerherz und Nachtjägerseele

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