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Geboren werden und weitere theatralische Auftritte

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Als ich bei der Geburt im aktuellen Leben steckenblieb, spielte es keine Rolle, dass ich keinen Kragen hatte und weder jüdisch noch unehelich war. Fakten und Tatsachen hatten sich mir noch nicht erschlossen. Da war nur reinstes Gefühl, und das sagte eben „Jetzt geht’s dir an den Kragen!“. Es war ja auch sehr eindrücklich, in voller Fahrt abgewürgt zu werden (so ‚voll‘ war die Fahrt durch den Geburtskanal zwar auch wieder nicht, doch man reagiert etwas sensibel, wenn man gewürgt wird). Ich war so beeindruckt, dass ich diesen Eindruck auf der Stelle instinktiv als Programmierung ins Repertoire aufnahm. Die Folge davon: Die Art, wie ich mich durchs Leben bewegte, hatte große Ähnlichkeit mit einem Auto, das mit angezogener Handbremse herumfährt.

Als jedoch mit der Zeit nichts weiter geschah als dass ich in die Zehen gebissen und von Rosen gepiekt wurde, verschwand das Gefühl der Bedrohung von der Bildfläche und landete im Untergrund. Damit war es aber nicht vom Tisch, im Gegenteil.

Es machte sich unterschwellig breit und immer breiter, sodass ich zunehmend jeden und alles als lebensbedrohlich empfand, was mir den Spaß am Leben vergällte.

Logisch, dass man sich da nicht gerade zum Wonneproppen entwickelt. Attribute wie ‚verschlossen‘ und ‚eigenbrötlerisch‘ treffen es schon eher. Hätte ich gewusst, dass man mit Charme besser durchs Leben kommt, hätte ich diese Rolle subito in mein Repertoire aufgenommen. Aber man wird ja beim Eintritt ins Leben sehr schlecht bis gar nicht informiert. Ich musste mich an meine Instinkte halten, die misstrauisch waren und ihren eigenen Willen hatten.

Meine Schwester hatte nicht nur einen eigenen Willen, sondern wusste auch, wie man ihn durchsetzt (Man muss nur hartnäckig und ausdauernd genug brüllen, das hält auf Dauer keiner aus). Nur mich, den unerwünschten Eindringling, wurde sie weder mit brüllen, noch mit beißen los. Vom Moment an, wo ich auf zwei Beinen stehen konnte, klebte ich an ihr wie die Schmeißfliege am Hintern einer Kuh. Sie war schließlich, obwohl nur ein Jährchen älter, die große Schwester. Was sie nach Ansicht unserer Eltern dazu verpflichtete, sich um ihre kleine Schwester zu kümmern. Das tat sie manchmal leidenschaftlich gern und manchmal nicht, je nach Lust und Laune (Man sollte Kindern eben kein Haustier anvertrauen).

Mit dem zaghaft eroberten Gang auf zwei Beinen (Ich war weder ein besonders bewegliches, noch ein abenteuerlustiges Baby, da ich mich aufgrund einschlägiger Erfahrungen bereits darauf versteift hatte, dass das Leben eine unsichere Angelegenheit sei.) traten bestimmte Charaktermerkmale immer deutlicher hervor. Ich brauchte viel Zeit, um mich ungestört dem Spielen und Philosophieren hingeben zu können, und wollte einfach nur in Ruhe gelassen werden.

Hätte es damals schon Computer gegeben, hätte ich wahrscheinlich über kurz oder lang viel Zeit mit Videospielen verbracht. Im virtuellen Leben passiert einem nichts, das heißt, wenn man stirbt, beginnt man einfach von vorne oder bei der letzten gespeicherten Stufe. Oder noch besser, man knackt den ‚God-Modus‘ und wird unbesiegbar. Von Computern fürs gemeine Volk waren wir jedoch noch Jahre entfernt. Sie waren zu diesem Zeitpunkt noch so groß, dass ein einziger Rechner einen riesigen Raum füllte. Jeder USB-Stick hat heute zigmal mehr Speicherkapazität als ein Computer von damals, unvorstellbar!

Ich stellte mir lieber vor, meine Puppen und Teddys wären lebendig und würden sich hinter meinem Rücken bewegen. Ich versuchte, sie dabei zu ertappen, indem ich mich plötzlich umdrehte. Doch sie waren schneller, immer. Umgeben von harmlosen Stofftieren ließ es sich jedenfalls herrlich loslassen, sie unterstützten mich seelisch vorbehaltlos. Von ihnen hatte ich auch nichts weiter zu befürchten, als dass sie mir hinterrücks die Zunge herausstrecken. Das war zu verkraften.

Dann war da noch die Bücherwelt. Kaum lernte ich lesen (natürlich sehr früh, Eigenbrötler haben ja immer gewisse besondere Fähigkeiten. Nicht unbedingt, weil sie was Besonderes wären, sondern eher, weil sie irgendetwas, das sie mögen, ständig wiederholen.), vergrub ich mich darin. Wäre ich ein echter Wurm gewesen, statt ein Bücherwurm, wäre ich fett geworden, denn ich fraß mich systematisch durch die Bücherregale, angefangen bei denen im Kindergarten. Während der Schulzeit mussten die öffentlichen Bibliotheken herhalten.

In der Pubertät hielt ich mich für reif genug, mich über den üppigen Bücherbestand meines Vaters herzumachen, um anschließend auf den Inhalt privater Bibliotheken von Bekannten und Verwandten überzugehen. Sogar Schwerverdauliches wie die alten Klassiker mutete ich mir zu. Das schürte wahrscheinlich den bestehenden Hang zum Drama, die Komödie scheint in Klassikern ja eher untervertreten zu sein. Verdauen war nebensächlich, Hauptsache mein Geist erhielt Nahrung und ich Ablenkung vom diffusen Gefühl der Bedrohung.

Der Hunger meines Geistes war fast noch größer als meine Lust auf Süßigkeiten, die auch nicht von schlechten Eltern war. Sie brachte mich mangels Alternativen dazu, mich heimlich am Hustensaft zu vergreifen (Allerdings könnte das auch nicht nur am Zuckerbedarf gelegen haben. So eine Codein-Dröhnung ist ebenfalls betörend.).

Und wenn es keinen Hustensaft gab, steckte ich bei Bedarf (also häufig) den Finger in die Butter und dann rein damit in die Zuckerdose. Wir hatten keinen Kühlschrank, Essbares wurde auf einem alten Wandregal aufbewahrt, ein dicker Vorhang schützte die Esswaren vor Fliegen, aber nicht vor mir.

Hinter dem Vorhang ließ sich herrlich heimlich Zucker naschen. Danach tauchte ich mit Unschuldsmiene hinter dem Vorhang wieder hervor. Ich beherrschte diese Miene ganz prima.

Später, während der Pubertät dann, pflegte ich diesbezüglich ein Hobby (das Theaterspielen meine ich, nicht das Herumfingern in Butter und Zucker). Zu zweit, meine Freundin und ich (damals hieß es tatsächlich noch Freundin, heute würde man wahrscheinlich ‚Kollegin‘ sagen, oder ‚beste Kollegin‘), fuhren wir manchmal mit dem Bus in die Stadt, streiften staunend durch die Läden, und besuchten als krönenden Abschluss eine kleine Selbstbedienungs-Stehbar in einem Warenhaus.

Wir leisteten uns vom Taschengeld eine Cola und beobachteten die Leute, während wir sie tranken. Daheim imitierte ich, was wir Komisches gesehen hatten. Diese Stehbar im Warenhaus war eine Sammelstelle für menschliche Kuriositäten in Verhalten und Aussehen. Dass sich meine Eltern bei meiner Vorstellung vor Lachen krümmten, fand ich stimulierend, zumal in unserer Familie eher wenig gelacht wurde. Die Umstände waren etwas ernstlastig.

Unglücklicherweise wurde auch außerhalb des engsten Familienkreises mein theatralisches Talent erkannt, bei Schulaufführungen wollte man mich partout immer dabeihaben.

Natürlich wollte ich nicht, aber ich musste. Und natürlich war ich hinterher doch jeweils froh, zu meinem Glück gezwungen worden zu sein. Wenn alles prima über die Bühne ging, war ich selig und stolz – bis zum nächsten Mal, zur nächsten Aufführung und den nächsten schlaflosen Nächten davor, weil die Nerven vor unerträglichem Lampenfieber vibrierten.

Ich frage mich manchmal, wie sich mein Leben entwickelt hätte, hätte ich beruflich ganz offiziell eine Theaterlaufbahn beschritten. Hätte ich mich darauf beschränkt, Theater auf der Bühne zu spielen statt in meinem Leben? Oder wäre alles noch schlimmer geworden, weil ich das Rollenspiel kultiviert und mich darin verloren hätte? Darauf gibt es keine Antwort (Dieser Film läuft höchstens in einem Paralleluniversum.). Ich könnte mir zwar eine Antwort aus den Fingern saugen, aber ich lasse es lieber, denn, hätte ich aktiv Theater spielen wollen, würde ich es wahrscheinlich auch gemacht haben oder wäre zumindest dort hingeschoben worden, sodass ich es hätte müssen, obwohl ich vermutlich gedacht hätte, es nicht zu wollen.

Verzeiht den Satz, er rollte grad so schön durch meinen Kopf und von dort in die Finger (die frei sind, um zu tippen, weil ich nicht daran sauge).

Ohne Beipackzettel fürs Leben

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