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Wie kann man es sich nur so schwer machen?

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Wer zufällig durch Vorabendserien zappt, stolpert über Dramen am laufenden Band, Geschichten voller Tränen, Verzweiflung, verlorenem Glück und Intrigen. Solche Serien erfreuen sich offenbar großer Beliebtheit, sonst hätten sie nicht endlos viele Staffeln. Als ob es nicht schon genug reale Dramatik gäbe! Ich wunderte mich früher, woher wohl dieser Hang dazu kommt und war mir nicht sicher, wie die richtige Antwort lautet. Ob sich das Leben fad anfühlt, wenn man nicht gebeutelt wird? Wird es dadurch intensiver? Oder ist es nur ein herrliches Gefühl, wenn der Schmerz nachlässt? Jedenfalls scheint die Dramatisierungstendenz allgegenwärtig und irgendwie urmenschlich zu sein.

Ich persönlich kann ja nicht nur im TV herum zappen, sondern auch, was ziemlich spannend und manchmal gruselig ist, in alten staubigen Erinnerungen aus meinen Vorleben. Das ist einer der wenigen Vorteile (sofern man es als Vorteil betrachten will), wenn man beim Verteilen des Feenstaubs des Vergessens vergessen wurde. Die Ähnlichkeit folgender Erinnerung – die mich meine ganze Kindheit über verfolgte – mit heutigen Vorabendserien ist verblüffend …

Es war einmal … 1935, irgendwo morgens um halb zehn in Deutschland, eine Frau in den Wehen. Das ist keineswegs ungewöhnlich, nur, es ist nicht irgendwer, der Wehen hat, und nicht irgendjemand, der zur Welt kommt. Es ist meine Geburt.

Ich bin gerade dabei, mich wie eine Wurstmischung mit geheimer Gewürzzutat durch den Gebärkanal zu quetschen. Schon wieder! Im Unterschied zur Wurstmasse mit Geheimzutat bin ich auch diesmal nicht weich und anschmiegsam, was wir beide, meine Mutter und ich, zum Heulen finden. Schwieriger als die selbstverständlich schwierige Geburt (die Opferrolle verpflichtet schließlich dazu), sind einmal mehr die Umstände.

Mein Samenspender hat sich schon vor der Geburt in Luft aufgelöst. Er war Soldat, starb aber noch vor Ausbruch des Krieges, die Umstände sind ungeklärt, was bedeutet, vielleicht sind die Umstände ja bekannt, doch niemand hält es für nötig, mich darüber aufzuklären. Welche Lektion hinter seinem frühzeitigen Ableben steckt, darüber könnte ich höchstens spekulieren, dieses Geheimnis nahm er mit ins Grab. Augenblick, hatten wir das nicht schon mal?

Da mein Vater für mich hochgradig inexistent ist, frage ich auch nicht danach. Meine Mutter, ein freundliches, zartes Wesen, hat melancholische braune Augen und braune Haare mit einem Kupferton, den die Sonne so richtig schön zum Leuchten bringt. Leider versteckt sie sie fast immer in einem strengen Knoten unter einem Kopftuch. Für mich ist sie mit und ohne Knoten und Kopftuch die schönste Mutter der Welt. Augenblick, zeichnet sich da vielleicht ein weiteres Muster ab? Mütter mit zarter Konstitution, die unglaublich viel aushalten müssen und über viel innere Kraft verfügen, was sie aber nicht wissen, weil ihre Verpackung irgendwie nicht mit dem Inhalt übereinstimmt? Außen zart und innen hart und muskelbepackt, wie ein Bodybuilder unter Steroiden, aber herzlich?

Wahrscheinlich bleibt einem gar nichts anderes übrig als sich irgendwie durchzuboxen, wenn einem nichts erspart bleibt.

Wenigstens lösen die melancholischen Augen und die zarte Konstitution bei den betuchten Eltern meines verstorbenen Erzeugers Mitleid aus (Oder war es das Pflichtgefühl?). Sie nehmen uns bei sich auf, jedoch nicht als Familienmitglieder. Meine Mutter darf als Dienstmagd arbeiten. Ist ja auch verständlich, schließlich waren meine Eltern nicht verheiratet und ein uneheliches Kind ist zu dieser Zeit ein absolutes No-Go (damals hieß es wohl eher ein Tabu). Da kann man beim besten Willen nicht dazu stehen, was würden da die Nachbarn sagen? Also muss das Kind, alias das Tabu, verheimlicht werden. Warum auch nicht? Wenn es darum geht, Asche auf mein Haupt zu streuen, stehe ich doch gern in der ersten Reihe und rufe

„hier!“.

Zunächst juckt es mich weder, dass ich quasi im Dienstbotentrakt eingesperrt bin, noch, dass ich mucksmäuschenstill sein muss. Mich juckt das Klavier oben im großen Salon, und zwar in den Fingern. Ich möchte dem Zauberding unbedingt Töne entlocken, aber das ist unmöglich. Die Wohnräume der Herrschaft, meiner Großeltern, sind ebenfalls tabu. Ich darf weder ungefragt in ihre Räume, geschweige denn eine Taste des Klaviers drücken. Ich darf überhaupt keinen Ton von mir geben, weder oral, anal, noch musikalisch oder in sonst einer Weise, und das hat einen besonderen Grund. Meine Mutter ist Jüdin. Unehelich geboren zu werden, reichte mir offenbar nicht, der Schwierigkeitsgrad wäre zu niedrig. Aber was soll’s?

Wäre alles Friede, Freude, Eierkuchen, verginge das Leben wie im Schlaf. Was hängen bleibt – und wer könnte das besser wissen als ich –, sind Erfahrungen, die in irgendeiner Weise beeindrucken und auf der Festplatte der Seele Spuren hinterlassen. Ich bin also unwissentlich im Grunde ein aufgewecktes Glückskind, das vom Leben ganz besonders gefördert wird.

Momentan weiß ich bloß, dass ich mich für meine Herkunft schämen soll, wenn auch nicht warum. Auf diesbezügliche Fragen erhalte ich ebenfalls keine Antwort. Es liege jedoch an meinem Blut. Ich weiß zwar nicht, was das bedeutet, doch ich weiß, weil man es mir erzählte, dass es davon bei meiner Geburt eine ganze Menge gab. Es war alles voll davon. Seither ist die Konstitution meiner Mutter angeschlagen, was umgangssprachlich ‚ein zartes Wesen haben‘ genannt wird. Wie? Habe ich das noch nicht erwähnt? Natürlich ist sie wegen mir angeschlagen, was denn sonst? Ich bin ein Kind, ich beziehe alles auf mich. Außerdem sagen die anderen das auch. Vielleicht hatte meine Mutter schon vorher eine schwache Konstitution, aber wo bliebe dann die Asche für mein Haupt? Das würde meine Wichtigkeit schmälern. Ich will kein banales Sandkorn am großen Strand des Lebens sein! Augenblick, ist es das?

Könnte die Angst vor Bedeutungslosigkeit ein Grund zum Dramatisieren sein?

Trotz der dramatischen Umstände ist meine Mutter erstaunlich fröhlich, wenn wir zusammen sind. Sie spielt manchmal mit mir auf der großen Wiese in der Nähe des Hauses, jedenfalls in den ersten Jahren. Nach Kriegsausbruch spielt niemand mehr draußen. Sie singt für mich Gutenachtlieder an Abenden, an denen sie mich zu Bett bringen kann. Oft gehe ich aber allein zu Bett, weil sie keine Zeit hat. Ich kann das, bin ja schon ein großes Mädchen. Ich liebe und bewundere meine Mutter und will so werden wie sie, will ebenfalls meinen Mann stehen und stark sein.

Von den anderen Hausangestellten werde ich mit Zuneigung regelrecht überschüttet und verwöhnt. Nur gucken sie mich oft so komisch an, wenn sie meinen, ich sehe es nicht, so, als ob ich krank wäre und sie mich bedauerten. Eine Portion Asche bitte! Ach nein, falscher Alarm. Dabei bin ich doch kerngesund und voller Energie und Tatendrang. Nur doof, dass ich mich aus gegebenem Anlass nicht richtig austoben kann. Das erscheint mir, wenn auch etwas frustrierend, nicht weiter schlimm. Mir ist es wichtiger, es den Erwachsenen recht zu machen, damit sie mich mögen. Mit der Zeit gewöhne ich mich daran, mich unsichtbar und unhörbar zu machen. Nur die Sache mit dem Klavier finde ich ungerecht, man hört ja nicht mich, sondern das Klavier. Soll etwa auch das Klavier unsichtbar und unhörbar sein? Wozu haben sie denn eines? Wäre es meins, würde ich täglich stundenlang darauf spielen.

Die Herrschaft (die Großeltern) ignoriert mich meistens. Bei zufälligen Begegnungen schauen sie mich höchstens streng an und fragen blöde Dinge, ob ich die Hände gewaschen hätte, und als ich älter wurde und zur Schule ging, ob die Hausaufgaben gemacht seien. Das ist alles, was sie interessiert. Sie sagen, ich könne wirklich dankbar sein, aber wofür? Ich mag sie nicht und sie mögen mich nicht. Jedenfalls denke ich das (Hier könnte es jetzt doch ein wenig Asche vertragen. Danke!) Doch ich denke falsch. Ich sehe ihrem Sohn sehr ähnlich und erinnere sie an ihren Verlust. Die Umstände sind nicht nur, was meine Herkunft betrifft, äußerst kompliziert und bedrohlich. An diesem Ort in der zweiten Hälfte der Dreißigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts unehelich geboren zu werden, als Kind einer jüdischen Mutter und eines arischen Vaters, ist ganz schön haarig. Aus Angst vor weiteren Verlusten lassen sie sich weder auf meine Mutter, noch auf mich ein.

Doch auch sie denken falsch, wenn sie annehmen, dass das hilft. Sie schließen den Schmerz mit ein, er kann nicht heilen.

Würden sie stattdessen lieben, was das Zeug hält, könnten sie nicht nur den alten Verlust besser verschmerzen. Wenn sie uns am Ende ebenfalls verlören (und das werden sie! Die Dramatik dieser Inszenierung verlangt das!), hätten sie bis dahin Jahre voller Liebe erfahren und schöne Erinnerungen gesammelt, die ihnen niemand nehmen kann. So bleiben ihnen am Ende nur Schuldgefühle aufgrund verpasster Chancen. Also verstecken sie uns genauso wie ihre Gefühle und leben in ständiger Angst vor unserer Entdeckung.

Ich bin zu jung, um die komplizierten emotionalen Verwicklungen Erwachsener zu verstehen. Und mir bleibt auch nicht genug Zeit, um sie kennenzulernen, weder die emotionalen Verwicklungen, noch meine Großeltern.

Es gibt also zwei Mittelpunkte in meinem Leben, einerseits meine Mutter, andererseits besagtes Klavier und an beides ist kein Rankommen. Je weniger ich das Klavier berühren darf, umso mehr will ich es. Logisch, ich bin ein Kind, man muss mir nur etwas verbieten und schon zieht es mich magisch an.

Also schleiche ich manchmal heimlich in die Wohnräume der Großeltern hinauf, und wenn die Luft rein ist, drücke ich eine Taste. Meist kommt dann sofort jemand angerannt und scheucht mich weg, aber manchmal erwische ich vorher noch ein paar Tasten mehr. Es ist spannend, wie ein Wettlauf, wer ist schneller, sie oder ich? Wann kriegen sie mich, wenn ich die Treppe hochkomme, oder schon am Klavier stehe? Oder schaffe ich es, dem wundersamen Ding zuvor ein paar Töne zu entlocken? Es kommt mir vor, als kämen die Töne direkt aus dem Himmel, Himmelsmusik, von winzigen pausbäckigen lockigen Engeln erzeugt, die Glöckchen schütteln. Da freut sich mein Kinderherz.

Ansonsten dümpelt mein Leben so vor sich hin und mir ist oft mangels Bewegungsmöglichkeit langweilig. Das ändert sich zwar, als ich eingeschult werde. Doch da ist mir das Verstecken und Schweigen bereits in Fleisch und Blut übergegangen, ich bin quasi unsichtbar.

Eines Tages verschwindet meine Mutter, einfach so, ohne sich zu verabschieden! Auf meine Fragen, wo sie denn hingegangen sei, erhalte ich keine Antwort. Manche wenden sich ab, fangen an zu weinen. Das bestätigt meinen Verdacht. Sie hat mich verlassen, weil ich böse und ungehorsam bin. Ich hätte das Klavier ignorieren sollen! Ja, ich bin traurig, aber vor allem bin ich wütend, ein wenig auf meine Mutter, hauptsächlich auf mich (Das verlangt nun definitiv nach einer Portion Asche fürs Haupt).

Bald darauf werde ich krank. Kein Wunder, Asche ist zwar ein guter Dünger, aber nicht auf dem Kopf. Übers Scheitelchakra lässt sich allerhand aufnehmen, jedoch ganz gewiss keine Mineralstoffe solcherart. Es geht um mein Blut, wo mehr Mineralstoffe sicher mehr bringen würden. Zuerst habe ich ab und zu Fieber, das wieder verschwindet. Als sich mein Zustand immer mehr verschlechtert, bringt man mich ins hoffnungslos überfüllte Krankenhaus. Davon bekomme ich kaum noch etwas mit, auch nicht von der Behandlung.

Ich verbringe die Zeit dort wie im Traum. In den kurzen Momenten der Klarheit merke ich, dass mein Bett in einer Art Putz- oder Abstellkammer steht. Es hat ein kleines Fenster, das meistens zugeklebt ist, und es ist sehr eng. Im selben Raum befindet sich unmittelbar neben meinem ein zweites Bett mit einem alten Mann. Ich bin selten geistig anwesend, das Fieber schickt mich ständig auf die Reise. Das ist so spannend und verrückt, dass mir egal ist, was um mich herum geschieht.

In diesem Zustand zwischen Wachen und Schlafen, Leben und Tod begegne ich meiner Mutter und erfahre endlich die Wahrheit über ihr plötzliches Verschwinden. Sie hat mich gar nicht verlassen! Man hätte sie abgeholt und in ein Lager gesteckt, sagt sie. Doch nun sei sie frei und es ginge ihr gut. Sie verspricht, dass wir uns bald wiedersehen, und darauf freue ich mich schon sehr.

Zehn Jahre ist es her, dass ich hier geboren wurde. Nun ist der Krieg seit drei Monaten vorbei, das habe ich am Rande mitgekriegt. Die Welt befindet sich im Aufbau und Erneuerungsfieber und das steckt mich an. Ich brauche dringend einen neuen Körper, aus dem alten ist nichts mehr herauszuholen.

Aber da stehe ich oder besser liege ich vor einem Problem, denn theoretisch sterbe ich jetzt zwar, doch praktisch will mir das Loslassen nicht so ganz gelingen. Ich finde den Ausgang nicht. Vielleicht versuche ich es ja auch nicht wirklich, denn irgendetwas hält mich zurück und bei diesem Körper. Als ich noch lebte, wollte ich nicht in den Körper hinein. Er kam mir so eng und einschränkend vor. Ich konnte mich kaum bewegen und wollte lieber fliegen als gehen. Aber wie soll ich jetzt aus einem Körper aussteigen, in den ich noch gar nicht richtig hi-neingestiegen bin? Jetzt wäre ein Beipackzettel mit Anleitung wirklich hilfreich.

Also klebe ich an dem abgelegten Körper, bis zur vollständigen Auflösung, was eine wirklich üble Erfahrung ist, der krönende Abschluss des vorangegangenen Dramas.

Irgendwann war es dann soweit, die nächste Baustelle rief und der Feenstaub des Vergessens löschte erfolgreich sämtliche Lichter aus, die mir zuvor in Bezug aufs Ein- und Aussteigen aus dem Körper aufgegangen sind. Ich kann mir gut vorstellen, dass das Vergessen uns während der Geburt überkommt, wenn wir uns durch den Kanal quetschen. Nach der Geburt meiner Kinder kannte ich jeweils nicht mal mehr meine eigene Telefonnummer. Wenn das Gebären schon auf mich so wirkt als hätte jemand in meinem Kopf die Lösch-Taste gedrückt, muss das auf die Hauptperson des Geschehens ja ebenso, wenn nicht noch viel stärker wirken. Es ist also vielleicht kein Feenstaub, der zur Anwendung kommt, es wird einfach alles ausgequetscht wie der letzte Senf aus der Tube. Heraus kommt ein Wesen, das zwar Erfahrungen verinnerlicht hat und alles andere als ein unbeschriebenes Blatt ist, doch der ganze Rest bleibt unterwegs im Geburtskanal oder in der Ge-bärmutter auf der Strecke, inklusive aller Telefonnummern.

Und wenn die Hebamme an der verlassenen Plazenta zieht, damit sie sich von der Gebärmutter löse, zieht sie die zurückgelassenen Telefonnummern und Erinnerungen mit heraus. Man sollte dem Leben allerdings zugutehalten, dass es nur Überflüssiges entfernt. Was will man im neuen Leben schon mit alten Telefonnummern anfangen?! Die Leute ziehen ja dauernd um.

Mein nächster Auftritt sollte noch kürzer ausfallen. Aber dazu kommen wir später.

Dass mich das Klavier magisch anzog, ist allerdings nicht verwunderlich, denn dazu gibt es auf der Festplatte meiner Seele die passende Vorgeschichte.

Ohne Beipackzettel fürs Leben

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