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Präliminarien

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Aus der Nähe betrachtet hatte ich eigentlich immer versucht, meinen Mann zu stehen. Würde man es tiefenpsychologisch betrachten, könnte man daraus schließen, mindestens ein Elternteil wünschte sich unbedingt einen Jungen. Doch im Grunde ging es mir ehrlich gesagt eher darum, die Zügel selbst in der Hand zu halten als den Erwartungen meiner Eltern zu entsprechen. Es ging also ganz einfach um Macht. Doch jedes Mal, wenn ich sie scheinbar hatte, die Zügel und somit scheinbar die Macht, löste es enormen Stress aus. Erstaunlich? Nein, denn es geht doch nichts über ein bisschen Teamwork. Allein auf dem Kutschbock darf ich die Zügel nie schleifen lassen, muss sie Tag und Nacht festhalten und um jeden Preis wach bleiben, sonst landet der Wagen im Graben. Als Kontrollfreak hat man es nicht leicht.

Und ja, natürlich wünschte sich mein Vater einen Jungen.

Mein Ich ist offensichtlich weiblich, nicht mehr ganz jung, irgendwo mittendrin im besten (Mittel-)Alter. Mein Name ist nur Schall und Rauch in Anbetracht dessen, wie viele Namen und Identitäten ich schon besessen habe und noch besitzen werde, und wie oft ich bis jetzt mit dem Körper auch das Geschlecht wechselte. Mein Name ist also nichts als ‚Maya‘, eine Illusion, in die ich mich hülle, damit der Postbote mich findet.

Wie ein Chamäleon schlüpfe ich mit jeder Geburt in eine neue Rolle, passe mich den jeweiligen Umständen an. Stur auf einem bestimmten Ich zu beharren, wäre da völlig fehl am Platz. Man stelle sich vor, ich hätte das gleiche Ich wie anno dazumal im 12. oder 13. Jahrhundert. Damit hätte ich heute wahrscheinlich Probleme. Moment, die habe ich ja auch! Wer weiß, vielleicht ist es tatsächlich noch immer das gleiche Ich, stur und anpassungsunwillig seit Äonen.

Das Ungewöhnliche an meinem Leben ist, ich kann mich erinnern! ‚Die da oben‘ (irgendwem muss ich ja die Schuld in die Schuhe schieben, das verschafft mir ein wohliges Gefühl) haben vergessen, mich mit dem Feenstaub des Vergessens zu be-stäuben oder wie immer es auch vor

sich geht, dass bei, während oder nach der Geburt (Kommt mit dem Durchtrennen der Nabelschnur das Vergessen?) alles im Nebel verschwindet, was vorher war. Ihr wisst ja, freier Wille und so. Sieht so aus, als hätten die sich selbst bestäubt statt meiner (Ich stelle mir das so vor, dass just in dem Moment, wo sie mich bestäuben wollten, der kosmische Wind drehte und ihnen der Staub ins Gesicht geblasen wurde. Das ist natürlich reine Fantasie, doch ich frage mich trotzdem, ob es, falls es denn so wäre, für ‚die da oben‘ Auswirkungen hätte, und wenn ja, welche). Jedenfalls ist es, als würde ich immer noch mit intakter Nabelschnur zum kosmischen Uterus herumlaufen.

Eigenartigerweise habe ich trotzdem einen freien Willen. Jedenfalls glaube ich das, denn er spielt mir öfters Streiche und lässt mich schadenfroh in Fettnäpfchen tappen.

Stressig sind aber nicht nur Phasen, wo ich auf dem Kutschbock meines Lebens sitzend scheinbar die Zügel in den Händen halte. So mancher zusätzliche Stress wurde (und wird manchmal noch) durch kleinere und größere Schocks ausgelöst. Dazu gehört auch der Schock bei der Geburt, aber nicht, weil ein Stückchen fehlte, um als Junge durchzugehen. Mich stressen ja nicht allfällige Schocks meiner Eltern, und mir selbst war nun wirklich herzlich egal, was zwischen meinen Beinen hing, stand oder fehlte.

Ich meine den Schock darüber, dass ich mich erinnerte.

Denn da ich mich erinnerte, wusste ich, dass das nicht normal ist. Eigentlich müsste ich jetzt selig schlummern, träumen, versunken in hingebungsvoller Selbstvergessenheit. WAS HATTE ICH NUN WIEDER ANGESTELLT? Brüll! Falls ihr euch wundert, wie ein süßes unschuldiges Neugeborenes auf so etwas kommt, muss ich zum besseren Verständnis vielleicht etwas ausholen.

Unschuldig und neugeboren war nur mein Babykörper. Ich, die dort hinein gewurstelt war wie eine Schmusedecke in eine Pappschachtel, an allen Ecken und Enden darüber hinaus quellend, war ein Musterbeispiel dafür, wie man sich Katastrophen selber bastelt. Von wegen unschuldig! Wenn das jemand weiß, dann doch jemand, der beim Verteilen des Feenstaubs des Vergessens vergessen wurde.

Weil ich so verdammt gut im Basteln von Katastrophen war, musste ich auch entsprechend viel einstecken. Aber genau darum geht es doch. Wie soll man merken, was man tut, wenn alles rund läuft? Es steht ja sogar in der Bibel, dass wir nicht wissen, was wir tun. Wir wissen ja noch nicht einmal, dass wir es nicht wissen. Man muss Philosoph sein, um wenigstens das zu wissen (Wahrscheinlich wissen Philosophen es aber auch nur, weil sie es an der Uni gelernt haben. Ob sie es tatsächlich wissen oder es nur zu wissen glauben, weil sie es studiert haben, kommt allerdings bei diesem Thema aufs selbe heraus).

Man muss es schon erlebt haben, um es wirklich zu verstehen, manchmal immer und immer wieder. Bis die Schuppen eines Tages mit einem „Aha!“ von den Augen fallen und man endlich erkennt, was man treibt, und welche haarigen Konsequenzen das mit sich bringt.

Solche Schuppen sind nicht zu verwechseln mit Kopfschuppen. Obwohl es auch bei Kopfschuppen eine Erkenntnis der Ursache braucht, damit man wenigstens wüsste, welche Ge-genmaßnahmen zu ergreifen wären (auch wenn man sie unterlässt, weil der freie Wille wieder mal tun will, was ER will).

Damit sie kriegt, was sie braucht, muss die Kopfhaut zu harten Maßnahmen greifen, um den freien Willen und seine beste Freundin, die Bequemlichkeit, auszutricksen. Löst sie sich unter heftigem Jucken („Halloho! Wir haben ein Problehem!“) oder wirft auch mal ein paar Haare mehr ab als die hundert pro Tag erlaubten, schickt der erschrockene Kopfbesitzer seinen freien Willen mitsamt Freundin in die Wüste und handelt.

Die Kopfhaut denkt sich: „Warum nicht gleich so? Hättest dir viel Ärger, eine Menge Haarausfall und Kopfjucken und mir sehr viel Unbehagen erspart!“. So einfach könnte es sein.

Mir fallen zwar ständig Schuppen von den Augen (nicht vom Kopf, dort ist alles in Butter). Und ich würde ja auch vieles, das ich wie im Schlaf oder sogar wider besseres Wissen gemacht habe, nicht wiederholen. Nur mache ich eben immer wieder neue Fehler. Ich verfüge schließlich über ein gerüttelt Maß an Fantasie und Intelligenz. DAS wusste ich schon damals, als ich unmittelbar nach der Geburt darüber sinnierte, was wohl schief gelaufen sein könnte, dass meine temporäre Festplatte nicht neu formatiert worden war (Natürlich nicht mit diesen Worten, es gab ja noch keine PCs, jedenfalls nicht für die breite Masse).

Vom Schuppenfall bis zur Veränderung meines Verhaltens ist es meist ein relativ kurzer Weg, obwohl ich ab und zu ins alte Verhalten zurückfalle. Auch das lernte ich mir mit der Zeit zu verzeihen, wie auch all den anderen Mist, den ich mir im Laufe der Zeit eingebrockt habe und wahrscheinlich auch noch einbrocken werde. Denn, wer wäre ich heute ohne solche Erfahrungen? Würde ich keine Fehler machen, wäre ich perfekt – und total unbeliebt. Logisch, wenn irren menschlich ist, muss Perfektionismus das Gegenteil sein. Gäbe es perfekte Menschen (was an sich schon ein Widerspruch ist), würde keiner sie mögen, aber niemand ist gern unbeliebt.

Glücklicherweise gibt es immer etwas zu verbessern und zu heilen. Krisen und Probleme gehen uns nie aus. So können wir uns immer weiterentwickeln. Perfektion bleibt ein Mythos, der uns anspornt – und nicht selten auch sabotiert und demo-tiviert.

Die Lust aufs Opferdasein (der ich noch selig anhing, als ich wie eine zu große Schmusedecke im Babykörper steckte und mich wunderte, was ich ausgefressen haben könnte, weil ich mich an vorher erinnerte), habe ich mittlerweile gottlob und – wie wir gleich lesen werden – dank tatkräftiger Unterstützung überwunden. Das heißt, ich habe diesen Instinkt zumindest unter Kontrolle oder denke es zumindest. Hauptsache, ich lasse von den großen Katastrophen die Finger.

Mittlerweile gehe ich ziemlich professionell mit dem Leben um. Gibt es irgendwo im Alltag einen Stau, der mir Probleme macht, halte ich inne und sage: „Houston, wir haben ein Problem!“. Das ist der Auftakt zur Staulösung. Zugegeben, manchmal dauert es ein Weilchen, bis mir der Stau überhaupt auffällt, ich stehe immer noch ab und zu auf der Leitung. Ist es soweit, Houston hat den Funkspruch erhalten und mit „Roger!“ bestätigt, schaue ich unter meinen Pulli.

Das ist nicht so absurd wie es tönt, handelt es sich hierbei doch um eine symbolische Handlung, so wie die, in den Keller zu gehen und Yoga zu praktizieren, wenn ich etwas begreifen will (Natürlich dient Yoga nicht nur der Innenschau. Ich wäre im hektischen Alltagsgeschehen sonst viel zu hibbelig). Ich steige symbolisch in mein Unterbewusstsein. Der Groove im Keller fördert die Innenschau. Das gerubbelte Fensterglas der Kellertüre lässt zwar Tageslicht herein, aber höchstens einen verschwomme-nen Blick hinaus. So bleibt die Aufmerksamkeit im Inneren.

So ähnlich ist es auch beim Blick unter den Pulli. Ich werfe symbolisch einen Blick hinter die Kulissen, decke Verstecktes auf, konzentriere mich aufs Wesentliche. Und ich kann das überall praktizieren, auch fern vom Keller, und auch wenn ich keinen Pulli trage.


Ohne Beipackzettel fürs Leben

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